Zwischen Canapés und Kaviar warteten die Gäste des Frühlingsfestes seit einer geschlagenen Stunde im Ballsaal auf ihre Gastgeberin. Cyrus war weniger überrascht als genervt, dass Lucinda ihren Auftritt unnötig hinauszögerte, denn dieser alberne Versuch eines Spannungsbogens hatte Tradition – einzig um sicherzugehen, dass auch wirklich alle Augen auf die Ballkönigin gerichtet waren, wenn sie die Wartenden endlich durch ihr Erscheinen erlösen würde. Es wunderte ihn, dass der Hohe Rat sich dieses Theater jedes Mal gefallen ließ und sie nicht mit Fernbleiben strafte, nachdem ihre Verzögerungstaktik mit den Jahren immer durchschaubarer geworden war.
Argwöhnisch beobachtete Cyrus die Ratsmitglieder, sich in einer Ecke des Saales separiert hatten und mit gesenktem Blick einander zuraunten. Trotz der Mitgliedschaft seiner Mutter konnte seine Familie den Rat nicht als Verbündete betrachten. Er hatte mehr als ein Mal bewiesen, dass er sein Fähnchen nach Belieben ausrichtete, je nachdem woher der Wind wehte und wie es ihm am nützlichsten erschien. Dass Ratsmitglieder sich ausschließlich den Ihrigen verpflichtet fühlten, machte es dennoch unausweichlich, sich einen Sitz bei ihnen zu sichern, um aus den Mauern, die Cyrus bremsten, ein Podest zu bauen. Jemanden wie Barnabas würde er nur ausschalten können, wenn er die Mehrheit des Hohen Rat hinter sich versammeln konnte.
Mit den Augen suchte Cyrus die Gäste nach seinem Widersacher ab. Noch genoss der alte Wolf den Schutz der Gruppe. Erst wenn Cyrus den Kreis durchbrochen und genug Unruhe hineingebracht hatte und sobald auf die Allianz mit den Betancourts weitere Bündnisse folgten, würde das Blatt sich wenden und der Jäger zum Gejagten werden. Bis dahin würde er eine Menge Kreide fressen müssen und den würdigen Anwärter spielen, doch das war eine seiner leichtesten Übungen.
Im Gegensatz zu Samael konnte er sich leicht in jede Rolle einfinden, selbst wenn sie ursprünglich nicht für ihn geschrieben worden waren. Belustigt sah er zu seinem Bruder hinüber, der mit den Fingern versuchte, seinen engen Hemdkragen zu weiten, während er unruhig mit den Schultern kreiste. Sein Anzug schien eine Art Allergie bei ihm auszulösen. Oder war es die Anwesenheit der anderen Gäste? Die Veranstaltung an sich? Thornwood als Ganzes?
Was auch immer seinem Bruder irgendwann prophezeit worden war – Samael füllte diese Rolle nicht aus. Ihm fehlte die Hingabe, der Wille, die Dinge verändern zu wollen und Cyrus würde dafür sorgen, dass jeder das erkannte. Er würde die Scheinwerfer, die unverdienterweise auf Samael gerichtet worden waren, auf sich lenken. Auf die Opfer, die er bereit war zu bringen, auf die Erfolge, die er damit erzielte.
Letztendlich würde er seinem Bruder lediglich eine Bürde nehmen, die er nie bereit gewesen war zu tragen. Und auch seine Mutter würde schließlich einsehen, dass der Name Kingsley nur mit Cyrus an der Spitze in dem Glanz erstrahlen würde, der seit dem Tod von Aamon erloschen war.
Als sich die Türen zum Großen Saal endlich öffneten und den Blick auf Lucinda und ihre Entourage freigaben, ging ein Raunen durch die Menge. Sie hatte sich für das Blütenkleid entschieden, dessen Auswahl im Vorfeld für Kopfschmerzen gesorgt hatte – vor allem bei Cyrus, der zur falschen Zeit am falschen Ort, gegen seinen Willen in die Diskussion um das richtige Outfit hineingezogen worden war, obwohl ihm nichts weniger wichtig hätte sein können. Im Disput um Sternschnuppen, Blütenblätter und Pfauenfedern hatte er sich stur nickend weggeduckt, in dem Wissen, dass es keine richtige Antwort geben konnte, und abgewartet, bis Lucinda alle Argumente mit sich selbst ausgetauscht, als nutzlos verworfen und die Entscheidung vertagt hatte.
Nun also Blütenblätter in zarten Pastelltönen, die ihre Trägerin in Unschuld tauchen sollten. Auch das elfenbeinfarbige Knochenkorsett, das – von Knospen und Blüten durchwachsen und umrankt – den Eindruck erweckte, als trüge Lucinda ihr fragiles Inneres nach außen, auch dieses Korsett täuschte Verletzlichkeit vor, wo keine war.
Mit jedem Schritt lösten sich ein paar der Blütenblätter von dem Kleid und taumelten herab wie vom Frühlingswind davon getragen. Cyrus betrachtete die Pastelltupfen auf dem Teppich, die sich in Lucindas Schatten bildeten und dachte an das Chaos, das sie in der Sache mit Herb Hildesheimer hinterlassen hatte. Nie war es ihre Schuld, wenn die Dinge aus dem Ruder liefen. So wenig der Verlust der Blütenblätter sie schmerzte, weil sie einfach nachzuwachsen schienen und ihr Kleid die wallende Form behielt, so wenig tangierten sie die Konsequenzen ihrer Handlungen auch sonst. Aufräumen würden andere.
Lucinda nickte einigen Gästen zu, verharrte mit dem Blick aber nie länger als ein paar Sekunden bei einer Person. Die Einzigen, die sie persönlich begrüßte, waren die Mitglieder des Hohen Rates. Sie kreuzte Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand mit denen der linken und verbeugte sich. Nachdem sie sich ein Glas hatte reichen lassen und ihre Schleppe von den Zofen gerichtet worden war, wandte sie sich schließlich an das gesamte Publikum.
»Welch Freude, Sie alle hier und heute begrüßen zu dürfen«, rief sie, bevor sie eine bedeutungsschwere Pause machte und den Blick durch den Saal schweifen ließ. Was Inszenierungen betraf, machte ihr niemand etwas vor. Binnen Sekunden gelang es ihr, andere für sich einzunehmen. Ein Schmunzeln hier, ein Augenaufschlag da, die Melodie ihrer Stimme, die jeden Zuhörer mit jeder Silbe mehr einzulullen drohte – für Ungeübte war es nahezu unmöglich, das Manipulative dahinter zu erkennen. Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Hier war jede Regung Teil eines großen Ganzen.
»Unser Frühlingsball ist inzwischen eine lieb gewonnene Tradition«, fuhr Lucinda fort. »Und auch wenn wir in diesem Jahr ein paar Dinge anders machen werden als bisher üblich, verspreche ich Ihnen unvergessliche Stunden im Kreise Gleichgesinnter.« Sie erhob das Glas und blickte lächelnd in die Runde. »Auf alte Freunde und neue Verbündete. Auf Vergangenes und Zukünftiges.« Ihr Blick richtete sich auf Cyrus und wanderte von ihm zu Samael. »Auf den Frühling, den Aufbruch … und das Leben.«
Cyrus spülte den zynischen Kommentar, der ihm im Echo ihrer hohlen Phrasen auf der Zunge lag, mit einem Schluck aus seinem Glas herunter. Wenigstens hatte sie die Familienkarte diesmal in der Tasche gelassen und von kitschigen Gesten in seine oder Samaels Richtung abgesehen. Nach ihrer letzten Predigt über Zusammenhalt und brüderliches Miteinander hatte er befürchtet, dass Lucinda ihr Bullshitbingo in der Öffentlichkeit weiterspielen und ihre Söhne zum Teil der Inszenierung machen würde. Schließlich musste sie bei der jährlichen Ansprache auch für eine gewisse Variation der Themen sorgen, wenn nicht auffallen sollte, dass sie jedes Mal nur auf sich selbst anstieß.
Dass sie nun eine neue Sitzordnung als Aufbruch verkaufte, war ihm allemal lieber als irgendein Gefasel von Einheit. Gleichzeitig wirkte es so dreist, dass es ihn innerlich schüttelte. Sie war keineswegs die Visionärin, für die sie sich hielt. Sie hinterfragte das Bestehende nicht, um es aufzubrechen und wirklich neu zu gestalten. Tief im Inneren hielt sie an verknöcherten Traditionen fest, hatte Angst vor Veränderung und sehnte sich zurück in bequemere Zeiten. Solange er davon profitierte, würde er sie gewähren lassen. Das bestehende System hatte seine Fehler, doch für ihn funktionierte es im Großen und Ganzen. Noch bestand kein Grund, es zu zerschlagen. Doch irgendwann würden Lucinda und ihre Ratskollegen Platz machen müssen, – für diejenigen, die den Tausch von Platzkärtchen nicht für eine Revolution hielten. Echte Entscheider, die etwas wagten. Cyrus blickte hinüber zum Hohen Rat, der sich die Sitze an der Tafel zeigen ließ. Ihre Zeit war abgelaufen, sie wussten es nur noch nicht.