1 Kinder der Sonne

1

»Wie sieht es aus?« Orla warf einen prüfenden Blick durch die Scheibe des Verhörraums. »Hat er etwas gesagt?«

»Er hat nach einem Anwalt verlangt«, antwortete Stanford und starrte sie an, als wäre sie einem Raumschiff entstiegen. »Was machst du hier? Solltest du nicht unter ärztlicher Aufsicht sein?«

»Alles gut. Halb so schlimm.« 

Stanford musterte ihre Stirn und verzog das Gesicht. »Es soll ordentlich zur Sache gegangen sein, hab ich gehört«, sagte er.

»Ja, es war ziemlich hässlich.« Unbeholfen zupfte Orla sich die Haarsträhnen über der Wunde in Form und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Dick Mason. 

Für einen Mann in Gewahrsam schien er erstaunlich gelassen. Fast selbstzufrieden. Die Arme vor dem Bauch verschränkt, blickte er sich teilnahmslos im Raum um, wie jemand, der in einem Restaurant auf sein Essen wartete.

»Hast du die Temperatur gesenkt?«, fragte Orla.

»Unfreundliche zwölf Grad, aber das scheint ihn nicht weiter zu stören.«

»Das kommt noch, glaub mir.« 

»Sieh ihn dir an, wie er da sitzt … mit seinem überheblichen Grinsen«, sagte Stanford. »Als hätte er die weißeste Weste der Stadt.«

»Nicht mehr lange.« Triumphierend hielt Orla ihre Akte in die Höhe. »Gib mir fünf Minuten.«

Ehe Stanford antworten konnte, hatte sie die Tür zum Verhörraum geöffnet und war hineingeschlüpft. 

»Special Agent Orla Mayfield, APA – Abteilung für paranormale Aktivitäten.« Sie setzte sich zu ihm an den Tisch. »Mr. Mason, Sie wissen, warum Sie hier sind?«

Mason schwieg.

»Versuchter Massenmord – das ist keine Lappalie.«

»Wovon reden Sie?«, grunzte der Mann. »Ich habe mit der ganzen Sache nichts zu tun.« 

»Sie gehörten zu Grogons engstem Kreis. Ist es nicht so, Mr. Mason? Sie waren sein Vertrauter und wollen mir erzählen, Sie seien nicht eingeweiht gewesen?«

Der Befragte hob abwehrend die Hände. »Ich war nur für die Finanzen zuständig. Von dem Rest habe ich nichts mitbekommen. Ich bin immer nur gerufen worden, wenn es um Bankgeschäfte ging, um Ausgaben für die Gemeinde oder externe Transaktionen.«

»Wussten Sie, dass er die Mitglieder seiner Sekte um ihr Geld betrog?«

»So wie ich das verstanden habe, war das alles freiwillig.« Er räusperte sich. »Für das Gemeinwohl.«

»Und was dieses Gemeinwohl war und was nicht, entschied wer?«

»Was fragen Sie mich das? Ich war nur als Berater tätig. Ich kenne die einzelnen Absprachen nicht, die in der Gemeinde getroffen wurden.«

»Warum waren Sie heute Nacht dort?«, fragte Orla.

»Keine Ahnung.« Auch wenn ihm das Lachen vergangen war, blieb er die Ruhe selbst. »Grogon wollte mich eben sehen.«

»Was war denn so wichtig, dass er Sie mitten in der Nacht zu sich rufen musste?«

»Was weiß ich.« Mason zuckte mit den Schultern. »Er ist nicht mehr dazu gekommen, mir das zu erklären. Plötzlich waren Sie und Ihre Leute da und haben den Laden auf den Kopf gestellt.«

»Kam es öfter vor, dass er Ihre Dienste so spät in Anspruch nahm?«

»Eigentlich nicht.«

Orla schnipste ungeduldig mit ihrem Zeigefinger gegen den Tisch. Es war Zeit, die aalglatte Fassade einzureißen.

»Fassen wir also noch einmal zusammen«, begann sie in ruhigem Ton. »Sie sind ein enger Mitarbeiter des Sektenführers Grogon, zuständig für alles Finanzielle innerhalb der Kirchengemeinde, häufiger Gast auf dem Gelände der ›Kinder der Sonne‹.«

»Berater«, wiederholte Mason mit erhobenen Zeigefinger. »Kein Mitglied, kein enger Vertrauter.«

»Von den Vorgängen vor Ort wollen sie also nichts mitbekommen haben.«

»Wo bleibt mein Anwalt?«, fragte Mason und blickte auf seine Uhr. »Ich sage nichts ohne meinen Anwalt.« 

»Vielleicht kann ich mir eines Tages auch so etwas Schönes leisten«, sagte Orla mit Blick auf die vielen Diamanten, die das Zifferblatt der Uhr zierten. »Einzelstück? War bestimmt nicht billig.«

Doch Mason verschränkte nur die Arme und schwieg.

»Gut, Mr. Mason. Dann hören Sie am besten einfach nur zu.« Orla schlug die Akte auf, die sie sich besorgt hatte, nahm einige Fotos heraus und breitete sie vor ihm aus. 

Zunächst zögerte er, doch dann lehnte sich Mason neugierig vor und betrachtete die Bilder.

»Das sind Grogon und die ›Jünger des Lichts‹«, sagte Orla. »Aufgenommen vor drei Jahren in Arizona. Anderes Aussehen, gleiches Vorgehen. Menschen ohne Halt im Leben werden mit zwielichtigen Prophezeiungen angeworben und mit Pseudowundern beeindruckt. Erst bringt man sie um ihr Hab und Gut und dann schickt man sie ins Verderben. Wissen Sie, was Grogon diesen Menschen versprochen hat?«

Ohne eine Antwort von ihrem Gegenüber abzuwarten, fuhr Orla fort: »Nicht weniger als das Paradies. Er prophezeit die Apokalypse, täuscht die Jünger mit vermeintlichen Vorzeichen und erklärt der Gemeinde, dass nur er sie an einen sicheren, einen besseren Ort führen könne. Er nennt es den Übergang. Ein heiliges Ritual, das für die Beteiligten schließlich so endet.« Sie nahm weitere Bilder aus der Akte und legte sie Mason vor.

Sie gab ihm einen Moment, um die Fotos wirken zu lassen. Dann setzte sie nach: »Das sind die ›Jünger des Lichts‹ nach dem Übergang. Nachdem Grogon mit ihnen fertig war«, sagte sie, während sie seine Miene studierte. »Männer, Frauen, Kinder.«

Mason schob die Fotos schockiert von sich weg, doch Orla legte sie wieder zurück. »Sehen Sie genau hin, Mr. Mason: die ausgebrannten Augenhöhlen, die aufgerissenen Münder und die verkrampften, flehenden Hände.« 

Zufrieden beobachtete Orla, wie Masons Fassade aus Übermut und Gelassenheit bröckelte. Hier half kein Wegschauen, kein Wegdrehen – das Grauen haftete nun an ihm. 

»Jedem einzelnen dieser armen Menschen wurde das Leben aus dem Leib gesogen. Die Schmerzen müssen unvorstellbar gewesen sein.« Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, damit sich das Gesagte bei ihm einbrennen konnte. 

»Drei Jahre ist das her«, sagte sie. »Leider kamen wir damals zu spät. Heute Nacht hat Grogon es wieder versucht, aber diesmal waren wir bereits vor Ort.«

Das Entsetzen in Masons Augen schien echt. »Sie meinen, er wollte …?« Er warf einen kurzen Blick auf die Bilder und verstummte.

»Sie waren alle im großen Saal versammelt und warteten auf den Übergang«, sagte Orla. »Zweihundert Menschen, die glaubten, gemeinsam ins Licht der Erlösung zu schreiten. Zweihundert Seelen, an denen er sich satt fressen wollte.«

Orlas Arbeit war fast getan. Sie hatte ihm die grausame Wahrheit ausgebreitet und ließ nun die Stille im Raum den Rest erledigen, bevor sie zum finalen Schlag ausholen würde.

»Ich hab es nicht gewusst«, hörte sie Mason leise stammeln. »Hätte ich geahnt, was er ist, was er tut … Ich hätte doch nie …!«

»Was hätten Sie nie, Mr. Mason?«, hakte sie nach, doch er murmelte nur unverständlich vor sich hin.

Orla nahm die ausgedruckten Infos, die Doyle ihr gegeben hatte und schob sie ihm vor die Nase.

Zögerlich wagte er einen Blick. Als er erkannte, was dort vor ihm lag, riss er entsetzt den Mund auf.

»Woher haben Sie das?«, fragte er und verschluckte sich dabei an seiner eigenen Panik.

»Wir haben Spezialisten, die so etwas beschaffen können«, antwortete Orla. »Ging ganz schnell.« Sie lehnte sich vor und täuschte ein besorgtes Lächeln vor. »Die eigentliche Frage ist doch aber: Wie lange wird es wohl dauern, bis Grogon es herausfindet?«

Dick Mason fuhr sich mit zittrigen Händen über das Gesicht. Sein Atem ging schwer. Als hätte Orla ihm gerade einen Sack Zement überreicht und ihn damit Kniebeuge machen lassen.

»Möchten Sie ein Glas Wasser, Mr. Mason?«, fragte Orla betont freundlich, doch er schien sich in einen eigenen Tunnel zurückgezogen zu haben und sie nicht zu hören. »Er bringt mich um«, murmelte er. »Frisst mich … bei lebendigem Leib.« 

Mit einem für seine Körperfülle erstaunlichen Satz sprang er auf und tastete sich die Wand des Verhörraums entlang. Wie ein Tiger in einem Käfig. Auf und ab.

Orla drehte sich unauffällig zu der verspiegelten Scheibe in ihrem Rücken und deutete einen Daumen nach oben an. Sie hatte ihn nun genau da, wo sie ihn haben wollte.

»Solange Sie bei uns sind, wird Ihnen niemand ein Haar krümmen, Mr. Mason«, begann sie beruhigend auf ihn einzureden. »Dieser Raum ist gegen alles Paranormale gesichert. Kein Dämon kommt ohne Erlaubnis rein oder raus.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, doch der Schmerz in ihren Rippen meldete sich zurück und erinnerte sie daran, dass der kurze Triumph dieses Moments eigentlich nur ein zu klein geratenes Pflaster war. 

»Grogon kann Ihnen nichts tun«, fuhr sie fort und versuchte eine Position zu finden, die weniger schmerzhaft war, indem sich mit den Ellenbogen auf den Tisch stützte. »Wenn Sie mit uns kooperieren, werden wir dafür sorgen, dass das auch so bleibt.«

Mason verharrte in der Ecke des Raumes. »Was meinen Sie?«

»Setzen Sie sich! Dann können wir in Ruhe reden«, sagte Orla. »Es gibt eine einfache Lösung, bei der wir alle bekommen, was wir wollen.« Sie griff nach den Zetteln mit den verräterischen Zahlenkolonnen. »Sie helfen uns Grogon zu schnappen und wir sorgen dafür, dass Ihre kleinen Nebengeschäfte unentdeckt bleiben.« Auch wenn es ein wenig albern war, ließ Orla die belastenden Unterlagen zur Veranschaulichung unter der Akte der Jünger verschwinden. In seinem Zustand würde Mason  solche Bilder vermutlich besser verstehen als Worte. 

Fieberhaft blickte der Kronzeuge wider Willen umher, bevor er sich zur Wand drehte und etwas murmelte, als würde er sich mit der grauen Kalkfarbe beratschlagen. Orla suchte erneut den Sichtkontakt durch die Scheibe nach draußen. Vielleicht hatte sie Mason mit ihren Andeutungen zu sehr unter Druck gesetzt. Falls jemand da draußen einen rettenden Einfall hatte, war jetzt der richtige Moment, um einzugreifen.   

»Und wie soll das funktionieren?«, hörte sie Mason plötzlich krächzen und atmete auf.

»Es ist eigentlich gar nicht so kompliziert.« Sie schenkte ihm ein Lächeln und deutete ihm erneut, sich zu setzen. Doch auch diesmal blieb er auf Distanz.

»Sie stellen zunächst Kontakt zu ihm her.«

»Und wie soll ich das anstellen?« Mason starrte sie entgeistert an, als hätte sie von ihm verlangt, spontan einen Teilchenbeschleuniger aus Streichhölzern zu bauen.

»Wie sind sie denn normalerweise mit ihm in Kontakt getreten?«, fragte Orla.

»Er hat sich eigentlich immer bei mir gemeldet.«

»Sie haben keine Möglichkeit ihn zu erreichen?«

»Ich hab eine Geheimnummer, die ich so gut wie nie genutzt habe«, sagte er zögerlich. »Aber er wird ja wohl kaum ans Telefon gehen, wenn er vermutet, dass Sie an ihm dran sind.«

»Sie unterschätzen eine Sache, Mr. Mason«, antwortete Orla gelassen, auch wenn sie zugeben musste, dass er nicht Unrecht hatte. Grogon war smart. Er würde sich nicht einfach auf einen Kaffee treffen, um mit Mason über alte Zeiten zu plaudern. »Sie sind derjenige, der den Überblick über seine Finanzen hat, richtig?«

»Den Überblick und den Zugriff«, sagte Mason.

»Grogon hat bei seiner Flucht eine beachtliche Summe zurückgelassen – auf die wird er ungern verzichten wollen. Und Sie sind der Einzige mit dem Schlüssel zu allem.«

Mason schüttelte den Kopf. »Er wird den Braten riechen. Er hat doch sicher mitbekommen, dass ich vom FBI mitgenommen wurde.«

»Sie müssen sich nicht persönlich mit ihm treffen. Uns reicht es, wenn Sie ihn erstmal kontaktieren. Ab da können wir hoffentlich der Spur des Geldes folgen.« Das war nicht ganz die Wahrheit, aber zum Anfüttern warf man erstmal die kleinen Brocken hin.

Es schien zu wirken. Auch wenn Mason auf seinen Fingernägeln kaute, statt etwas zu sagen, deutete sich ein zögerlicher Fortschritt an. Immerhin hatte er aufgehört, die Wand zu konsultieren. Doch so richtig überzeugt schien er noch immer nicht. »Sobald er mitkriegt, was gespielt wird, bin ich dran«, brummte er. 

»Wir werden Sie rund um die Uhr bewachen, Mr. Mason.  Grogon wird Ihnen nicht zu nahe kommen.«

Es folgte Stille. Die von der einengenden Sorte – bei der jeder auf die Reaktion des anderen lauerte und niemand vor dem anderen einknicken wollte, obwohl beiden die Zeit davon lief.

Nachdem einige Minuten vergangen waren, ohne dass Mason sich geäußert hatte, stand Orla schließlich auf und sammelte ihre Unterlagen zusammen. »Ich kann Sie nicht zwingen, mit uns zu kooperieren, Mr. Mason. Und Sie sind auch nur als Zeuge hier. Deshalb steht es Ihnen natürlich jederzeit frei, zu gehen.«  Mit der Hand deutete sie auf die Tür. 

»Warten Sie!«, rief Mason, fast schon panisch. »Ich denke, … ich könnte …«

Orla lächelte heimlich Richtung Scheibe, bevor sie sich wieder an ihn wandte. »Haben wir einen Deal, Mr. Mason? Ja oder nein?«

Aus dem Zögern wurde ein angedeutetes Nicken. Nur widerwillig löste Mason sich von seiner Ecke des Raumes und schlich zum Tisch. Kraftlos sank er auf den Stuhl zurück und wischte sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Schweiß von der Stirn.

Eine halbe Stunde – mehr hatte sie nicht gebraucht, um den schmierigen Aal in einen Regenwurm zu verwandeln. »Mein Kollege wird mit Ihnen die Details besprechen«, sagte Orla und hatte fast ein wenig Mitleid mit ihm.