3 Ode an die Freundschaft

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»Ich schwöre … die … na, sag schon, die … Dingsda …« Etliche Bierflaschen-Zuproster später hatte Orla Schwierigkeiten, ihre Worte sinnvoll aneinanderzureihen. »Die steht auf dich.« 

Das mit dem Gleichgewicht wollte auch nicht so recht klappen. Schwankend hielt sie sich an Doyle fest und folgte ihm den Hausflur entlang. Das Fliesenmuster des Bodens hatte sich in einen beweglichen Hindernisparcours verwandelt, der sich fortwährend ineinander verschob. Auch die Wände blieben nicht da, wo sie sein sollten. 

»Jane!«, rief Orla und stoppte, um ihren Zeigefinger für diesen Heureka-Moment triumphierend in die Luft zu heben. Erschrocken von ihrer eigenen Lautstärke hielt sie sich den Finger vor den Mund. »Schhhhhh …!« Sie winkte Doyle näher heran und flüsterte ihm verschwörerisch zu. »Jane heißt sie. Jane vom Archiv.«

Mit starrem Blick sah er sie an, als er hätte er etwas Unerhörtes erfahren, bevor er zurück flüsterte: »Jane vom Archiv ist verheiratet.« 

Ihre kurze Verwirrung nutzte er aus, um sie behutsam Richtung Treppe zu drehen und die ersten Stufen hinauf zu seiner Wohnung zu schieben. 

»Sie macht dir trotzdem schöne Augen«, sagte Orla, während sie hinauf stapften. Mit einem Glucksen in der Kehle ließ sie ihren Kopf nach hinten auf seine Schulter fallen – so plump, dass beide für einen Moment drohten, aus der Balance zu geraten. Nur das Treppengeländer bewahrte sie vor dem Fall.

Kurzerhand packte Doyle sie bei der Hüfte und legte sie sich wie einen Teppich über die Schulter. 

Orla beeindruckte das wenig. »Jane Hassmer …, Hamser … Hamserschmiss«, murmelte sie kopfüber vor sich hin. »Hammerschmiss? … Hammersmith! … Jane Hammersmmmmmm …« Ihre Worte gingen in ein Kichern über, an dem sie sich fast verschluckte. 

Oben angekommen lehnte Doyle sie vorsichtig gegen die Wand neben seiner Wohnungstür, um in seiner Jacke nach dem Schlüssel zu suchen. Dass sie ohne seine helfende Hand nicht in der Lage war, der Schwerkraft zu trotzen und nun langsam zu Boden rutschte, konnte er – auch wenn er beherzt zugriff – nicht mehr verhindern.

»Haaaammersnitch, Haaaammerditch«, murmelte sie munter weiter. Die Kälte der Steinfliesen fraß sich erstaunlich schnell durch ihre Hose. Doch die Energie, die sie hätte aufbringen müssen, um sich wieder aufzurappeln, verwendete sie lieber für Wichtigeres: »Apropos Hasmadings. Da war neulich diese Doku im Fernsehen.« Orla hatte ihren Zeigefinger wieder herausgeholt und zeigte auf Doyle. »Über Hamsmer … Hamsterhaie …« Ihre Zunge wollte ihr einfach nicht gehorchen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer betont ernsten Miene und versuchte, sich auf das Wort zu konzentrieren: »Ham-mer-hai-e.« Stolz verbeugte sie sich – noch immer am Boden sitzend – doch Doyle war mit dem Türschloss beschäftigt und ignorierte sie. »Eine Doku über … Hammerhaie«, fuhr sie unbeirrt fort. »Und ihre Unterarten … Löffelköpfe, Kleinaugen, Schhhhaufelnasen.« Erneut verwandelten sich die Worte in eine Art kicherndes Grunzen. »Lustig, oder?« 

Statt einer Antwort hielt Doyle ihr seine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Und nach einigen Fehlversuchen, die dem Umstand geschuldet waren, dass Orla ihren Fokus aufs Reden und nicht aufs Mitmachen legte, stand sie schließlich – wenn auch auf wackligen Beinen. Sie schüttelte Doyles Hand und räusperte sich. »Gestatten: Löffelkopf … Lavinia Löffelkopf.« Unbeholfen versuchte sie sich an einem Knicks.

»Schön dich kennenzulernen, Lavinia«, sagte Doyle.

Orla blickte sich argwöhnisch um und flüsterte: »Mein Partner will nicht, dass ich dir das verrate …« Sie hakte sich bei ihm unter. »… aber ich bin undercover ….«

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn wir drinnen weiter reden«, raunte er ihr zu. »Bevor deine Tarnung auffliegt.« 

Nachdem einem kurzen Taumeltanz in die Wohnung, ließ Orla sich erschöpft auf die Couch fallen. So munter sie im Hausflur gewesen war, so groß war nun die Müdigkeit, die sie überkam. Doch an Schlafen war nicht zu denken. Alles drehte sich, wenn sie die Augen schloss. Sie überlegte, wie weit es zum Bad war und glaubte nicht, es jemals bis dahin zu schaffen. Auch mit offenen Augen sah die Welt nicht besser aus. Der Boden bebte, das Bücherregal wackelte bedrohlich und plötzlich fiel die alte Stehlampe um, die sie zusammen auf dem Flohmarkt erstanden hatten.

Mühsam richtete Orla sich auf. Irgendetwas scharrte auf dem Parkett. Hektisches Getrampel war zu hören, doch es schien nicht menschlicher Natur zu sein. Mit unruhigem Blick versuchte sie, dem Poltern zu folgen. Ehe sie reagieren konnte, hatte sie jemand in die Sofakissen gedrückt. Sie spürte etwas auf ihrem Brustkorb, etwas Schweres, aber seltsam Weiches. Als sie hochblickte, starrte sie ins Leere. Und dennoch tropfte Schleim auf sie herunter.

»Was ist das?«, keuchte sie und wischte sich das Zeug angewidert aus dem Gesicht.

»Roscoe!«, hörte sie Doyles Stimme. »Roscoe, aus!« Der unsichtbare Angreifer ließ augenblicklich von ihr ab und tapste mit lauten Schritten auf ihren Freund zu. Aus dem Nichts erschien plötzlich ein schwarzer Fellhaufen neben Doyle – mit dem Aussehen eines zotteligen Welpen, aber der Größe eines ausgewachsenen Neufundländers.

»Alles gut?«, fragte Doyle. »Entschuldige die stürmische Begrüßung. Er weiß manchmal nicht, wohin mit seiner Energie.«

Orla nickte, während sie ungläubig das Wesen betrachtete, das nun brav zu seinen Füßen saß und hechelte. Der Schreck hatte sie ausgenüchtert – was sie sah, erschien ihr dennoch wie eine Halluzination.

»Das kann nicht sein …«, flüsterte sie ehrfürchtig. »Ist das ein …?«

»Orla, das ist Roscoe. Roscoe, das ist Orla, meine beste Freundin.«

Roscoe legte den Kopf schief. Seine Zunge hing sabbernd aus dem Maul, sodass der Speichel sich in langen blauen Fäden Richtung Boden zog. Als Orla ihre Hand betrachtete, mit der sie den Schleim aus dem Gesicht gewischt hatte, erkannte sie, dass auch diese bläulich schimmerte. Sie wischte die Hand an ihrer Hose trocken und hielt sie Roscoe für eine zweite Begrüßung entgegen. Neugierig tapste er auf sie zu und beschnupperte sie. Sein heftiges Schniefen glich dem eines Ochsen, der kurz vor einem Angriff mit den Hufen scharrte und für einen Moment war Orla versucht, ihre Hand wieder zurückzuziehen. Doch da hatte Roscoe sie schon vorsichtig mit dem Kopf angestupst, als würde er sie auffordern wollen, ihn zu streicheln. 

»Hallo Roscoe. Schön, dich kennenzulernen.« Orla kraulte ihn am Hals und studierte fasziniert seine Augen, die wie kleine Smaragde hinter den dichten Zotteln hervor blitzen. »Was hat dich denn in unsere Welt verschlagen?«

»Lange Geschichte«, sagte Doyle, während er die Stehlampe vom Boden aufhob und wieder an ihren Platz stellte. 

Mit einem Satz sprang Roscoe zu Orla auf die Couch. Dass er nur knapp drauf passte, hielt ihn nicht davon ab, sich immer wieder um die eigene Achse zu drehen, bis er schließlich eine gemütliche Position gefunden hatte, in der er seinen stämmigen Kopf auf ihren Schoß legen konnte.

Ohne Zögern erwiderte Orla die Geste, indem sie ihren Kopf auf seinen Rücken bettete. »Er ist so weich«, sagte sie von seiner Nähe so beseelt, dass sie die Augen schloss.

»Wir müssen das erst mal geheim halten, Orla. Niemand darf wissen, dass er hier ist, solange ich keine offizielle Erlaubnis habe«, hörte sie Doyle sagen, doch es klang gedämpft, als würde er durch eine Wand mit ihr sprechen. »Ich musste ihn mitnehmen. Er hätte dort nicht überlebt.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort dumpfer. »Aber du weißt ja, wie die bei der APA sind, wenn es um die Einfuhr von Exoten aus Pandaemonia geht. Da gibt es dann erst mal unendlich viel Papierkram und die Zeit hatte ich nicht. Ich werde alles ordnungsgemäß nachholen und bis dahin bleibt er eben …« 

Doyles Worte folgten Orla leise hallend in die Welt zwischen Traum und Wirklichkeit. Dort tanzten sie so lange durcheinander und im Kreis um sie herum, bis sie keinen Sinn mehr ergaben. In der Ferne sang Pete Davis von Seeanemonen und Schaufelnasen. Ein Meer aus Buchstaben breitete sich vor ihr aus und rief ihr zu, sich fallen zu lassen. Sie spürte Roscoes Herzschlag und versank in friedlicher Geborgenheit. »Willkommen im Rudel«, murmelte sie in sein Fell hinein, bevor sie endgültig in den Schlaf glitt.


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