»Passt doch auf!« Der Blick, den Lucinda Kingsley ihren Zofen durch den Spiegel zuwarf, ließ die beiden ängstlich zurückweichen. Da die Mädchen regelmäßig beim Ankleiden halfen, hatte die Hausherrin keine andere Wahl, als die viel zu eng geschnürte Korsage als böse Absicht zu verstehen. Genervt fuchtelte sie mit den Händen und scheuchte ihre Zofen aus dem Zimmer. Welch Glück für die beiden, dass Gewitterstürme gerade nicht ins Zeitfenster passten. Zwischen Tür und Angel verhallte das Donnern viel zu schnell und ohne das genussvolle Auskosten des Moments waren solche Strafpredigten nur halb so befriedigend.
Unzufrieden betrachtete sie das Ergebnis der fast einstündigen Prozedur im Spiegel.
Etwas fehlte.
Ihr Blick wanderte von ihrem streng gescheitelten Haar über die Korsage und den Bleistiftrock hinunter zu den Pumps. Alles in dunklen Tönen zu halten, war die richtige Entscheidung. Schließlich traf sie einen Langweiler, der froh sein konnten, dass sie sein mickriges Dasein durch ihre Anwesenheit ein wenig bereicherte. Es war an ihm, sie zu beeindrucken – nicht umgekehrt.
Und doch fehlte dieser eine kleine Akzent, der das Gesamtbild vervollständigte. Sie war ein Kunstwerk ohne Signatur.
Bevor sie dem Problem auf den Grund gehen konnte, riss ein Klopfen sie aus ihren Gedanken.
»Störe ich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, betrat Cyrus das Zimmer. »Es geht um ein paar Unterschriften.«
»Jetzt?«, fragte Lucinda – ihr Spiegelbild im Visier. »Hat das nicht Zeit?« Sie setzte sich vor den Schminktisch, nahm einen trapezförmigen Ohrring aus der Schatulle und hielt ihn neben ihr Gesicht. »Mein Essen mit Hildesheimer ist in einer Stunde.«
»Der alte Schmierbolzen kann warten«, murmelte ihr Sohn.
»Darf ich dich daran erinnern, dass es ohne den alten Schmierbolzen keine Fusion geben wird?«, sagte sie. »Ich halte ihn nur bei Laune, bis wir seine Unterschrift haben.«
»Dein Engagement in allen Ehren …«
»Aber …?«
»Wir hätten sicher andere Wege gefunden, ihn an uns zu binden.«
»Ein Abendessen ist ein kleines Opfer, das ich gerne für dich bringe.« Lächelnd winkte Lucinda ab und fand so viel Gefallen an der Geste im Spiegel, dass sie die Handbewegung noch einmal wiederholte – nur langsamer. Sie dachte an ihre Cousine Marie-Antoinette. Ihre Eleganz, ihren vortrefflichen Stil und das liebliche Harfenspiel. Ein Jammer, dass sie ein so ein hässliches Ende gefunden hatte.
»Ich mag ihn nicht«, hörte sie Cyrus sagen. »Und ich mag es nicht, wie er dich ansieht.« Er baute sich hinter ihr auf und fixierte sie durch den Spiegel.
Solche Momente zwischen ihnen waren selten geworden. Deshalb kostete sie die stille Zweisamkeit etwas aus, bevor sie die Hand schließlich nach hinten über ihre Schulter hob. »Zeig mir die Papiere.«
Während sie die Formulare durchblätterte, erläuterte ihr Sohn einzelne Punkte. »Geldmittel für den Fabrikbau, … Abfindungen, … Quartalsbilanz.« Die Worte verhallten, ohne dass Lucinda ihnen Bedeutung beimaß. Stumm unterzeichnete sie jedes Blatt. Nachfragen sparte sie sich. Ob sie jemandem mit ihrer Signatur zu ungeheurem Reichtum verhalf oder ihn in den Tod schickte, kümmerte sie wenig. Längst war sie nur noch das Gesicht des Kingsley-Imperiums. Die Unterschrift auf dem Papier.
»Ist das alles?« Nachdem sie ihm die Dokumente in die Hand gedrückt hatte, widmete sie sich wieder ihrem Schmuckproblem.
»Lincoln fragt an, wann wir bezüglich der Fördergelder bei CVS entscheiden. Ich überlege, …«
»Cyrus, Schatz, du weißt,… ich vertraue dir.« Ihre Wahl fiel auf Perlenohrringe. Als ihr jedoch einfiel, dass sie ein Geschenk von Aamon waren, verkrampfte sich ihr Herz für eine Sekunde. Nachdenklich betrachtete sie die Erinnerungsstücke in ihrer Handfläche, die wie Eistränen funkelten. Wie schwer doch manchmal Trauer wog.
»Gut, dann werde ich das regeln.« Die Stimme ihres Sohnes mischte sich in ihre Gedanken und plötzlich verspürte sie das Gefühl, ihn nicht gehen lassen zu wollen. »Hast du etwas von deinem Bruder gehört?«
»Nein. Schon länger nicht.«
»Ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Wieso?« Er klang, als hätte sie etwas vollkommen Absurdes gesagt. »Dein Goldjunge wird sich – wie üblich – in Pandaemonia herumtreiben.«
»Mir wäre wohler, wenn er seine Zeit hier mit uns verbringen würde.« Sie sah ihn nun direkt an, doch ihr Blick blieb unbeantwortet. Cyrus waren seine Papiere wichtiger.
»Keine Sorge, Mutter«, sagte er. »Zu deinem großen Auftritt wird er sicher rechtzeitig da sein.«
Auch wenn ihr die Dissonanzen in seiner Stimme missfielen, ignorierte sie seine Laune. Wenn sie auf alles Rücksicht nahm, wen oder was ihr Ältester zum roten Tuch erklärte, wäre sie zu ewigem Schweigen verdammt. Von schlecht sitzender Kleidung bis zur falschen Zimmertemperatur – es gab nichts, das sein Blut nicht in Wallung brachte. Sie sah es als ihre Pflicht an, seinen Befindlichkeiten nicht zu viel Raum zu geben.
»Was, wenn er in Schwierigkeiten steckt?«, fragte sie, wohlwissend, dass es ihn reizen würde.
»Wann hat Samael denn mal keinen Ärger.«
»Und das macht dir keine Sorgen?«
»Er ist fast 200 Jahre alt«, sagte Cyrus und seufzte demonstrativ. »Er kann gut auf sich selbst aufpassen.«
»Es wäre auch für dich von Vorteil, wenn wir ihn hier mehr einbeziehen würden.« Lucinda legte die Ohrringe zurück, die sie die ganze Zeit über in der Hand behalten hatte und schenkte ihnen einen letzten wehmütigen Blick. »Wir könnten so viel erreichen. Zusammen. Als Familie.«
»Bisher sind wir auch ganz gut ohne meinen Bruder zurechtgekommen.«
»Die Welt der Menschen würde ihm zu Füßen liegen. Mit seiner Gabe wäre er …«
»… ein wahres Geschenk des Himmels.« Es war, als hätte Cyrus seine Worte mit extra viel Essig übergossen.
»Was ist denn los mit dir?« Lucinda fuhr herum und starrte ihn an.
»Verzeih mir, wenn ich nicht in deine Lobeshymne einstimme. Sind wir hier fertig? Ich hätte noch so einiges zu tun.«
»Mir gefällt dein Ton nicht.«
»Und mir gefällt es nicht, dass du glaubst, mein nichtsnutziger Bruder wäre imstande, irgendetwas Sinnvolles zu dieser Familie beizutragen. Samaels Gabe? Von welcher Gabe reden wir hier? Sinnlos die Zeit totzuschlagen? Mit den falschen Typen aneinanderzugeraten und das Familienerbe zu verprassen?«
»Wovon redest du?«
Sein Zögern verriet, dass er etwas ausgeplaudert hatte, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Nur widerwillig rückte er mit der Sprache heraus. »Dein Sohn hat in den letzten Monaten Feinde gesammelt wie andere Briefmarken.«
»Niemand sammelt mehr Briefmarken.«
»Ernsthaft? Das ist dein Einwand?« Seine Stimme wurde lauter, fast bebend. »Du hast ja keine Ahnung, mit wem Samael sich alles angelegt hat. Wen er gegen uns aufgebracht hat. Jedes Mal musste ich hinter ihm aufräumen. Eine Menge Geld ist geflossen, um unseren Namen da rauszuhalten. Wenn Roderic oder irgendjemand anderes davon Wind bekommt, können wir meinen Sitz im Hohen Rat vergessen.« Die Wucht in seinem Wortschwall zeugte davon, dass er den Ärger schon länger mit sich herumtrug. Nun war er wie ein Sack Kohlen von seinen Schultern vor ihre Füße gefallen.
Stumm wandte sie sich von ihm ab, um die Ketten und Ohrringe im Schmuckkästchen zu sortieren. »Du hast Recht«, sagte sie schließlich mehr zu sich als an ihn gerichtet. »Ich hatte wirklich keine Ahnung.«
Dass der eine Sohn sich seit geraumer Zeit nur noch treiben ließ und dabei immer weiter wegdriftete, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, war schlimm genug. Dass der andere Sohn nun ebenfalls die Leinen lockerte, um hinter ihrem Rücken seinen eigenen Kurs zu fahren, traf sie so unerwartet wie hart. Nur mühsam schaffte sie es, die Kränkung hinunter zu schlucken.
»Ich wollte dich damit nicht belasten«, hörte sie Cyrus hinter sich, die Stimme vom schlechten Gewissen gedämpft. »Es war kein großer Brandherd. Eher viele kleine. Glaub mir, bevor es außer Kontrolle geraten wäre, hätte ich dich informiert.«
Mit dem Finger strich Lucinda über das goldene Familienwappen auf der Schmuckschatulle. »Es geht ihm nicht gut«, sagte sie leise und gegen ihren eigenen Stolz. »Er ist ein Stück Treibholz, das nicht zur Ruhe kommt. Und er braucht unsere Hilfe.«
»Er wird sich wieder einkriegen.«
»Du musst mit ihm reden.«
»Das werde ich.«
»Die Zukunft unserer Familie hängt davon ab.« Wie viel einfacher es doch war, über den Spiegel mit ihm zu sprechen. »Du kennst die Prophezeiungen.«
»Ja, Mutter.«
»Eines Tages wird er mächtiger sein als …«
»Wir beide zusammen. Ich weiß, Mutter.« Obwohl er sich wegdrehte, blieb ihr sein Groll, der sich festgefressen hatte, nicht verborgen. Die Missgunst, die durch seine Adern floss, triefte aus jeder Pore.
»Das, was Samael in die Wiege gelegt wurde, ist Segen und Fluch zugleich«, sagte Lucinda, auch wenn sie ahnte, dass sie ihm mit jedem Wort körperliche Schmerzen zufügte. Seine gekränkten Gefühle waren in dieser Sache zweitrangig. »Dein Bruder braucht einen Kompass. Jemand, der ihn lenkt. Sobald er in die Fußstapfen deines Vaters tritt …«
»Ist dir eigentlich schon mal in den Sinn gekommen, dass sich die Seher vielleicht geirrt haben?«, sagte Cyrus so energisch, dass es Lucinda kurz die Sprache verschlug. Ihren irritierten Blick beantwortete er mit einem Schulterzucken. »Visionen sind schwer zu deuten. Was, wenn Sammy am Ende doch nicht zu Höherem bestimmt ist?«
»Das ist unmöglich.«
»Warum? Weil du dir das alles schon so schön ausgemalt hast? Weil du dir nicht vorstellen kannst, dass jemand anderes aus dieser Familie das Zeug dazu hat?«
»Cyrus, was ist in dich gefahren? So kenne ich dich gar nicht.«
»Ich weigere mich einfach, meine gesamte Existenz irgendeiner nebulösen Prophezeiung unterzuordnen.« Er knallte die Dokumente auf eine Kommode. »Ich habe Jahrzehnte gebraucht, um unser Imperium wieder aufzubauen. Unsere gesamten Geschäfte wickle ich im Alleingang ab und nebenbei spiele ich den Aufpasser für meinen kleinen Bruder. Aber nein, das reicht nicht. Jetzt soll ich ihn an die Hand nehmen und auf den rechten Weg führen, weil er ihn alleine nicht findet. Oder noch besser: Ich nehme ihn huckepack und trage ihn zum Thron. Wie wär das? Dann küsse ich ihm die Stiefel und überreiche ihm alles, was ich mir erarbeitet habe. Denn hey, gerüchtehalber wird er in einer nicht näher definierten Zukunft unter nicht näher definierten Umständen vielleicht eine Krone auf dem Kopf tragen.«
Seine Ignoranz versuchte sie mit Gelassenheit zu kontern, doch es fiel ihr schwer, das Gesagte einfach hinzunehmen. Der Weg, den er einzuschlagen drohte, würde ihn ins Verderben führen, wenn sie nicht gegensteuerte. Wer sich von Größenwahn leiten ließ, den erwartete der Untergang.
»Ich verstehe deinen Unmut«, sagte sie. »Es lebt sich wahrlich nicht leicht mit der Rolle, die uns zugeschrieben wurde. Doch so sind nun mal die Regeln. Und je eher du das akzeptierst, umso schneller kannst du deiner Verantwortung nachkommen …«
»Du erzählst mir etwas von Verantwortung? Ausgerechnet mir?« Cyrus verschränkte die Arme vor der Brust. »Wo war Samael, als es nach Vaters Tod bergab ging? Verkrochen hat er sich. Jämmerlich versteckt vor der Welt.«
»Jeder ist damals anders mit der Situation umgegangen.«
»Wer hat den Karren aus dem Dreck gezogen? Ich ganz allein. Ich habe den Ballast abgeworfen, die Firma umstrukturiert, Kontakte geknüpft und in neue Ventures investiert, damit wir wenigstens in dieser Welt die Oberhand behalten. Samael hat nichts für uns getan. Nicht das Geringste.«
»Schhhh!« Lucinda warf ihm einen mahnenden Blick zu. »Es muss doch nicht gleich das ganze Haus mithören.«
Doch Cyrus schien das nur noch mehr zu reizen. »Sieh dich um, Mutter. All dein Prunk, all die Annehmlichkeiten. Dieses Haus, das du so sehr liebst, deine Angestellten, deine Feste – das können wir uns nur leisten, weil ich es ermögliche. Samael hat keinen Finger gerührt.«
»Ich weiß …«, sagte Lucinda. »Und ich bin dir auch unendlich dankbar dafür.« Beschwichtigend hielt sie ihm ihre Hände entgegen und fühlte sich dabei für einen Moment so ratlos wie eine Dirigentin beim Versuch, einen Tiger mit ihrem Taktstock zu besänftigen. »Dein Vater wäre so stolz auf dich, wenn er wüsste, was du erreicht hast.« Jeder Formulierung musste gut überlegt sein. »Natürlich verlange ich nicht von dir, dass du deinem Bruder alles auf dem Silbertablett servierst. Ich wünsche mir lediglich, dass du Samael mehr einbeziehst und ihm hilfst, seinen Platz in der Familie zu finden. Er könnte so viel von dir lernen.«
Sie suchte seine Nähe, doch er flüchtete zum Fenster.
»Lass uns nicht im Schlechten auseinandergehen, Cyrus«, rief sie ihm nach. »Du sollst nicht denken, dass mir deine Zukunft egal ist. Dass ich Samael bevorzuge …« Sein Schweigen deutete sie als Friedensangebot. Auch er schien einzusehen, dass es niemandem in der Familie nützte, wenn sie sich gegenseitig das Leben schwer machten. Also wagte sie einen letzten Versuch der Annäherung. Diesmal ließ er sie gewähren. Sie folgte seinem Blick zum Fenster hinaus und sah, wie sich die untergehende Sonne am Horizont im Nebel auflöste. »Dein Glück liegt mir genau so am Herzen wie das deines Bruders«, sagte sie. »Deshalb hatte ich auch überlegt, Cordelia Betancourt zum Frühlingsball einzuladen.«
»Roderics Tochter?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Es kann nicht schaden, sie enger an uns zu binden. Stell dir vor, was alles möglich wäre, wenn wir ihren Vater auf unserer Seite wüssten. Nicht nur bei der Wahl im Hohen Rat.«
»Und du glaubst, ein lustiger Abend auf Thornwood lässt ihn verzückt niederknien und fortan ewige Treue schwören?«
Dass Cyrus zu gewohnter Form zurückgefunden hatte, ließ sie beruhigt aufatmen. Die Dirigentin hatte das Unmögliche vollbracht. »Das Fest bietet den perfekten Rahmen, um Cordelia in unsere Familie einzuführen«, flüsterte sie verschwörerisch.
»Du weißt, wie ich dazu stehe.« Er schüttelte den Kopf, als müsse er böse Geister loswerden. »Solche Bestrebungen halte ich für Zeitverschwendung.«
»Dich hatte ich dabei auch nicht im Sinn.«
Das vielsagende Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, brauchte einen Moment, um zu wirken. Als er schließlich den Wink verstand, verwandelte sich seine Ablehnung in ein genüssliches Grinsen.
»Da wird Samael nie mitmachen«, sagte er mit der Vorfreude eines Zynikers, der gerade gegen einen Ertrinkenden gewettet hatte.
»Lass das mal meine Sorge sein.« Lucinda schlenderte zu ihrem Schminktisch und griff nach den erstbesten Ohrringen im Kästchen. Ein letztes Mal blickte sie in den Spiegel. »Es wird Zeit, dass dein Bruder Verantwortung für diese Familie übernimmt.«