4 Gekommen, um zu bleiben

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Während sie vor dem Roten Salon auf ihren Sohn wartete, ging sie die Optionen durch, die ihr im Fall Ethel blieben. Mr. Turner war nicht der Erste, der die alte Dame vor die Tür gesetzt hatte, aber mit Abstand der Mutigste. Keine Vorwarnung, kein Entgegenkommen – Lucinda würde sich eine nett verpackte Danksagung überlegen müssen, denn unbeantwortet konnte dieses dreiste Manöver nicht bleiben. Dabei hatte sie durchaus Verständnis für seine Not. Der Umgang mit Ethel war schwierig, niemand hielt sie länger als ein paar Monate im Zaum. Es würde dauern, bis sie jemanden gefunden hatte, der bereit die Verantwortung zu schultern. Bis dahin musste Mildred jemanden vom Hauspersonal opfern und das rund um die Uhr. Schließlich durfte man Ethel keine Minute aus den Augen lassen.

Ungeduldig lief Lucinda vor der Tür des Salons auf und ab und versuchte das seltsame Grunzen, das aus dem Innern kam, zu ignorieren. Ihre Anspannung war inzwischen so groß, dass sie am liebsten hinein gestürmt wäre, um ihren Sohn persönlich in den Flur zu zerren, doch sie hatte eine ungefähre Vorstellung von dem, was dort vor sich ging und sie missbilligte es zutiefst. Vermutlich klebte der Wächter, den sie geschickt hatte, um Cyrus zu holen, irgendwo fest und das nicht im metaphorischen Sinne.

Die Parties ihres Sohnes standen im starken Kontrast zu ihren stilvoll in Szene gesetzten Feiern und beleidigten daher sowohl ihr ästhetisches Empfinden als auch ihr Verständnis von Anstand und Noblesse. Solch ein Verhalten ziemte sich nicht für Thornwood. Cyrus begründete diese Art der Zusammenkunft stets mit effizientem Ressourcing. Um sein Umfeld zu motivieren, griff er auf zwei Hebel zurück, die leicht zu bedienen waren: Lust und Gier. Wenn man anderen gab, was sie begehrten, war es ein Leichtes, sie in die Richtung zu lenken, die man für sie vorgesehen hatte. Und Cyrus sorgte dafür, dass sie genau das begehrten, was er ihnen geben konnte. Direktes Targeting von basalen Bedürfnissen, sagte er – simple und bestechend in seiner Effizienz. In Lucindas Augen fehlte jedoch jegliche Eleganz oder Finesse. 

Auch wenn sie die Rechtfertigungen ihres Sohnes nicht wirklich überzeugten – schließlich bekam sie auch ohne Vulgärzirkus, was sie wollte – respektierte sie seine Beweggründe. Allerdings nur unter der Bedingung, dass man sich ausschließlich im Roten Salon aufhielt, der sich im äußersten Winkel des Westflügels befand und über einen geheimen Nebeneingang verfügte. So würde der Rest des Hauses von den Eskapaden verschont bleiben.

»Was ist denn so dringend, dass es nicht warten kann?« Ohne sie anzusehen, trat Cyrus aus der Tür und hustete kurz, während er sich gelben Staub von seinem Jackett klopfte. Obwohl die Party schon seit geraumer Zeit im Gange war, sah er gewohnt seriös aus. Hemd und Krawatte saßen perfekt, als käme er direkt von einem Geschäftstermin. Auch die Frisur war makellos. Nur der mysteriöse Blütenstaub passte nicht zum Erscheinungsbild. 

»Wir haben ein Problem«, sagte Lucinda, hielt jedoch inne und rümpfte die Nase. »Was ist das für ein seltsamer Geruch?«

Cyrus schaute über seine Schulter in den Salon. »Glaub mir, das willst du nicht wissen.«

Ihren missbilligenden Blick beantwortete er mit einem Schulterzucken, wies den Wächter jedoch augenblicklich an, die Tür zu schließen.

»Es geht um Ethel«, sagte Lucinda.

Als Cyrus sie nur fragend ansah, überlegte sie für einen kurzen Moment, ob er allen Ernstes vergessen hatte, dass sie existierte. »Tante Ethel«, schob sie nach. »Mr. Turner hat sie vor unserer Haustür abgeladen.«

»Er hat was?« 

»Buchstäblich.«

Ein Poltern war im Salon zu hören. Doch Cyrus ließ sich davon nur kurz irritieren. Er verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Tür. »Was hat sie diesmal angestellt?«

»Irgendetwas mit Feuer. Ich habe nicht so genau nachgefragt«, sagte Lucinda und winkte ab. »Viel wichtiger ist: Was machen wir mit ihr? Sie kann ja schlecht hierbleiben. In ein paar Wochen ist das Fest und ich hab noch so viel vorzubereiten.«

»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«

»Du weißt doch, wie sie ist. Sie würde hier alles auf den Kopf stellen. Ihr Benehmen!« Lucinda hob die Hände und deutet an, jemanden würgen zu wollen. »Sie würde alles ruinieren. Seit einer halben Stunde ist sie erst im Haus und treibt schon jetzt alle in den Wahnsinn. Nein, sie kann unmöglich bleiben.«

»Was ist mit Pandaemonia?«

»Zu gefährlich. Du kennst ihren Zustand. Sie wäre ein leichtes Ziel. Damit machen wir uns verwundbar. Nein, wir müssen sie, so gut es geht, vom Rest der Welt abschotten.«

»Dann finden wir ein anderes Heim für sie.«

»Das wird schwierig. Es ist ja nicht die erste Einrichtung, aus der sie geflogen ist. Ihr Ruf eilt ihr inzwischen voraus. Ich bezweifle, dass sich so schnell jemand findet, der sie aufnimmt.«

»Wenn es dir lediglich darum geht, dass sie hier nichts durcheinanderbringt, dann musst du doch nur dafür sorgen, dass sie in ihrem Zimmer bleibt.«

»Ich kann sie doch nicht einfach wegschließen.«

»Sie ist alt und krank und braucht Ruhe«, sagte Cyrus. 

Lucinda verstand den Wink. Schließlich hatte sie gerade erst das gleiche Argument gegenüber Madame Mildred gebraucht. 

»Du hast recht«, sagte sie. »In ihrem Zustand ist es das Beste, sie von dem ganzen Trubel in Thornwood fernzuhalten. Zumindest bis wir eine dauerhafte Lösung gefunden haben.«

»Ich werde mich demnächst mal umhören«, sagte Cyrus, bevor ihn ein Lachen aus dem Innern des Salons daran erinnerte, dass er gerade seine eigene Party verpasste. »Wenn du mich jetzt entschuldigst – ich habe Gäste, die auf mich warten.« Er deutete seiner Wache, die Tür zu öffnen.

»Moment«, rief Lucinda. »Was ist mit Samael?«

»Was soll mit ihm sein?«

»Er wird ihm nicht gefallen, dass wir Ethel wegsperren.«

»Es hat ihm auch nicht gefallen, dass du sie damals heimlich woanders untergebracht hast.«

»Und genau deshalb will ich es diesmal anders machen.« Lucinda seufzte. »Er trägt mir das heute noch nach.«

»Geändert hat es trotzdem nichts. Du machst das, was du für richtig hältst. Er wird sich schon fügen.«

»Aber für den Familienfrieden wäre es besser, wenn ….«

»Er braucht doch nichts von alledem zu erfahren.«

»Wie soll ich das denn vor ihm geheim halten?«

»Indem du ihn einfach Samael sein lässt. Er ist vermutlich schneller wieder weg, als du Thornwood sagen kannst.«

»Nein, diesmal soll er länger bleiben. Die Sache mit Cordelia Betancourt muss gut organisiert werden. So etwas braucht Zeit. Das wird nie etwas, wenn sich Samael ständig in Pandaemonia herumtreibt.«

»Um das Liebesleben meines Bruders kümmern wir uns, sobald er hier ist«, antwortete Cyrus und drehte seinen Kopf ungelenk hin und her, sodass sein Nacken knackte. »Im Moment gibt es andere Dinge, die meine Aufmerksamkeit verlangen.«

Als er sich zum Gehen wandte, rief Lucinda: »Sie wird übrigens im Falkenturm wohnen.«

Es dauerte einen Moment, bis er reagierte.

»Ethel …«, sagte sie. »Falls du ›Hallo‹ sagen willst.«

Cyrus nickte, doch schien er nicht den Eindruck erwecken zu wollen, als hätte ein Besuch bei seiner Großtante oberste Priorität.