Bevor sie zu Percy in den Salon zurückkehrte, entschied sich Lucinda für einen spontanen Besuch im Turm – in der Hoffnung, dass man Ethel inzwischen eingefangen hatte. Der Weg dorthin führte sie hinaus zum Hof, durch den Gemüsegarten, vorbei an den Obstbäumen in den entlegenen östlichen Winkel des Anwesens. Natürlich hätte sie die Sache beschleunigen und ihre eigene Form des Time-Shiftens nutzen können, doch sie hatte das Gefühl, dass die frische Luft ihr guttun würde.
Unter den verwunderten Blicken der Arbeiter, die in den Beeten für Ordnung sorgten, bahnte sie sich ihren Weg an den Dornenhecken entlang über einen schmalen Pfad zum Eingang des Turmes. Während sie die Stufen emporstieg, überlegte sie, wann sie das letzte Mal hier gewesen war, doch es fiel ihr nicht mehr ein. Für einen Moment überkam sie das schlechte Gewissen. Die alte Dame hier unterzubringen war in etwas so wie eine Topfpflanze im Keller zu parken und das Beste zu hoffen. Auch wenn Ethel eher wildem Efeu als einer empfindlichen Orchidee glich und ihr zähes Wesen schon ganz anderen Widrigkeiten getrotzt hatte, hoffte Lucinda auf die magische Hand ihrer Hausdame, um diesen Ort in etwas Ähnliches wie ein Zuhause zu verwandeln.
»Ich habe Ihrer Tante gerade alles gezeigt«, rief ihr Madame Mildred durch die offene Tür entgegen, während sie Ethel half, sich auf das frischbezogene Bett zu setzen.
Lucinda blieb an der Türschwelle stehen und beäugte das Zimmer. Gemessen an der Kürze der Zeit, die ihnen gegeben war, wirkte alles recht passabel hergerichtet. Als wäre dieser Raum schon immer bewohnt gewesen. Nur die grauen Schlieren an den Fenstern und die verdorrten Pflanzen erzählten noch von der Wahrheit.
»Darum kümmert sich später jemand«, hörte sie Mildred, die einmal mehr bewies, wie gut sie es verstand, Lucindas Blicke zu lesen. »Das Bad ist auch fast fertig.«
»Sehr gut«, sagte Lucinda. »Ich sehe, Sie haben alles im Griff.« Sie wandte sich zum Gehen, denn das Kratzen in ihrer Kehle ließ sie ihren Abstecher längst bereuen. Es war nicht nur die Zeit, die in Ethels Gegenwart schneller zu fließen schien – als würde sie die Minuten von ihren Besuchern stehlen, um sie bei sich zu horten. Auch schien ihr bloßer Anblick die Energie aus Lucindas Fingerspitzen rieseln zu lassen. Energie, die sie dringend für Wichtigeres brauchte. Es kribbelte und Lucinda beugte die Finger zu Fäusten, um den Prozess zu stoppen.
»Es war übrigens John Martin, der ihre Tante aufgehalten hat«, rief ihr Mildred zu.
»Und wie hat er das angestellt?« Die Antwort hätte Lucinda nicht weniger kümmern können. Welcher ihrer Angestellten die Farce wie beendet hatte, war ihr mehr als egal, solange es überhaupt jemandem gelungen war.
»Er hat das Gemälde gemalt, das auf dem Flur vor Master Samaels Zimmer hängt.«
Das Lächeln ihrer Hausdame irritierte sie ebenso wie die Antwort, doch dann fiel es ihr wieder ein: John Martin – hoffnungsloser Romantiker, talentierter Maler und einer ihrer zahlreichen Verehrer. Ein bemitleidenswerter Narr, der geglaubt hatte, sie mit seinen Gemälden beeindrucken zu können. Er hatte ihr eines seiner Werke sogar per Schiff aus England hinterherschicken lassen, wie einen sperrigen Liebesbrief. Das war eine halbe Ewigkeit her. John Martin längst tot. Wie schön, dass er sich auf diesem Wege doch noch als nützlich erwiesen hatte.
Vergeblich bemühte sich Lucinda, das Motiv des Gemäldes in ihr Gedächtnis zu rufen. Auch wenn sie es damals aufhängen hatte lassen, kam der persönliche Wert dem einer dekorativen Tapete gleich. Bei der Vielzahl an Ölschinken und Skulpturen, die sie im Laufe der Jahrhunderte geschenkt bekommen hatte, war es schwer, den Überblick zu behalten. Sie waren irgendwo im Haus verteilt worden und das einzige Kriterium dabei war die Frage, wo sie am wenigsten störten. Mit seinen unzähligen Schlafzimmern und Suiten, diversen Salons, einer Bibliothek, Empfangszimmern, Büros, verschiedenen Esszimmern, einem Ballsaal und endlos langen Fluren, die alles miteinander verbanden, bot Thornwood dafür eigentlich mehr als genügend Platz. Und doch war es einem Gast vor Jahren gelungen, über eine Rodin-Skulptur zu stolpern und die Kingsleys daraufhin auf Schmerzensgeld zu verklagen. Der Rodin fristete seitdem ein Dasein als Vogeltränke im Garten.
»Ihre Tante hat vor dem Gemälde gestanden und es mit großen Augen angeschaut«, unterbrach Madame Mildred ihre Gedanken. »Irgendetwas daran scheint sie in ihren Bann gezogen zu haben.«
Lucinda betrachtete Ethel, die apathisch auf dem Bett saß und ins Leere starrte. Die Haut bleich, die Augenlider schwer, als hätte sie jemand mit einer dünnen Schicht Blei bestrichen.
»Hat sie etwas gesagt?«
»Nein, Ma’am, kein Wort.«
»Weiß sie, wo sie ist?«
»Ich glaube nicht.«
Das Licht schien durch Ethels mageren Körper hindurchzudringen. Sie wirkte fahl wie ein Häufchen Asche, das sich beim kleinsten Windzug einfach auflöste.
»Sie soll sich ausruhen«, murmelte Lucinda und wandte sich ab. »Es war ein turbulenter Tag für sie.«
»Ich habe zwei meiner Mädchen für die erste Schicht eingeteilt. Sie dürften jeden Moment hier sein.«
»Sehr gut.«
»Ich würde außerdem vorschlagen, dass …«
»Schhh …!« Mit einer Handbewegung deutete Lucinda ihrer Hausdame für einen Moment zu schweigen.
Ethel hatte begonnen, ihren Oberkörper hin und her zu wiegen, begleitet von einer seltsamen Melodie gemurmelter Worte. »Und der Teufel, der Verführer … in den See von brennendem Schwefel.«
Lucinda lehnte sich vor, um sie besser zu verstehen. Doch der Rest verlor sich in Flüstern. Es kostete Lucinda einiges an Überwindung, die Türschwelle zu übertreten. Ethel und sie waren wie zwei gleiche Magnetpole – zu nah beieinander wirkten ihre Kräfte in entgegengesetzte Richtungen.
Schließlich schaffte sie es, gegen den Druck in ihrer Brust anzukämpfen und sich zu ihrer Tante auf das Bett zu setzen.
»Ethel?« Der Versuch, Blickkontakt mit der alten Dame aufzunehmen, schlug fehl. »Tante Ethel, ich bin es … Lucinda.«
Das Murmeln war wieder lauter geworden und doch waren nur Wortfetzen zu erahnen »Qualen … bei Tag und bei Nacht.«
Als Lucinda nach der Hand ihrer Tante griff, erschrak sie, wie kalt die Haut und wie leblos die knöchrigen Finger sich anfühlten.
»Ethel, meine Liebe, du wirst ein Weilchen bei uns bleiben. Bei mir und den Jungs.« Sie räusperte sich. »Sam und Cyrus.«
»Mit einer Gabel einstechen, mit Öl bestreichen und salzen.«
»Hast du mich verstanden? Weißt du, wo du bist?« Lucinda blickte hilfesuchend zu Madame Mildred.
»Rosinen drüber streuen. Fertig«, murmelte die alte Dame, nur um dann ganz zu verstummen und erneut in apathische Starre zu fallen.
Der Unterschied zum letzten Besuch war dramatisch. Ethels Geist schien im Stundentakt zu welken. Die Heiler, die sie damals zurate gezogen hatte, waren sich einig, dass der Verfall nicht aufzuhalten wäre. Doch niemand hatte sie darauf vorbereitet, dass es so schnell gehen würde. Solange man bei der Suche nach dem Grund ihres Leidens weiterhin im Dunkeln tappte, gab es keine Möglichkeit einzugreifen. Alles, was ihnen blieb, war mitanzusehen, wie sich der einst so wache Verstand von Ethel in immer kleinere Teile zersetzte. Wie ein Buch, das nicht nur an Seiten verlor, sondern dazwischen auch an Farbe. Buchstaben, die für immer verschwanden und bleiche Leere auf dem Papier hinterließen, bis das Buch irgendwann nur noch als einzelne Schnipsel ohne Zusammenhang existierte.
»Wenn Morpheus die Seelen ertränkt«, krächzte Ethel so überraschend aus dem Nichts, dass Lucinda zurückwich. »Kehrt Ruhe ein ….« Die alte Dame drehte ihren Kopf und sah Lucinda direkt in die Augen. »Im Tal der Verzweiflung.«
Die Wucht in ihrem Blick schien nun wie ein Blitz in ihren Körper zu fahren, denn sie sprang auf und huschte Richtung Ausgang.
Gerade noch rechtzeitig gelang es Lucinda, die Tür mit einer Handbewegung ins Schloss fallen zu lassen und den Schlüssel umzudrehen. Einen weiteren unerlaubten Ausflug würde sie nicht dulden.
Vergeblich drückte Ethel die Klinke herunter. Wieder und wieder. »Die Lasche in den Schlitz«, murmelte sie. »Den Antriebshebel … am oberen Ende … oben ….« Das metallische Ächzen der Klinke erinnerte an einen Morsecode. Dreimal kurz, zweimal lang. »Oberes Ende … bis es klickt.«
Madame Mildred lief zu ihr und griff sie vorsichtig bei den Schultern. Doch gerade als sie die alte Dame von der Tür wegführen wollte, krachte die Klinke scheppernd zu Boden.
Stumm betrachtete Ethel das Missgeschick zu ihren Füßen, bevor sie an der überraschten Mildred vorbei zurück zum Bett schlurfte.
»Aus dem Dunkel ins Licht«, sagte sie. »Der Zenit ist erst der Anfang.«
Lucinda dachte an die Zeit zurück, als Ethels Worten noch nicht der Sinn verloren gegangen war. Noch vor ein paar Jahren war Etheldreda Kingsley ein angesehenes Mitglied des Hohen Rates gewesen. Ihre Gabe, über das Weltliche hinauszusehen, hatten sie zu einer begehrten Ratgeberin aufsteigen lassen. Von allen geschätzt, von vielen sogar verehrt.
Doch dann kam die Krankheit und Ethels Geist wurde von wilden Gedankenstrudeln und Bilderfluten ertränkt. Fortan irrte sie durch einen Nebel aus Vergangenem, Zukünftigem und den Sprenkeln des Moments – unfähig, die verschiedenen Welten voneinander zu trennen.
In diesem Zustand hatte sie keinen Nutzen für den Hohen Rat mehr. Eine Seherin, die nicht sehen konnte, war wertlos. Bald hatten sich auch die letzten Wegbegleiter von ihr abgewandt. Viele von ihnen aus Angst, die Dunkelheit, die auf der ehemaligen Lichtbringerin lag, würde auf sie abfärben. Auch deshalb hatte Lucinda sie fortgeschickt. Fort von alledem. Von den Blicken, dem Tuscheln, den gerümpften Nasen.
Während Madame Mildred hilflos mit der abgebrochenen Klinke an der Tür herum hantierte, betrachtete Lucinda ihre Tante. Der Einzige, der sie nie aufgegeben hatte, war Samael. Noch immer suchte er die Antwort auf ihren Zustand in Pandaemonia. Noch immer glaubte er, sie retten zu können. Lucinda seufzte und griff erneut nach Ethels Hand.
»Ich bin der Schlüssel«, murmelte die alte Dame. »Ich bin das Licht.«
»Ich fürchte, wir sind eingeschlossen«, rief Madame Mildred von der Tür herüber, doch Lucinda ignorierte sie, denn sie hing einem Gedanken nach, der sich aus Ethels Worten geformt hatte.
Samael. Ethel. Das Licht.
Sie war der Schlüssel.
»Natürlich!«, sagte Lucinda und zog ihre Hand wieder weg. »Der Schlüssel.« Warum nicht Samaels Schwäche für Ethel nutzen, um ihn näher an die Betancourts zu binden? Alles, was sie tun musste, war Cordelia emotional mit seiner Lieblingstante zu verknüpfen. Es reichten vermutlich ein paar Treffen und ein Hauch von Sympathie, um die Beziehung zu ihren Gunsten zu manipulieren. Sobald Cordelia im Leben von Ethel eine Rolle spielte, würde sie es auch im Leben von Samael.
»Ich werde den Haustechniker rufen müssen«, sagte Mildred.
»Tun sie das.« Lucinda stand auf und warf ihrer Tante einen letzten Blick zu. Es war gut, dass sie hier war. Trotz aller Umstände. »Ich muss mich wieder um die Planungen für die Feier kümmern«, sagte sie und machte sich bereit für den Time-Shift. Sie glaubte ein Aber von Mildred zu hören, doch was immer es war – sie würde sich alleine kümmern müssen. Für Lucinda war es Zeit, die gestohlenen Minuten aufzuholen und endlich zur Tagesordnung zurückzukehren.