4 Gekommen, um zu bleiben

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Lucinda fand ihren Gast direkt unter dem großen Kronleuchter in der Eingangshalle.

»Mr. Turner!« Ihr war kaum Zeit geblieben, das Lächeln aufzutauen, das sie für solche Fälle einstudiert hatte. »Was führt Sie zu uns?«

Der graue Herr im Tweedmantel nahm seinen Hut, hielt ihn vor seine Brust und deutete eine förmliche Verbeugung an. »Ich komme gleich zum Punkt.« Er räusperte sich und zupfte an seinem Schnäuzer. »Ich werde unseren Vertrag mit sofortiger Wirkung auflösen.«

Überrascht neigte Lucinda den Kopf und hoffte, sich verhört zu haben. Natürlich hatte sie längst spekuliert, dass die Lage ernst war, wenn er sich bemüßigt fühlte, persönlich vorbeizukommen – dass er so drastisch mit der Tür ins Haus fallen würde, hatte sie jedoch nicht erwartet.

»Genug ist genug«, sagte Mr. Turner und seine buschigen Augenbrauen schoben sich wie Wolken vor einem Gewitter zusammen. »Das Maß ist voll.«

»Was hat sie nun schon wieder angestellt?«, fragte Lucinda und verschränkte die Arme.

Mr. Turner hielt wortlos die verbrannten Reste von etwas hoch, das mal ein Schuh gewesen sein musste.

»Das lässt sich doch regeln.« Auch wenn Lucinda wusste, dass es nicht angebracht war zu lachen, zuckten ihre Mundwinkel. Diese alberne Bagatelle passte so gar nicht zum ernsten Gesicht von Mr. Turner. »Ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen.«

»Es tut mir leid, aber diesmal ist sie wirklich zu weit gegangen.« Energisch schüttelte ihr Gast den Kopf. »Der halbe Gemeinschaftsraum stand in Flammen. Es grenzt an ein Wunder, dass niemand verletzt worden ist.«

»Es tut mir leid, dass Ihnen diese Unannehmlichkeiten entstanden sind.«

»Unannehmlichkeiten?«

»Warum reden wir nicht in Ruhe darüber? Ich lasse uns einen Tee in den Salon kommen.« Lucinda fasste Mr. Turner an der Schulter, um ihn nach nebenan in den kleinen Empfangsraum zu führen. Doch der rührte sich nicht vom Fleck.

»Ich möchte keinen Tee. Danke.«

»Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind.«

»Sie verstehen gar nichts! Sie treibt uns alle in den Wahnsinn.« Seine Stimme brach wie zur Bestätigung beim Wort Wahnsinn, also verstummte er kurz, bevor er um einen ruhigeren Ton bemüht fortfuhr. »Wir haben alles getan, damit sie sich bei uns wohlfühlt. Der Betreuungsaufwand überstieg um ein Vielfaches den üblichen Rahmen.«

»Und dafür wurden Sie auch mehr als großzügig entlohnt«, sagte Lucinda und stellte dabei sicher, dass er ihren Unmut heraushörte.

Mr. Turner nickte, setzte jedoch sofort zu einem Aber an. »Ich kann einfach nicht mehr für die Sicherheit der restlichen Heimbewohner garantieren. Ihre Tante gefährdet das Wohl aller.«

Mit diesen Worten deutete er dem Personal die Eingangstür zu öffnen. Festen Schrittes marschierte er hinaus und winkte in Richtung eines Autos, das in der Auffahrt am Brunnen parkte. Prompt stiegen zwei Pflegeschwestern aus dem Wagen – an der Hand die alte Dame, die der Grund für die ganze Aufregung war: Etheldreda Kingsley.

Mit zittrigen Beinen tippelte sie die Stufen zum Eingang hinauf, während eine der Schwestern ihren schweren Koffer trug und neben Mr. Turner abstellte.

»Was soll das werden?«, rief Lucinda, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.

Stumm überwachte Mr. Turner die offizielle Übergabe seines ehemaligen Zöglings, die darin bestand, dass die Schwester Etheldreda genau bis zur obersten Stufe der Treppe führte, um sie dort abzustellen und sich selbst zu überlassen. Dann wiederholte er seine förmliche Verbeugung, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte.

»Sie ist nun Ihr Problem!«, rief er im Gehen, bevor er mitsamt den Schwestern in seinem Auto verschwand und davonbrauste.

Lucinda betrachtete die kleine Frau mit den wirren Haaren und fragte sich, wann sie zu einer Fremden geworden war. Etheldreda schien von der neuen Situation genauso überfordert wie ihre Nichte. Doch während Lucindas Gefühle von Ärger dominiert wurden, wirkte Ethel unsicher und verängstigt. Unentwegt murmelte sie zusammenhanglose Sätze vor sich hin, während ihr Blick misstrauisch umher wanderte. Selbst nachdem Lucinda ihren Dienern befohlen hatte, sie hereinzuholen und auf einen der Ottomanen im Foyer zu platzieren, blieb diese Unruhe an ihr haften. 

Ein kalter Wind zog durch die Eingangshalle und ließ die Kristalle im Kronleuchter klirren. Lucinda blickte nach oben und seufzte. Wäre Mr. Turner noch ein Weilchen unter dem Svarowski-Monstrum stehen geblieben, hätte sie das Problem anders lösen können. Ein neuer Heimleiter hätte ihr zumindest einen Aufschub gewährt, bis die Feierlichkeiten vorbei waren. Nun musste sie sich neben den Planungen für das Fest auch noch um diese Komplikation kümmern.

Dass Madame Mildred genau in diesem Moment im Foyer auftauchte, erschien ihr wie eine göttliche Fügung. Es war an der Zeit, die Angelegenheit in kompetente Hände zu übergeben.

»Fragen Sie nicht«, sagte Lucinda, als sie die verblüffte Miene der Hausdame bemerkte. »Ich bin genauso überrascht wie Sie, meine Liebe.« Sie deutete ihr ein paar Schritte zu folgen, damit sie sich ungestört beraten konnten. »Wie es aussieht, wird meine Tante eine Weile bei uns bleiben«, sagte sie. »Zumindest bis wir etwas Neues für sie gefunden haben. Was, wie ich befürchte, eine Weile dauern wird. Sorgen Sie dafür, dass ein Zimmer für sie hergerichtet wird.« Lucinda überlegte einen Moment. »Am besten im Falkenturm.«

Mit der Verwunderung in Mildreds Gesicht hatte sie gerechnet. Der Turm, von dem sie sprach, war nicht gerade die erste Wahl, wenn es um die Unterbringung von Gästen ging, denn er stand seit Jahren leer. Außerdem war man dort so gut wie isoliert vom Rest des Anwesens. 

»Sie soll erst einmal zur Ruhe kommen«, fügte Lucinda deshalb an. In Wahrheit war sie diejenige, die Ruhe und Abstand von Ethel brauchte. Sie konnte und wollte sich gerade nicht mit ihrer Tante und den vielen Problemen, die sie im Gepäck hatte, beschäftigten. Dafür hatte sie zu viel um die Ohren. Außerdem war sie aus der Übung, was den Umgang mit der alten Frau betraf. Zu gegebener Zeit würde sie sich darum kümmern. Bis dahin musste Ethel eben, so gut es ging, ruhig gestellt werden.

»Ist mein Sohn im Haus?«, fragte sie.

»Master Cyrus?«

»Natürlich Master Cyrus«, sagte Lucinda. »Wer sonst?«

»Er hat sich in der vergangenen Nacht samt Gefolgschaft in den Roten Salon zurückgezogen«, antwortete Madame Mildred gleichmütig. »Die Zusammenkunft dauert meines Wissens noch an.«

Lucinda gefiel nicht, was sie hörte, doch bevor sie etwas entgegnen konnte, wurden die beiden von einem schrillen Lachen unterbrochen. Verwundert blickten sie in Richtung Treppen zum ersten Stockwerk hinauf. 

Hunderte Glasmurmeln kullerten tosend die Stufen hinunter. Es klang, als würde ein Regenschauer in der Eingangshalle von Thornwood niederprasseln.

»Wie zum Teufel ist sie da hochgekommen?«, rief Lucinda, als sie den weißen Haarschopf die Galerie in der ersten Etage entlang huschen sah. Die Murmeln kamen aus einer der gläsernen Bodenvasen, die den oberen Treppenabsatz zierten. Ethel musste sie umgeworfen haben. Wie diese kleine gebrechliche Greisin das angestellt hatte, war vermutlich nicht nur Lucinda ein Rätsel.

Unverzüglich schickte sie zwei Diener hinterher, um ihre Tante einzufangen. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Murmeln verwandelten die Treppen in eine gefährliche Rutschbahn und einen anderen Weg hinauf gab es nicht.

Nach mehreren Stürzen versuchten die Männer ihr Glück, indem sie sich am Geländer festklammerten und daran hochzogen. Unter anderen Umständen ein durchaus amüsanter Anblick, doch Lucinda riss der Geduldsfaden. Ethel hatte genug kostbare Zeit gefressen. 

»Kümmern Sie sich darum!«, befahl sie Madame Mildred und stürmte davon.