4 Gekommen, um zu bleiben

4

Als Lucinda auf dem Rückweg die Ahnengalerie passierte, ließ sie ein mulmiges Gefühl innehalten. Zögerlich blickte sie sich um. Bis auf ein paar Dienstmädchen, die am Ende des Ganges die Fenster putzten, war niemand zu sehen. Die verstaubten Porträts der Kingsley Vorfahren hingen brav nebeneinander aufgereiht an der Wand über ihr – wie stumme Zeugen der Vergänglichkeit. Einst glanzvoll und mächtig, nun nicht mehr als ein flüchtiger Gedanke im Vorbeigehen. Einige von ihnen schienen verächtlich auf Lucinda herabzusehen, doch das war es nicht, was sie irritierte. 

Die Unruhe breitete sich weiter in ihrem Körper aus wie Tinte in einem Wasserglas. Lucinda bedachte die Ölschinken mit einem Seufzen, bevor sie die Augen für den Time-Shift schloss und ihre Gedanken auf die Bibliothek im zweiten Stock richtete – ihre kleine Festung aus Holz und Papier. Etwas rief dort nach ihr. Undeutlich, aber so schwer im Klang, dass sie dem Sog nachgeben musste.

Oben angekommen lauschte sie angespannt in den Raum. Draußen im Hof bellte der Hund des Wachmanns und auf dem Flur waren entfernt die Stimmen der Bediensteten zu hören, doch hier inmitten der Bücher war es totenstill. Lucinda eilte zu den Fenstern und zog die Vorhänge zu. Dann stellte sie sich vor die Bücherwand, atmete tief durch und horchte erneut in die Stille.

Sie spürte ihren Herzschlag. Schneller und irgendwie aus dem Takt. Ihr Blick schweifte über die tausenden Bücher, die bis unter die Decke aufgereiht waren und sie wie eine riesige Mauer überragten. Normalerweise beruhigte sie der Anblick, doch heute ließ sich das ungute Gefühl nicht so einfach abschütteln.

Nervös rieb Lucinda ihre Finger aneinander, bevor sie unter eines der Regalbretter griff, um per Knopfdruck den Mechanismus auszulösen, der einen Teil des Regals zur Seite schob und den Blick auf einen Wandtresor freigab. Routiniert tippte sie den Code ein, wie sie es schon so viele Male zuvor getan hatte, legte ihren Finger auf das Touchpad und wartete, dass sich die Tür öffnete.

Das vertraute rötliche Flackern, das ihr aus dem Tresor entgegen leuchtete, ließ ihr Herz wieder in gewohntem Rhythmus schlagen. Es war alles noch so, wie sie es zurückgelassen hatte. Der gläserne Behälter stand unberührt an seinem Platz, im Kern das altbekannte Bild: lodernde Flammen und Rauchschwaden gaben sich ein infernales Stell-dich-ein.

Lucinda berührte mit den Fingern die eingravierten Buchstaben im Fuß des Gefäßes: EXINAE. Sofort fing es im Innern an zu brodeln. Gierig schlängelten sich Blitze durch das Glas und vereinten sich zu einem Netz aus leuchtenden Adern, die bedrohlich pulsierten. Feuerzungen versuchten, sich durch die Gefäßwand zu fressen, während sich eine teer-ähnliche Masse klebrig-wabernd über dem Boden des Behälters ausbreitete. Fasziniert betrachtete Lucinda das Spektakel. Auch nach all den Jahren konnte sie sich nicht sattsehen am Tanz des Terrors. Es hatte etwas Erhebendes – als würde man sich mit einem Elixier aus Chaos und Wut stärken.

Seit Aamon nicht mehr schützend die Hand über sie hielt, war es schwerer, in der Welt zu bestehen. In Momenten wie diesem mahnte sie sich deshalb stets, dass es schon einmal eine Zeit ohne ihn gegeben hatte. Bevor sie eine Kingsley geworden war. Eine Zeit, in der sie gelernt hatte, sich allein zu behaupten. In der sie erkannte, dass jede Niederlage auch immer eine Chance barg. Das flammende Gefäß vor ihren Augen zeugte davon – ein Relikt aus der Vergangenheit als Symbol der Zukunft. Die Gewissheit, dass nichts und niemand ihr etwas anhaben konnte.

Zufrieden schloss sie den Tresor und wartete ab, bis er hinter der knarzenden Bücherwand verschwunden war. Die Geister, die sie vor der Ahnengalerie heimgesucht hatten, waren geflohen. Die Schwäche des Moments vergessen. 

Sie zog die Vorhänge zurück und beobachtete, wie das Sonnenlicht den Raum zurückeroberte. 

Das Erbe der Kingsleys würde fortbestehen. Auch ohne Aamon. Sein Vermächtnis lag in ihren Händen, doch ihr Weg würde ein anderer sein. Sie würde Zweifel nicht achtlos niedertrampeln, wenn sie an einer Gabelung aufkeimten. Sie würde sich selbst erlauben, den Kurs zu korrigieren und nicht stur in eine Richtung laufen. Die Fehler Aamons waren ihr Kompass.

Sie würde ihre Söhne beschützen. Notfalls vor sich selbst. Sie würde sich jedem entgegenstellen, der dieser Familie schaden wollte und sie bis aufs Blut verteidigen. 

So wie sie es immer getan hatte.