5 Neue Wege

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Orla ließ ihren Blick durch das Großraumbüro schweifen und ein Gefühl von Zuhause machte sich breit. Stanford beim Aktenwälzen, Gibbons in einer Unterhaltung mit Kollegen und Picketty beim Anheften irgendwelcher Notizen an sein Rechercheboard – jeder schien in seiner eigenen kleinen Blase vor sich hin zu rotieren. Und gerade dieses ignorante Gewusel war die beste Begrüßung, die sie hätte bekommen können. 

Nach Wochen des Nichtstuns hatte auch sie endlich wieder eine Aufgabe. Eintauchen und mitmachen! 

Begleitet vom Klappern der Computertastaturen, dem Stimmengewirr und all den anderen Geräuschen, die sie willkommen hießen, marschierte sie den Gang entlang – so aufgeregt, als wäre es ihr erster Tag.

»Agent Mayfield!« Fitzsimmons war aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht, wie ein Wegelagerer, der nur auf den richtigen Moment gewartet hatte, um sie zu überfallen. »Du hier und nicht vor dem Disziplinarausschuss?« In den Händen hielt er eine Art Briefbeschwerer in Form eines Pegasus und Orla fragte sich, was er damit vorhatte. Niemand auf dieser Welt benutzte Briefbeschwerer – außer für Mordanschläge.

»Agent F.«, presste sie durch ihre Zähne und gab sich Mühe, ihr Lächeln so gequält wie möglich wirken zu lassen. »Glückwunsch zur Beförderung! Hat Mami dir einen Pokal gebastelt?«

»Warum so verbittert?« Fitzsimmons schien getroffen, denn er ließ den goldenen Pegasus hinter seinem Rücken verschwinden. »Ist dir deine Auszeit nicht bekommen?«

»Im Gegenteil«, sagte Orla. »Ich hatte viel Zeit, um nachzudenken und bin mit mir im Reinen. Und du?«

»Ach, weißt du, seit ich aus dem Krankenhaus raus bin, hatte ich kaum Zeit zum Durchatmen. Die vielen Solidaritätsbekundungen, dann die Beförderung. Du kennst das ja.« Er hielt inne und schnalzte mit der Zunge. »Ach, nein. Mein Fehler. Woher solltest du?« 

Orla spürte ein Zwicken zwischen Schulter und Nacken – genau an der Stelle, an der ihr die Stimme der Unvernunft manchmal effiziente Vorschläge einflüsterte, die jedoch selten moralisch einwandfrei justiert waren. 

»Apropos Fehler«, sagte sie und kämpfte gegen den Impuls an, ihm einfach gegen das Schienbein zu treten. Wie bedauerlich, dass dies kein Schulhof war und sie keine Zehnjährige, die damit davon gekommen wäre. »Ich finde es ja immer wieder erstaunlich, wie gut man mit Lügen Karriere machen kann. Du solltest für die Republikaner kandidieren. Jemand wie du würde sicher weit kommen.«

»Jemand wie ich?«

»Oder du gibst Coaching-Seminare«, fuhr sie in schlecht kaschierter Rage fort. »Fehler in Chancen umwandeln – wie man andere unter den Bus wirft und dafür als Held gefeiert wird.«

»Mooooment!« Er ging in Verteidigungshaltung, doch statt eines zurechtweisenden Zeigefingers hielt er ihr den Briefbeschwerer vor die Nase. Als ihm bewusst wurde, wie bedrohlich diese Geste wirkte, ließ er die Hand wieder sinken. »Du hast mich im Stich gelassen, nicht umgekehrt«, sagte er und seine Stimme begann zu zittern. »Du kannst froh sein, dass ich dich nicht vor Gericht zerre, Mayfield. Schließlich hätte mich deine kleine Mutter-Theresa-Nummer fast das Leben gekostet.« Er umklammerte mit beiden Händen den Briefbeschwerer, so als befürchte er, dass Orla handgreiflich werden könnte. 

Und tatsächlich wurde die Stimme der Unvernunft in Orlas Kopf immer lauter. »Ich hab dir da draußen deinen Arsch gerettet, mein Freund«, sagte sie und ihre Stimme bebte. »Ohne mich wärst du elendig im Dreck krepiert.«

Fitzsimmons wollte etwas erwidern, doch aus irgendeinem nebulösen Grund schluckte er es runter. 

Als Orla die Blicke der anderen bemerkte, sammelte sie sich und fuhr in gemäßigterem Ton fort »Wir hatten ausgemacht, dass du auf mich wartest, bis ich die Kinder in Sicherheit gebracht habe. Das war der Plan.«

»Dann wäre Grogon längst über alle Berge gewesen«, antwortete Fitzsimmons.

»Ach, und dein kleines Himmelfahrtskommando hat ihn aufgehalten?«

»Ich konnte ja nicht ahnen, dass …«

»Tu mir einen Gefallen, Mike. Wenn du das nächste Mal beschließt, dich in ein Schwert zu stürzen, gib hinterher nicht mir die Schuld, wenn du dich dabei verletzt.«

Fitzsimmons betrachtete nachdenklich den goldenen Pegasus in seiner Hand. »Ich schätze, wir haben alle Fehler gemacht«, sagte er schließlich.

»Aber ich bin die Einzige, die ihren Kopf dafür hinhalten musste.« Bevor der angestaute Frust zu etwas Unkontrollierbarem heranwachsen und ihren Brustkorb sprengen konnte, drängte sich Orla zum Schutz aller an ihm vorbei und rammte ihn dabei absichtlich mit der Schulter. Man bekam das Mädchen vom Schulhof, aber den Schulhof nicht aus dem Mädchen.

»Was war das denn gerade?«, hörte sie Doyle hinter sich. 

»Nichts«, sagte Orla, als hätte es die Explosion zwischen ihr und Fitzsimmons nie gegeben. Trotzig wischte sie sich die unsichtbaren Sprengstoffreste von den Fingern und beschleunigte ihren Schritt.

 »Ich verstehe ja, dass du noch immer sauer bist«, sagte Doyle.

»Sauer?« Orla blieb stehen und sah ihn irritiert an. »Sauer trifft es nicht mal annähernd. Sauer bin ich, wenn ich unnötig im Stau stehe. Wenn mir jemand die letzte Portion Lieblingseis vor der Nase wegschnappt oder wenn der einzig coole Charakter im Film unnötigerweise stirbt. Aber das hier?« Sie lachte auf und versuchte, sich nicht an der Bitternis auf ihrer Zunge zu verschlucken. »Glaub mir, ich bin so viel mehr als sauer. Wie wäre es mit wütend, enttäuscht, verletzt, müde und frustriert, dass Typen wie Mike immer auf die Füße fallen – egal, wie viel Müll sie fabrizieren.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Doyle. »Und ich geb dir in allen Punkten recht. Er hat die Abreibung mehr als verdient. Aber das musst du woanders klären. Nicht hier, wo jeder mithört und das Echo sofort bis zum Büro vom Chief zu hören ist. Du bist immer noch auf Bewährung. Vergiss das nicht.«

»Und wessen Schuld ist das?« Orla blickte den Flur hinunter zu der Stelle, an der Fitzsimmons sich breitbeinig in den Weg gestellt hatte. »Dieser Feigling ist mir in den Rücken gefallen, bevor ich überhaupt eine Chance hatte, mich zu verteidigen.« 

»Ich verstehe deinen Ärger«, sagte Doyle, räusperte sich und fuhr in ungewöhnlich lautem Ton fort. »Mich hätte es auch genervt, wenn ich zwei Stunden in der Leitung gehangen hätte, nur um dann rausgeschmissen zu werden.«

Orla sah ihn irritiert an, doch er schaute an ihr vorbei über ihre Schulter.

»Diese Hotlines sind doch ein einziges Psycho-Experiment«, sagte er lautstark wie ein Stadionsprecher. »Um zu gucken, wie leidensfähig die Anrufer sind. Allein die Musik!« Unbeholfen begann er eine Melodie zu summen und Orla fragte sich kurz, ob der Geist eines schlechten Komikers von ihm Besitz ergriffen hatte.

Erst als dicht hinter ihr zwei Kollegen auftauchten und man sich freundlich, aber reserviert zunickte, verstand sie, dass er das alles improvisiert hatte, um sie vor unerwünschten Zuhörern zu schützen. 

Wortlos folgte sie ihm den Flur entlang in den Besprechungsraum – vorbei an den Porträts verdienter Kollegen, deren Heldengeschichten denen von Odysseus und seinen Gefährten in nichts nachstanden. Das erste Jahr im Job hatte sie sich noch der Illusion hingegeben, sich dort irgendwann auch einmal einzureihen. Inzwischen war sie sich sicher, dass das nie passieren würde. Das System war so konstruiert, dass nur ein bestimmter Typ von Agenten davon profitierte. Und sie gehörte definitiv nicht dazu. 

Es war kein Zufall, dass sich zwischen all den Dämonenbezwingern und tapferen Verteidigern der gesellschaftlichen Ordnung keine einzige Frau befand. Für heldenhafte Karrieren waren diese eben einfach zu emotional, nicht fokussiert genug, zu wenig wie diejenigen, die letztendlich die wichtigen Entscheidungen trafen. 

Doch auch als Mann hätte Orla es in den Reihen der Ja-Sager und Linienläufer schwer gehabt. Wer zu viele Fragen nach dem Warum stellte, galt als schwierig. Wer einen eigenen Kompass nutzte, sowieso. Das zu erkennen, war anfänglich ernüchternd, aber nachdem sich der Frust einmal satt gefressen hatte, vor allem befreiend. Seit Orlas Augenmerk nicht mehr der ominösen Heldenwand galt, waren ihre Schultern viel leichter. Ohne den Druck, sich für eine der oberen Sprossen der Leiter qualifizieren zu müssen, konnte sie sich besser auf das konzentrieren, was ihr wirklich wichtig war: den Job so zu erledigen, dass sie sich danach noch immer im Spiegel ansehen konnte.

 »Kennst du die Fabel von dem Eichhörnchen und dem Bären?«, unterbrach Doyle ihre Gedanken und schob sie in den Besprechungsraum. Ehe Orla den Satz in seinen einzelnen Komponenten überhaupt verstanden hatte, fuhr er fort: »Der Bär hat das Eichhörnchen verärgert und ….«

»Wie?«, fragte Orla – noch immer im Zwischenreich von Doyles Worten und ihren eigenen Gedankenfetzen. 

»Was … wie?«, fragte er irritiert.

»Wie hat der Bär das Eichhörnchen verärgert?«

»Spielt das eine Rolle?«

»Für mich schon. Ich muss mich ja irgendwie in die Geschichte einfinden.« 

»Keine Ahnung«, sagte er. »Er hat vielleicht den Nussvorrat woanders versteckt, weil er das lustig fand.« 

Orla war sich ziemlich sicher, dass Doyle sich das alles spontan ausgedacht hatte, um irgendeinen gut gemeinten Ratschlag möglichst kreativ zu verpacken, denn in solchen Fällen schnippte er immer mit dem Ringfinger gegen den Daumen. 

»Und wie stehen die beiden zueinander?«, hakte sie nach. »Nachbarn? Wohngemeinschaft? Beste Freunde?«

»Was für dich am besten passt. Lässt du mich jetzt mal ausreden?« Doyle seufzte. »Also, das Eichhörnchen ärgert sich mächtig und will es dem Bären irgendwie heimzahlen. Es lädt ihn also zu sich ein und kocht extra das Lieblingsessen des Bären …«

»Wie fies von ihm«, unterbrach ihn Orla erneut, presste jedoch die Lippen zusammen, als sie seinen tadelnden Blick sah.

»Es kocht das Lieblingsessen des Bären und …« Doyle verstummte, als wäre er beim Erzählen eingefroren. Als Fan dramatischer Pausen übertrieb er es manchmal beim Aufbau eines Spannungsbogens, doch gerade als Orla fürchtete, an Altersschwäche zu sterben, bevor sie das Ende erfuhr, servierte er grinsend die Pointe: »Um ihn so richtig zu ärgern, lässt das Eichhörnchen alles kalt werden, bevor sie es em Bären serviert.«

»Ah ja. Verstehe.«

»Das ist alles? … Ah ja, verstehe?!«, äffte Doyle sie nach.

»Nein, entschuldige. Gute Geschichte.« Orla klatschte eifrig in die Hände, doch das schien ihn nicht wirklich zufriedenzustellen. »Mich hat das nur gerade an diese andere Fabel erinnert«, sagte sie. »Die, wo der Fuchs den Storch zu sich einlädt, aber sein Essen auf flachen Tellern serviert, damit mehr für ihn übrig bleibt. Also serviert der Storch beim nächsten Treffen sein Essen in schmalen Krügen, in die der Fuchs mit seiner Schnauze nicht reinkommt.«

»Und warum sollte ich so etwas erzählen?«

»Weil es darum geht, Fitzsimmons mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.«

»Ach so, ja. Guter Punkt«, sagte Doyle. »Aber nicht das, was ich meinte.«

»Ich weiß. Du wolltest darauf hinaus, dass ich einen langen Atem brauche, wenn ich es ihm heimzahlen will. Keine überstürzten Entscheidungen, während die Emotionen noch hochkochen. Abwarten und …«

»Was? Nein! Du sollst herausfinden, was Fitzsimmons mag. Und dann machst du es ihm so richtig schön madig.«

»Ach, ich dachte wegen Rache kalt servieren und so.«

Fragend sah Doyle sie an. Er schien wirklich noch nie von dem Sprichwort gehört zu haben.

»Es geht darum, die Schwächen des Gegners zu kennen«, sagte er. »Wenn man weiß, was dem anderen lieb und teuer ist, schmiedet sich der Racheplan quasi von selbst. Weißt du, was Gloria gemacht hat, nachdem sie erfuhr, dass Emilio sie hintergangen hat?«

»Nein, aber du wirst es mir sicher gleich erzählen.«

»Wieso hab ich den Eindruck, dass du es gar nicht hören willst.«

»Sag schon, welchen genialen Racheplot hat deine Seifenoper-Heldin ersponnen?«

»Telenovela« Doyle hob belehrend den Finger. »Das ist ein Unterschied.«

»Meinetwegen. Telenovela-Heldin. Was hat sie getan?« 

»Sag ich nicht. Perlen vor die Mäuse.«

»Säue.«

»Was?«

»Vergiss es«, sagte Orla und schmunzelte. »Nicht weiter wichtig.«

»Wie auch immer. Egal, von wem wir uns bei unseren Racheplänen inspirieren lassen – es wird ein Tanz auf dünnem Eis. Entsprechend vorsichtig müssen wir sein.«

»Wir?«

»Natürlich wir. Du musst nur den Befehl geben und ich werde Fitzsimmons höchstpersönlich Flöhe in seinen Nacken rieseln lassen.« Er hob drohend die Faust wie einer dieser Western-Haudegen. »Ich werde ihm heimlich Salz in den Energydrink tun und alle seine Stifte leer malen, sodass er sich nichts mehr notieren kann.«

»Erinnere mich bitte daran, dass ich es mir nie mit dir verscherze«, sagte Orla.

»Du könntest es dir nie mit mir verscherzen. Wir sind wie Pech und Schwefel. Wie Lyra und Jasper.« Er legte seinen Arm um ihre Schulter. »Für immer verbunden durch den Schwur der gebrochenen Seelen.« 

Dass er den Fantasy-Roman zitierte, den sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, freute sie. Dass er nicht ahnte, welch dramatische Wendung die Geschichte der Nebelkriegerin und des Heilers nehmen würde, brach ihr dennoch ein wenig das Herz. »Du bist noch nicht weit in dem Buch, oder?«, murmelte sie und verzog das Gesicht zu einem mitleidigen Lächeln. 

Doyle überging ihre Bemerkung. Zu tief schien er im Skript ihres ganz eigenen Rachefilms zu stecken. »Ich bin auf jeden Fall zu allem bereit«, sagte er und hielt die Hand zum Salut an seine Stirn. »Das Wichtigste ist, dass wir im Verborgenen agieren. Wenn der Chief mitbekommt, dass du noch immer auf Rachefeldzug bist, statt dich auf deine Arbeit zu konzentrieren, pfeift er dich sofort zurück und verbannt dich ins Archiv, wo du den Rest deiner Tage irgendwelche Kartons nummerieren und Beweismittel vom Staub befreien darfst.«

Beim Gedanken daran, zwischen Archivregalen eingesperrt zu sein und qualvoll an der täglich auf sie herab rieselnden Langeweile zu ersticken, schauderte es Orla.

»Deshalb halte ich es für das Beste, wenn wir die Streitaxt vorerst beiseitelegen«, sagte Doyle. »Und uns ausschließlich mit dem neuen Fall beschäftigen. Wir schlagen zu, wenn die Wogen sich geglättet haben. Wenn Fitzsimmons es am wenigsten erwartet.« 

»Deal«, sagte Orla und wunderte sich, wie leicht es ihr fiel, die Sache vorerst abzuhaken. Gerade wollte sie Fitzsimmons noch an die Gurgel springen und nun war die Wut zu einer überschaubaren Menge Ärger geschrumpft – wie ein roter Luftballon, aus dem Doyle die Luft gelassen hatte. 

»Verrätst du mir trotzdem noch, was Gloria mit Enrico gemacht hat?«, fragte Orla, während sie ihre Faust mit den labbrigen Ballonresten in ihrer Hosentasche verschwinden ließ.

»Emilio.« Ihr Freund rollte mit den Augen. »Emilio Gonzales Molina. Letzter seiner Sippe, erster seiner Zunft.«

»Natürlich. Sorry.«

Doyle hörte ihre Entschuldigung nicht. Er lächelte selbstvergessen, während er die Folge noch einmal im Schnelldurchlauf vor seinem geistigen Auge abzuspielen schien. »Sie hat seine Konten leer geräumt, einen Flug gechartert und sein Geld über der ganzen Stadt verstreut.«

»Chapeau und Halleluja«, sagte Orla und nickte ihm anerkennend zu, als hätte er persönlich das Flugzeug geflogen. »Gleich noch etwas Gutes für die Allgemeinheit getan.«