5 Neue Wege

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»Ach ja, richtig! Den hatte ich ganz vergessen.« Alyson rief erneut die Bilddateien auf dem Bildschirm auf und wählte das verschwommene Foto eines jungen Mannes aus. Die Aufnahme war so unscharf, dass man eher von einem Schatten sprechen musste. Orla erkannte lediglich die helle Haarfarbe, die sich von der seines Bruders und seiner Mutter unterschied, und erahnte die blassen Linien eines Profils. Zu mehr taugte das Foto nicht.

»Samael Kingsley. Der Jüngere der beiden«, sagte Alyson. »Er hält sich die meiste Zeit in Pandaemonia auf und hat an unserer Welt wenig Interesse. Entsprechend dünn sind die Infos, die wir über ihn haben.«

»Und entsprechend gering ist unser Interesse an ihm«, ergänzte Blake, als würde es ihn ärgern, dass der zweite Sohn überhaupt erwähnt wurde. Orla entging nicht, dass er schon zum zweiten Mal in kurzer Zeit auf die Uhr gesehen hatte.

»Es ist eher unwahrscheinlich, dass er mit den Familiengeschäften etwas zu tun hat«, sagte Alyson. »Du kannst und solltest dich also voll und ganz auf Cyrus konzentrieren. Mit wem umgibt er sich? Wer sind seine engsten Vertrauten? Wo bewahrt er seine persönlichen Sachen auf?«

»Du könntest dich mit den anderen Hausangestellten anfreunden«, sagte Doyle. »Hör dich um. Vielleicht hat jemand etwas mitbekommen, was das Verschwinden von Hildesheimer erklären könnte. Oder das der anderen.«

»Wir haben nur ein paar Monate, bis man uns wahrscheinlich weitere Mittel kürzt«, sagte Blake. »Bis dahin brauche ich etwas Handfestes, das wir gegen die Familie verwenden können.«

»Ich verstehe, Sir.«, sagte Orla, wunderte sich aber, wie die Dringlichkeit der Sache mit ihrer Position als Hausmädchen zusammenpassen sollte. Von so weit unten war es unnötig schwer, in der kurzen Zeit an relevante Informationen zu kommen. Um einen Tresor zu knacken, rannte man ja auch nicht erst ewig im Garten herum, in der Hoffnung, irgendwann auf die notwendigen Werkzeuge zu stoßen. 

»Sonst noch Fragen?«, unterbrach Blake ihre Gedanken. 

»Nein, Sir.«

»Gut, dann lassen Sie uns loslegen. Machen Sie sich so schnell wie möglich mit Ihrer neuen Rolle vertraut. Alle Informationen dazu haben Sie von Alyson. Wir sprechen uns wieder, wenn es an die konkrete Planung geht.« Er stand auf und reichte ihr die Hand. »Auf gute Zusammenarbeit, Agent Mayfield.«

Orla erwiderte die Geste und lächelte ihn an. Erst zögerlich, dann recht deutlich, um das Ganze mit dem nötigen Optimismus zu garnieren, den sie beide brauchen würden. Doch Blake zeigte keine Regung.

»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen.« Er knöpfte sein Sakko zu und nickte in die Runde. »Ich habe einen weiteren Termin.«

Während Orla ihm nachsah, fragte sie sich, ob er grundsätzlich – rein mechanisch – in der Lage war, zu lächeln, oder ob er zu der Sorte Mann gehörte, die das irgendwann verlernt hatten, weil sie es so selten nutzten. 

»Orla?«, hörte sie Alysons Stimme hinter sich und schreckte hoch. »Wir können uns gerne die Tage noch einmal zusammen setzen und alles durchgehen, wenn du magst.«

Wie sie so schnell von der einen auf die andere Seite des Tisches gelangt sein konnte, war Orla schleierhaft. 

»Ein Einzelbriefing wäre tatsächlich sinnvoll«, sagte Doyle. »Niemand kennt den Fall so gut wie Alyson.« 

»Vielleicht sollte ich dich einfach mitnehmen«, sagte Orla. »Du wärst an meiner Seite bestimmt eine große Hilfe.« 

Als Alyson das Gesicht zu einem schiefen Lächeln verzog, erkannte Orla, dass ihre Kollegen dieses Gedankenexperiment schon mehr als einmal durchgespielt haben musste und sie bereute ihren unbedachten Scherz. Nur zu gut kannte sie den Hunger, sich beweisen zu wollen. Den Frust, den man besser runterschluckte, um als Anfängerin nicht negativ aufzufallen, wenn andere die Früchte einsammelten, die ohne die eigene Saat nie gediehen wären. 

»Ich bin ehrlich«, sagte sie. »Ohne dich wird das hier nichts. Ich bin wirklich etwas überfordert. Diese Flut an Informationen … 

»War ich zu schnell mit der Präsentation?«, fragte Alyson besorgt.

»Nein, nein, das ist es nicht«, sagte Orla und blickte hilfesuchend zu Doyle. Warum waren Komplimente immer solche Fallstricke? »Es liegt an mir. Ich bin … ich muss erst wieder richtig reinkommen. Und es würde mir in der Tat helfen, alles gründlich mit dir durchzugehen.«

Die Stimme von Garrett unterbrach sie in ihrem improvisierten Monolog. 

»Man sieht sich«, rief er und salutierte mit dem Finger an der Stirn. »Wenn noch etwas ist, du weißt ja, wo du uns findest.« Sein Partner Jones spielte zum Abschied Luftgitarre, bevor beide durch die Tür verschwanden.

»Wir können gerne etwas für morgen ausmachen«, sagte Alyson. »Ich habe noch einige alte Zeitungsartikel, die nicht in die Präsentation gepasst haben. Handelsregistereinträge, Gedächtnisprotokolle, Funkzellenabfragen …«

»Ich freu mich«, sagte Orla, auch wenn das gelogen war. Sich durch Datenberge zu kämpfen, war nicht gerade ihre Lieblingsbeschäftigung. »Morgen passt mir gut.«

»Dann reserviere ich uns gleich einen Raum, damit wir ungestört sind.« Alyson verabschiedete sich mit demselben Elan, mit dem sie angetreten war. Auf dem Weg zur Tür drehte sie sich noch ein paar Mal um und nickte ihnen zu, ehe sie endgültig aus dem Blickfeld von Orla und Doyle verschwunden war.

»Ich mag sie«, sagte Doyle, nachdem nur noch sie beide übrig waren.

»Ja, sie scheint eine von den Guten zu sein.« Orla konnte sich ein Seufzen nicht verkneifen.

»Was hast du? Lief doch ganz gut.« 

Orla verzog ihr Gesicht. »Findest du?«

»Der Einsatzort ist räumlich begrenzt, deine Rolle ist klar definiert, der Aufgabenbereich ist überschaubar – das dürfte eine deiner leichtesten Übungen werden.«

»Weil mir als Frau die Leidenschaft für streifenfreies Hochglanzputzen und eine gewisse Unterwürfigkeit bekanntermaßen im Blut liegen?«

»Weil du eben du bist und das Ding im Schlaf abwickeln wirst.« Er griff nach ihrem Stuhl und drehte sie zu sich. »Glaub mir, der Job ist perfekt für dich.«

»Bullshit! Abgesehen von der Größe des Hauses ist die Observierung ein Klacks. Jeder Rookie kriegt das hin. Ich bin komplett überqualifiziert.« 

»Du wolltest Arbeit, jetzt hast du sie.«

»Ich hab doch nicht als Jahrgangsbeste abgeschlossen und mich mühsam bei der APA hochgearbeitet, um anderen Leuten hinterher zu putzen«, sagte Orla und verschränkte die Arme. »Außerdem wäre ich total unglaubwürdig in der Rolle des Hausmädchens – du weißt, wie schlecht ich mich Autoritäten unterordnen kann.«

»Quod erat demonstrandum«, sagte Doyle und seufzte. »Hör zu. Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du dich einfach auf die Sache einlässt. Sonst stehen wir beide ziemlich blöd da.«

Die Dringlichkeit in seiner Stimme irritierte Orla. 

Auch Doyle schien das aufzufallen, denn er bemühte sich um einen heiteren Gesichtsausdruck.

»Sei ehrlich«, sagte Orla. »Warum hab ich diesen Job bekommen?«

Doyle blickte zu Boden, bevor er leise zu einer Antwort ansetzte: »Weil es vielleicht deine letzte Chance ist, dich zu rehabilitieren.«

»Was meinst du?«

»Blake kam vor ein paar Tagen zu mir und hat sich nach dir erkundigt. Ich sagte ihm, dass du das sicher gerne übernehmen würdest, weil ich wusste, dass du zu Hause ohne Arbeit die Wände hochgehst.« Verlegen kratzte sich Doyle an der Schläfe. »Wir sind dann gemeinsam zum Chief, um dich vorzuschlagen und da stellte sich heraus, dass du offenbar näher am Abgrund stehst, als wir beide dachten.«

»Was soll das heißen?« Orla spürte, wie sich ihr Nacken versteifte. 

»Der Chief überlegt, dich in eine andere Abteilung versetzen zu lassen.« 

»Wieso das denn?« 

»Er …« Doyle räusperte sich. »Er hat dich als labil und unzuverlässig bezeichnet.« Auch wenn die Schärfe der Worte ihn persönlich zu treffen schien, wirkte er erleichtert, es endlich auszusprechen und nicht mehr vor ihr geheimhalten zu müssen. »Der Chief hat Blake vor dem Risiko gewarnt, das er mit dir eingehen würde. Schließlich hättest du dich wiederholt seinen Anweisungen widersetzt.« 

»Wiederholt? Bei Grogon stand das Leben von Zivilisten auf dem Spiel!« Orlas Stimme klang schriller als ihr lieb war, doch die Empörung brach einfach aus ihr heraus. »Das waren Kinder.«

»Ich weiß, ich weiß.« Doyle hob beschwichtigend die Hände. »Und ich hätte an deiner Stelle vermutlich genauso gehandelt. Nur dem Chief war das eben ein Regelbruch zu viel.«

Orla wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Um Fassung bemüht, starrte sie auf die Akte vor sich, während das Gedankenkarussel Fahrt aufnahm. 

»Und deshalb ist es so wichtig, dass wir das hier durchziehen«, hörte sie Doyle sagen. »Gemeinsam. Ohne irgendwelche Patzer.« Mit dem Finger tippte er auf die Akte. »Der Erfolg dieser Operation ist direkt mit deinem Verbleib bei der APA verknüpft.«

Der Ernst der Lage rieselte nur langsam in Orlas Bewusstsein. Sie wusste, dass der Chief nicht gerade gut auf sie zu sprechen war, doch dass es so schlimm um ihre Karriere stand, wäre ihr nicht in den Sinn gekommen.

 »Sieh es als Chance, die Sache mit Grogon vergessen zu machen«, sagte Doyle. »Wir bringen die Kingsleys zu Fall, König Midas kassiert die Lorbeeren und legt ein gutes Wort für dich ein. Alle sind glücklich.« 

In seinem Lächeln fand Orla den kleinen Funken Zuversicht, den sie dringend brauchte. Sein Optimismus war der Strohhalm, an den sie sich klammern würde, bis die Sache ausgestanden war. 

»Blake kann mich nicht leiden«, murmelte sie, während sie nach der Akte griff.

»Glaubst du, dann hätte er dich rekrutiert? Blake steht ziemlich unter Druck. Nach den Erfolgen der Vergangenheit tritt er bei diesem Fall nun schon seit langem auf der Stelle. Er hat dich gewählt, weil er davon überzeugt ist, dass du den Job erledigen kannst.«

»Wenn du das sagst.« Orla klappte den Hefter auf und ließ ihren Blick erneut über die Informationen zu ihrer neuen Identität schweifen.

»Orlanna Davis? Wie Pete Davis?«, fragte sie und gab Doyle mit der Akte einen Hieb gegen die Schulter. »Hast du mir echt den Nachnamen deines Schnulzensängers verpasst?«

Doyle grinste, als hätte er sich tagelang auf diesen Moment gefreut. »Regel Nummer eins bei der Wahl deiner Schein-Identität: Bleib möglichst nah an der Realität.«

»Neunundzwanzig, ledig, keine weitere Familie«, las Orla leise murmelnd vor. In diesen Punkten würde sie nicht lügen müssen. Auch der Rest ihrer Rolle schien umsetzbar. Schließlich hatte sie genug Routine im Verbiegen von Wahrheiten. Eine Lüge war nur solange eine Lüge, bis man sie oft genug wiederholt hatte.


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