8 Das Hadeszimmer

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Obwohl Orla in den ersten zwei Wochen auf Thornwood viel herumgekommen war, jeden Tag neue Leute getroffen und neue Orte entdeckt hatte, fiel die Ausbeute an brauchbaren Informationen über die Kingsleys enttäuschend aus. Bis auf den unfertigen Grundriss des Hauses und die Erkenntnis, dass ihr nicht nur die Überwachungskameras und ein Sicherheitsschloss, sondern auch ein bulliger Wachmann im Weg standen, wenn sie in das Büro von Cyrus Kingsley gelangen wollte, hatte sie kaum etwas Spannendes erfahren. Von seiner Mutter Lucinda hatte sie bisher nicht einmal einen Schatten gesehen. Und solange sie fürchten musste, dass der Pager an ihrem Handgelenk ihre Wege per GPS überwachte, würde sich das auch nicht ändern. 

Die Kollegen hatten sie überwiegend herzlich aufgenommen, was daran lag, dass Nell sie herumzeigte wie ein Streunerkätzchen, das sie im Straßenrand gefunden hatte. Orla gab ihr Bestes, um dabei möglichst blass zu bleiben und weder besonders liebenswürdig noch besonders unsympathisch, noch sonst irgendwie besonders in Erscheinung zu treten. Sie hielt die Leute freundlich auf Distanz und gab nur so viel von sich preis, wie nötig war, um nicht als eigenbrötlerisch zu gelten. Wann immer jemand, dem sie bereits begegnet war, erneut nach ihrem Namen fragte und sie ansah, als wäre sie eine Fremde, schmunzelte sie zufrieden in sich hinein. So sollte es sein, so sollte es bleiben.

Die Taktik funktionierte auch deshalb so gut, weil nicht wenige von ihnen lieber über sich selbst redeten, als ihrem Gegenüber zuzuhören. Auch für Hector, der seit einer Woche die Nachtschicht leitete, war Orla im Grunde nur eine Art Spiegel. Da er es als seine Pflicht ansah, seine im Dienste der Kingsleys erworbene Weisheit ungefragt mit ihr zu teilen, blieb ihr nur, stumm zu lächeln und zu nicken.

Während sie ihre Haare vor Badezimmerspiegel zurechtzupfte, dachte sie an seinen Vortrag zum Thema Teppichpflege. Seine Lobpreisungen der Bonnet-Methode in Abgrenzung zur Sprühextraktion waren regengleich auf sie niedergeprasselt, ohne dass sie eine Chance gehabt hatte, sich irgendwo unterzustellen. Doch trotz der vielen schlauen Worte, mit denen er ständig um sich warf, hatte Hector keine Antwort auf die Frage, welche seiner Methoden bei eingebrannten Schuhsohlen half. Er bezweifelte, dass so ein Szenario realistisch war – wie um alles in der Welt sollte sich eine Gummisohle in einen Teppich brennen können. Orla hatte ihn um seine Unbeschwertheit beneidet und deshalb beschlossen, ihn im Glauben zu lassen, dass es sich um eine hypothetische Frage handelte.

Hector war einer von den Netten, keine Frage. Wenn beim Jonglieren der vielen Aufgaben etwas durcheinander kam, war er zur Stelle, um Orla wieder in den richtigen Rhythmus zu helfen. Doch seine Belehrungen, die seinen Weg als den einzig richtigen priesen, erinnerten sie auf unangenehm Art an ihren Kollegen Fitzsimmons. 

Seufzend blickte sie in den Spiegel. Hätte sie sich ohne den Grogon-Eklat jemals auf diese alberne Mission eingelassen? Eine Mission, die letztendlich – da gab sie sich keiner Illusion hin – einer Degradierung gleichkam? 

Vermutlich nicht. 

Sie steckte die letzte Haarsträhne fest und zwang sich zu einem Lächeln. Wäre der Einsatz bei Grogon erfolgreich verlaufen, hätten ihr alle Türen der APA offen gestanden. Sie hätte sich ihre Fälle aussuchen können. Vielleicht wäre ihr sogar die Leitung eines eigenen Ermittlerteams übertragen worden. Stattdessen war sie dazu verdammt, sich über jeden noch so kleinen Knochen zu freuen, den man ihr vor die Füße warf, während Fitzsimmons quasi aus Versehen die Karriereleiter hochgestolpert war. 

Ein hektisches Kratzen am Fenster ließ sie aufhorchen. Zunächst vermutete sie ein paar Zweige, die der Wind gegen die Scheibe peitschte, doch dafür klang es zu fordernd. Als sie sich hinüberlehnte und das Fenster öffnete, purzelte ihr ein grau-braunes Fellknäuel mit Ringelschwanz entgegen. Es landete auf dem Boden und zwinkerte sie durch seine Räubermaske an.

Orla sah auf die Uhr. »Waren wir für heute verabredet?«

Mit einem sportlichen Satz, der für seine Körperfülle erstaunlich war, sprang der Waschbär in die Dusche, setzte sich buddhagleich auf sein Hinterteil und fuhr mit der linken gekrümmten Pfote mehrmals vom Ohr abwärts über die Schnauze, als würde er sich putzen. Dabei fiel ein Stoffsäckchen, das er im Maul hatte, zwischen seine Füße. 

Hastig sprang Orla zur Tür und schloss sie von innen ab. »Ich habe eigentlich gar keine Zeit. Mein Dienst fängt gleich …« Als sie sich zur Dusche drehte, bekam sie ein Begrüßungslächeln geschenkt. 

»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Mo«, sagte Doyle. 

»Was willst du?«

»Mir geht es gut. Danke der Nachfrage.« 

»Doyle, wir haben uns vor zwei Tagen gesehen.«

»Ja, und? Binnen zwei Tagen können ganze Gesellschaftsordnungen zusammenbrechen. Juanita hat innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein perfides Mordkomplott geschmiedet, jemand anderes dafür ins Gefängnis gebracht und den Mann ihrer Träume geheiratet.«

»Juanita ist auch den Serientod gestorben und auf wundersame Weise mit einem völlig anderen Gesicht wieder auferstanden.«

»Es ging mir ums Prinzip.«

»Also gut«, sagte Orla und rollte mit den Augen. »Wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen, liebster Kompagnon?«

»Sehr gut. Nett, dass du fragst.«

»Neues Outfit?« Sie musterte Doyles Funktionsanzug, der trotz dunkler Farbe und der neuen Verstärkungen an Schultern und Schienbeinen noch immer stark an die Uniform eines Sechzigerjahre Raumschiffkommandeurs erinnerte. Den Spitznamen Admiral Sternschnuppe würde er so schnell nicht loswerden. 

»Frisch aus dem Labor.« Stolz drehte sich Doyle einmal im Kreis. »Ultraflexibel und bequem wie eine zweite Haut.«

»Was war denn an der alten Uniform verkehrt?«, fragte Orla.

»Die hat gekratzt wie Espenlaub.«

»Espenlaub zittert.«

»Meinetwegen. Das auch. Auf jeden Fall war sie nichts für meine sensible Formwandlerhaut. Und na ja, auf die altmodische Art zu shiften, war keine richtige Alternative.«

»Sehr rücksichtsvoll, dass du davon abgesehen hast, hier ganz ohne Klamotten aufzutauchen.«

»Nackt lässt es sich immer so schlecht konspirieren«, sagte Doyle und kicherte wie ein Kleinkind.

»Ganz genau.«

»Wobei … damals bei den alten Griechen…« Er hob den Zeigefinger, doch bevor er fortfahren konnte, hatte Orla nach der Rolle Klopapier neben sich gegriffen und sie ihm an den Kopf geworfen.

»Komm zum Punkt. Warum bist du hier?« 

Doyle bückte sich und hob das Säckchen auf, das er mitgebracht hatte.

»Ist das?« Ungeduldig riss Orla ihm den Beutel aus der Hand.

»Die Jungs haben abgeliefert.«

»Das ging schnell!« Sie holte das Duplikat der Pager-Uhr hervor und hielt es neben das Original an ihrem Handgelenk. »Perfekt!« 

»Du musst dir nur gut überlegen, wie du das mit der alten Uhr handhabst«, sagte Doyle. »Der GPS-Tracker sendet ja noch. Wenn du ihn einfach hier im Zimmer liegen lässt, wirkt das irgendwann verdächtig.«

»Ich lass mir was einfallen.« Sie band sich die Kopie um und hielt den Arm freudig in die Luft. 

»Das Teil hat wohl auch eine Mini-Kamera«, sagte Doyle.

»Gute Idee. Auch wenn die Kingsleys schwerer vor die Linse zu bekommen sind als Bigfoot.« 

»Du hast doch wohl nicht erwartet, dass sie dir einfach so vor die Füße fallen?«

»Nein, natürlich nicht.« Orla seufzte. »Ich konnte ja mein Glück selbst kaum fassen, als ich Cyrus gleich am ersten Tag gegenüberstand.« Sie lehnte sich gegen das Waschbecken. »Umso ärgerlicher, dass ich nichts aus der Situation mitnehmen konnte, außer vielleicht der Bestätigung, dass unser Hauptverdächtiger tatsächlich ein übler Kerl ist.«

»Deshalb ist es auch so wichtig, dass du bei allem, was du tust, besondere Vorsicht walten lässt. Ich will dich nicht eines Tages als Aschehaufen auf dem Boden finden.«

»Wirst du nicht.«

»Ich meine es ernst, Mo. Keine riskanten Manöver.«

»Zu Befehl, Admiral … Sir!« Orla hielt die Hand zum militärischen Gruß an die Stirn.

»Du hast gehört, was Blake gesagt hat. Augen und Ohren offen halten. Mehr nicht.« 

»Was soll das bringen, wenn sich unsere Zielpersonen hinter verschlossenen Türen verstecken? Vielleicht hättet die APA lieber jemanden mit Röntgenblick reinschicken sollen.«

»Du wirst deine Chance bekommen. Und dann wirst du sie zu nutzen wissen«, sagte Doyle. »Du liebst doch Herausforderungen.«

»Apropos Herausforderungen«, sagte Orla und warf einen letzten Blick in den Spiegel, um ihre Uniform auf Diensttauglichkeit zu prüfen. »Wie geht es eigentlich Roscoe?«

»Er wächst und gedeiht.« Doyle zeigte das stolze Lächeln eines Vaters. »Also vor allem wächst er. Langsam werde ich mich wohl nach einer größeren Wohnung umsehen müssen.«

»Du meinst es wirklich ernst mit diesem K9-Ding, was?«

»Du glaubst gar nicht wie ernst.« In seinem Blick lag eine Lebendigkeit, die Orla seit Ewigkeiten nicht mehr bei ihm gesehen hatte. »Mein Leben lang habe ich nach einer Bestimmung gesucht«, sagte er. »Jetzt habe ich sie gefunden.« 

»Dann ist das wirklich unser letzter gemeinsamer Einsatz?« Orla biss sich auf die Zunge. Es war nicht ihre Absicht, dramatisch zu sein, doch der Gedanke, ohne ihn weitermachen zu müssen, wollte ihr so wenig passen wie ein zu kleines Paar Schuhe. Jedes Mal, wenn sie es probierte, drückte es fürchterlich.

Doyle senkte den Blick und Orla schien es fast so, als könne sie die zwei Herzen, die in seiner Brust schlugen, wirklich sehen. 

»Agent Doyle bekommt sein eigenes Spin-off«, sagte sie, um die Situation leichter für ihn zu machen. »Ich freu mich für dich. Wirklich.«

»Dein Sidekick wird flügge.« 

»Du warst nie mein Sidekick, das weißt du hoffentlich«, sagte Orla. »Du warst mein Anker, mein Motor, … mein … Sekundenkleber, der alles zusammenhielt.« Sie verzog entschuldigend das Gesicht. »Und du warst auch immer der mit dem besseren Gespür für Metaphern. Ich weiß gar nicht, wie ich ohne dich …« Sie stockte. »Entschuldige, ich bin einfach schlecht in solchen Dingen ….« Es ärgerte sie, dass ihr in diesem Moment nur abgedroschene Phrasen einfielen. 

»Du wirst mir auch fehlen, mein kleiner Einsiedlerkrebs.« Doyle nahm sie in den Arm.

»Ich dachte immer, ich bin die Seeanemone«, nuschelte Orla in seine Schulter.

»Orlanna?« Nells Stimme drang durch die Badezimmertür. »Wo bleibst du denn?«

Orla verharrte in vollkommener Stille und lauschte. Wenn Nell dachte, sie sei schon fort, würde sie vielleicht von selbst wieder gehen. 

»Bist du da drin?« Das hektische Klappern der Türklinke zerstörte diese Hoffnung in Sekundenschnelle. »Unsere Schicht geht los.«

»Einen Moment«, rief Orla und sah sich nach Doyle um. Doch der war verschwunden. Hastig ließ sie das Original der Uhr in ihre Kitteltasche gleiten, bevor sie ihrer Zimmergenossin öffnete.

»Hector wartet bestimmt schon …« Nell fiel praktisch durch die Tür herein, schob sich an ihr vorbei und begann das Bad abzusuchen. »Sag mal, hast du mein Glücksarmband gesehen? Ich hab es vorhin …« Ihr Blick fiel auf die Rolle Klopapier am Boden. »Wieso liegt denn …?« 

Bevor Orla etwas entgegnen konnte, stieß Nell einen spitzen Schrei aus.

Blitzschnell griff sie nach dem Duschkopf und zielte auf etwas Schwarzes, das die Fliesen entlang krabbelte. »Schnell! Dreh das Wasser auf!«

 Orla dachte an Doyle und daran, dass sie keinen pummeligen Waschbären aus dem Badfenster hatte flüchten sehen. 

»Warte!«, rief sie erschrocken. 

Doch Nell war offenbar fest entschlossen, das achtbeinige Minimonster den Abfluss hinunterzuspülen und griff selbst nach dem Wasserhahn. »Ich hasse Spinnen!«

»Nicht!«, rief Orla. »Das ist …« Vielleicht mein bester Freund. Ein lieber Kerl. Du würdest ihn mögen. Wir könnten uns alle mal auf einen Kaffee treffen, wenn das hier vorbei ist und du ihn nicht in der Kanalisation ertränkt hast. Den Vielleicht-Doyle im Blick versuchte Orla, ihre Zimmergenossin zu entwaffnen und das, ohne sich als nahkampferprobt zu outen.

»Sie kommt genau auf mich zu.« Nell sprang einen Schritt zurück und richtete den Wasserstrahl auf die Spinne. Panik zuckte in ihren Augen.

»Lass mich das machen.« Orla riss ihr den Duschkopf aus der Hand und stellte das Wasser ab. Für ein paar Sekunden atmeten beide durch.

»Ich kann nichts dafür«, sagte Nell schließlich, als wäre sie gerade aus einer Art Trance erwacht. »Alles, was mehr als vier Beine hat, lässt bei mir die Sicherungen durchbrennen.« 

»Mehr als vier?«, fragte Orla und zwinkerte ihr zu. »Also bin da schon viel früher argwöhnisch. Was ist mit Pinguinen? So wie die durch die Gegend watscheln, muss man einfach misstrauisch werden. Niemand kommt so weit in der Evolution, wenn er so tollpatschig ist. Oder Delfine! Gar keine Füße im klassischen Sinne, aber ein super-manipulatives Lachen, mit dem sie dich in Sicherheit wiegen wollen. Mir machen die nichts vor.«

»Jetzt, wo du es sagst.«

»Hamster!« Orla nahm Nells Lächeln als Aufforderung, weiterzumachen. »Was hast du da in deinen Backen versteckt? Sag schon, was verheimlichst du mir?«

»Wie gut, dass sich keiner von denen in unser Bad verirrt hat.«

»Wenn, dann müsstest du das klären.« Orla hob die Hände wie zur Kapitulation. »Ich nähere mich denen keinen Zentimeter.«

»Abgemacht«, antwortete Nell – nur, um im nächsten Moment erschrocken die Augen aufzureißen. »Hector!«

»Oh, ja, richtig. Der wartet bestimmt schon ungeduldig auf sein Publikum. Mal gucken, welche spannende Präsentation er heute vorbereitet hat.«

»Ach, Orla, … du tust ihm Unrecht.« Nell stupste sie an und tänzelte durch die Badezimmertür hinaus. »Er will doch nur helfen. Und er ist wirklich gut in dem, was er tut.«

»Das glaube ich gerne. Wenn er sich nur weniger wie diese Werbefenster verhalten würde, die immer überall ungefragt aufploppen, wenn man eigentlich nur kurz etwas im Internet recherchieren will.« Mit den Augen suchte Orla ein letztes Mal das Bad nach der Spinne ab. 

»Ich gebe zu, ich bin nur selten im Internet«, hörte sie Nell sagen. »Das ist mir alles viel zu laut und zu voll.«

Manchmal wirkte Nell wie jemand, der durch ein Zeitloch in unsere Welt gefallen war und gar nicht so recht hierher passte. Die Art, wie sie das Internet beschrieb, als wäre es ein überfüllter Highway, den sie nicht benutzen wollte, aus Furcht unter die Räder zu kommen, ließ Orla gleichsam seufzen und schmunzeln.

»Alles ein Segen und ein Fluch irgendwie«, antwortete sie, bevor sie mit einem geflüsterten »Entschuldige« in die Richtung, in der sie Doyle vermutete, das Licht im Bad ausknipste.