Das mit der Strafarbeit hatte sich schneller erledigt als erwartet. Nach nur wenigen Tagen durfte Orla die Waschküche wieder verlassen und in den Putzdienst zurückwechseln. Denn wie von Madame Mildred prophezeit, flüsterte der Flurfunk heiser, dass Cilla nicht mehr länger Gast des Hauses Thornwood war.
So ganz wollte Orla nicht glauben, dass der Spuk ein Ende finden sollte; dass die Dämonin den Zwist mit ihr vergessen hatte. Die Sorge, ihr doch noch in die Falle zu gehen, war nur schwer abzuschütteln, weshalb Orla lieber wachsam geblieben war. Irgendwann hatte sie jedoch realisiert, dass es weniger die Furcht vor Rache war, die sie auf jedes Geräusch und jeden Schatten achten ließ, sondern eine Art pervertierte Vorfreude. Darauf, herausgefordert zu werden, sich beweisen zu können.
Darauf, gesehen zu werden.
Dass sie einfach nicht wichtig genug war, blieb eine bittere Pille, die sie nur widerwillig schluckte. Lieber redete sie sich ein, dass Cilla einfach zu lange an ihren ausgeklügelten Racheplänen getüftelt und nicht mehr die Chance bekommen hatte, sich zu rächen, weil sie von den Kingsleys vor die Tür gesetzt worden war. Ein kleines Ammenmärchen, das sie jedes Mal versöhnlich schmunzeln ließ, wenn sie es im Kopf durchspielte. So gelang es ihr langsam, mit dem Kapitel Cilla abzuschließen.
Der Vorteil, sich nun wieder ungestört auf die Ermittlungen konzentrieren zu können, war zudem nicht von der Hand zu weisen. Um die wertvolle Zeit, die sie im Strafexil verloren hatte, wettzumachen, ging Orla deshalb in der ersten Nacht ihrer neugewonnenen Freiheit besonders eifrig an die Arbeit und meldete sich für die große Runde.
Hector hatte frei, sodass sie keinen Überwacher fürchten musste, und Nell war zu einem Einsatz abkommandiert worden, über den sie beim Aufbruch gegen Mitternacht seltsamerweise kein Wort verlieren wollte. Sichtlich froh darüber, dass ihr jemand die Hauptrunde abnahm, hatte sie sich auf unbestimmte Zeit in die Nacht verabschiedet, ohne genau zu sagen, wohin.
Orla hatte überlegt, ihr zu folgen, entschied dann aber, beim ursprünglichen Plan zu bleiben und auf Entdeckungstour zu gehen – in all die entlegenen Winkel des Hauses, in die sie es bisher noch nicht geschafft hatte.
Den Grundriss von Thornwood hatte sie während ihrer unfreiwilligen Auszeit nur zu etwa zwei Dritteln fertigstellen können. Nun galt es, die weißen Flecken auf der Karte zu erkunden und herauszufinden, was sich hinter den restlichen Türen verbarg. Ihr Putzwagen bot dabei die perfekte Tarnung.
Langsam schob sie ihn durch die verlassenen Gänge, notierte sich tote Winkel und abgeschlossene Türen und vergaß dabei nicht, zwischendurch den Staubwedel zu schwingen, um keinen Verdacht zu erregen. Auch wenn höchstens eine Handvoll Leute im Haus unterwegs waren und es unwahrscheinlich war, dass sie jemand bei ihren Unternehmungen beobachtete, ging sie lieber auf Nummer sicher.
Die wichtigsten Zimmer auf Thornwood glaubte sie, identifiziert zu haben. Sie wusste, wo die Privatgemächer der Familie lagen und wo sich die Büros von Lucinda und Cyrus befanden. Auf diese Orte würden sich die Ermittlungen fokussieren. Da sie unbegleitet keinen Zutritt zu den Bereichen hatte, war ihr die Idee gekommen, es zunächst über angrenzende oder darüberliegende Räume zu versuchen, die nicht so gut gesichert waren. Vielleicht ließ sich ein NanoBug im Luftschacht platzieren, der – darauf programmiert, Stimmen zu folgen – seinen eigenen Weg in die Büros finden würde. In den letzten Jahren hatte es zwar immer wieder Probleme mit den Krabblern gegeben, weil sie sich gerne verliefen, doch jeder Wortfetzen, den sie aufschnappten, war besser als gar keine Informationen.
Eines der Zimmer, das für diese Aktion am ehesten infrage kam, lag strategisch perfekt zwischen den Privatgemächern von Lucinda Kingsley und ihrem Büro. Den Gerüchten nach versteckte sich hinter der Tür eine Privatbibliothek und Orla brannte darauf, sich dort ausgiebiger umzusehen. Eine abgeschlossene Holztür würde ihr dabei nicht im Wege stehen, so opulent sie auch wirkte.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sie allein war, holte sie Spanner und Haken aus der Tasche und schob beides nacheinander in den Schlüsselkanal des Schlosskerns.
Schon als Jugendliche hatte sie diese Art Hindernisse eher als Herausforderung gesehen. Angefangen mit dem Spind des Klassentyrannen, den sie heimlich geknackt und mit einer Coladosen-Stinkbombe dekoriert hatte. Der üble Gestank der Ei-Milch-Essig-Gärung hatte noch Tage später die Luft verpestet und dem Besitzer den Spitznamen Stinky Steve eingebracht. Auch die Tür zum Dach des Schwimmbades war kein Problem gewesen. Nächtelang hatte sie dort gesessen und auf die Lichter der Stadt geblickt.
Dank jahrelanger Übung dauerte es nur ein paar Sekunden, bis das Schloss nachgab, und die Tür sich öffnen ließ.
Den Blick auf den Flur gerichtet, schob Orla ihren Putzwagen rückwärts in den dunklen Raum. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass sie jemand auf unbefugtem Terrain erwischte, würde sie das verwirrte Hausmädchen spielen, das sich fälschlicherweise an einem Ort verlaufen hatte, der eigentlich nicht in ihrer Zuständigkeit lag. Das konnte schon mal passieren, wenn man neu war. Wer würde bei den vielen Zimmern nicht durcheinander kommen?
Orla tastete im Dunkeln nach dem Lichtschalter und ihr Blick wanderte automatisch nach oben zur Deckenlampe. Die warm leuchtenden Glühbirnen waren von einem rustikalen Kugelkäfig umgeben, der an Ketten hing. Als hätte jemand der Sonne ein Gefängnis gebaut, dachte Orla und trat einen Schritt näher. Getragen wurde das Ganze von vier Krähen, die in unterschiedliche Richtungen zu fliegen schienen und deshalb nicht vom Fleck kamen. Ob diese Deckenlampe auch bei anderen solche Beklemmungen auslöste?
Nur zögerlich löste sie ihren Blick von der Lampe und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Regale. Eine Bücherwand dieser Größe hatte sie zuletzt in der öffentlichen Bibliothek ihrer Heimatstadt gesehen. Bis unter die Decke zogen sich die Büchersammlungen und die alten Schwarten schienen zu Hunderten nach ihr zu rufen.
Als Kind hatte sie ihre Tage am liebsten mit Büchern verbracht. Die Bibliothek war ihr zweites Zuhause geworden – in einer Zeit, in der sie immer wieder vor der erdrückenden Stille in ihrem eigentlichen Zuhause geflohen war. Hier hatte sie stundenlang an einem der Regale gelehnt auf dem Boden gesessen und war Alice in den Kaninchenbau gefolgt, mit Huckleberry Finn auf große Fahrt über den Mississippi gegangen und durch den Kleiderschrank nach Narnia gelangt, während die echte Welt da draußen in Scherben lag. Der Anblick von Büchern hatte seitdem stets etwas Wohltuendes, etwas Beruhigendes. Auch heute noch verbrachte sie ihre Freizeit lieber mit einer guten Lektüre als mit ihren Mitmenschen – Doyle ausgenommen.
Orla konnte sich nicht sattsehen an den sorgfältig nebeneinander aufgereihten Einbänden – all die bunten Bauteile einer Zeitreisemaschine, die sie zur Flucht in andere Welten einlud. Doch ein Eulenschrei aus der Dunkelheit vor dem Fenster erinnerte sie daran, dass sie nicht zum Vergnügen hier war.
Nachdem sie sich kurz im Zimmer umgesehen und in Bezug auf die beiden Nachbarräume orientiert hatte, entschied sie sich, die oberen Ecken mithilfe der Bücherleiter auszukundschaften, die man praktischerweise von einer Seite des Regals zur anderen schieben konnte. Die Versuchung war groß, die Buchladen-Szene aus »Die Schöne und das Biest« nachzuspielen, in der Belle glückselig an ihren geliebten Büchern vorbeirollte. Doch sie war nicht die Schöne und dies war auch kein Disneyfilm, in dem Probleme in Zuckerguss-Kitsch ertränkt und unter heiter geträllerten Liedchen begraben wurden. Also schob Orla die Leiter in eine Ecke des Zimmers, kletterte hinauf und versuchte, mit der Hand hinter das Regal zu kommen, um eventuelle Lüftungsverbindungen zu den Nachbarzimmern zu ertasten.
Doch sie war zu klein.
Kurzerhand holte sie ihr Feuerzeug aus der Kittelschürze, klappte es auf und hielt es über den Spalt zwischen Wand und Regal. Als die Flamme hektisch zuckte, lächelte sie zufrieden. Es gab also tatsächlichen einen Lüftungsschlitz irgendwo dahinter, in den sie den NanoBug setzen konnte.
Während sie in der Schürzentasche nach der Wanze kramte, fiel ihr Blick auf die Regalreihe vor ihr. Dickens, Dostojewski, Flaubert – sie waren alle da. Orla zog ein dickes Buch zu ihrer Linken heraus, das trotz seines schlichten Einbandes ihr Interesse geweckt hatte. Zu ihrem Erstaunen hielt sie eine Erstausgabe von »Moby Dick« aus dem Jahre 1851 in den Händen. Ehrfürchtig fuhr sie mit ihren Fingern über die vergilbten Seiten. Erst vor kurzem hatte sie gelesen, dass es nur noch wenige Erstausgaben dieses Romans gab, da ein Großteil zwei Jahre nach Erscheinen einem Brand zum Opfer gefallen war. Dieses Exemplar musste mehrere Zehntausend Dollar wert sein. Vorsichtig stellte sie das Buch zurück in das Regal. Auch »Bel Ami« erwies sich nach näherer Überprüfung als Erstausgabe, die Maupassant sogar persönlich signiert hatte.
Für einen Moment erwischte sich Orla dabei, den Kingsleys wenigstens in dieser Hinsicht ein paar Sympathiepunkte geben zu wollen. Wertpapiere dieser Art waren ganz nach ihrem Geschmack und so viel lebendiger als kalte Edelmetalle oder schnöder Mammon.
Sie nahm »Schuld und Sühne« aus dem Regal und blätterte durch das Buch. Der Geruch war ihr sofort vertraut: grasig, leicht säuerlich, mit einem Hauch Vanille. Sie hielt das Buch an ihre Nase und sog den Duft mit geschlossenen Augen ein. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihren Körper.
Zu Hause.