6 Thornwood

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Der Wachmann am Einlass von Thornwood begrüßte Orla mit dem Charme eines stümperhaft programmierten Serviceroboters, dessen Sprachmodul im Laufe der Jahre eingerostet war. Nachdem er das Einstellungsschreiben ihres zukünftigen Arbeitgebergebers auf Echtheit geprüft hatte, forderte er sie in ruppigem Ton auf, ihren Koffer auf den Tresen des Pförtnerhäuschens zu stellen und zu öffnen. Vermutlich war er verärgert, dass sie ihn bei seinem Frühstück gestört hatte – der frische Mayonnaise-Fleck auf seinem Uniformkragen und die Weißbrot-Krümel, die von seinem Hemd rieselten, als er sich vorbeugte, legten diesen Verdacht zumindest nah. Vielleicht war er auch einfach übernächtigt. Das erzählten ihr zumindest sein glasiger Blick und seine geröteten Augen. 

Letztendlich waren ihr die Gründe für seine Laune jedoch herzlich egal. Viel interessanter fand sie die Information, dass es noch mindestens einen weiteren Wachmann oder eine Wachfrau in dieser Schicht gab – ein Schluss, den die zweite Thermoskanne und eine Lunchbox im Regal nahelegte. Allem Anschein nach drehte der- oder diejenige gerade eine Kontrollrunde mit dem Wachhund, dem der XXL-Napf in der Ecke gehörte. 

Für ein so großes Gelände wie Thornwood erschien ihr die geringe Anzahl an Wachpersonal seltsam optimistisch kalkuliert. Existierten weitere Posten in anderen Ecken des Areals? Wie sahen die einzelnen Routen aus? War die Nachtschicht stärker besetzt als die am Tage? Wie oft wurde gewechselt und welche Zeitfenster ergaben sich daraus? Für den Fall, dass Orla gezwungen sein würde, außerhalb des Gebäudekomplexes auf Erkundungstour zu gehen, mussten diese Sicherheitsfragen vorab geklärt werden. Die Treffen mit Doyle ließen sich ebenfalls besser planen, wenn sie wussten, ob es neben technischer auch paranormale Unterstützung gab, um das Gelände überwachen zu können. 

Aufmerksam beobachtete Orla, wie Dave – den Namen hatte ihr das kleine Schild an seiner Brust verraten – ihre Sachen durchwühlte. Viel hatte sie nicht dabei, denn den Bediensteten der Kingsleys wurde so gut wie alles gestellt und nur wenig Persönliches erlaubt. Unter ihren Habseligkeiten versteckte sich jedoch auch heikle Schmuggelware aus dem APA-Techniklabor, die unangenehme Fragen und gegebenenfalls einen Alarm nach sich ziehen würde, falls Dave sie fand. Orla hätte ihm ungern wehgetan, selbst wenn er sie so unfreundlich behandelte. 

Routiniert suchte Dave im Koffer nach geheimen Fächern und unerlaubten Mitbringseln. Doch Garrett und Jones hatten bei der Tarnung der Gadgets wie immer ganze Arbeit geleistet. Dem Kugelschreiber, der in Wahrheit ein Micro-Scanner war, schenkte er keine Beachtung. Auch der Lippenstift, in dessen Hülle sich ein Voice-Recorder versteckte, interessierte ihn nicht. Lediglich der als antikes Feuerzeug getarnte USB-Stick schien seine Aufmerksamkeit zu erregen. Orla hielt die Luft an, als er das aufwendig verzierte Artefakt aufklappte. Sie hatte nicht geprüft, ob es tatsächlich funktionierte. Umso erleichterter war sie, als eine kleine Flamme aufloderte. 

Dave schien dennoch ein Problem zu haben. Sein grimmiger Blick wechselte vom Feuerzeug zu Orla, zurück zum Feuerzeug und schließlich zur Wand hinter ihr. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie das Schild mit der durchgestrichenen Zigarette. 

»Gilt auf dem gesamten Gelände«, hörte sie Dave murmeln.

»Oh … ja, klar. Entschuldigung.« Auch wenn der Wachmann immun gegen Freundlichkeit zu sein schien, lächelte Orla ihm zu und nahm ihm zaghaft das Feuerzeug aus der Hand, bevor er noch auf die Idee kam, es zu konfiszieren. »Reine Sentimentalität«, sagte sie. »Ist ein Erbstück.«

Dave wühlte unmotiviert durch den Rest des Koffers, und erinnerte dabei an einen Schaufelbagger, der sich mechanisch durch einen Haufen Sand grub. Er schien das nicht aus Sorgfalt zu machen, sondern vielmehr wegen der Kameras über ihren Köpfen. Lieber einmal mehr schaufeln, um wenigsten den Anschein zu erwecken, man würde den Job ernst nehmen. 

»Vortreten und Arme ausbreiten!« Der Schwung, mit dem Dave den Koffer zuknallte, wollte so gar nicht zu seiner bisherigen Lethargie passen. Es wirkte ein wenig, als hätte sein Körper realisiert, dass er zu lange über Autopilot gelaufen war und beschlossen, seinem Gehirn mit dem Knall zu signalisieren, dass es Zeit war, aufzuwachen. Vergeblich. 

Roboterhaft griff der Wachmann ins Regal, nahm einen Metalldetektor heraus und baute sich damit unangenehm nah vor Orla auf. Sein pseudodominantes Gehabe nervte und amüsierte sie zugleich, denn Dave überschätzte sich gewaltig. Während er mit dem Detektor ihre Körperlinien nachzeichnete, senkte sie in gespielter Fügsamkeit den Kopf, wohlwissend, dass er im Ernstfall keine Chance gegen sie hätte. Drei Griffe und ein gezielter Tritt würden genügen, um ihn außer Gefecht zu setzen. 

Als der Detektor plötzlich an ihrer linken Schulter Alarm schlug, bedachte Dave sie mit einem fragenden Blick.

»Fractura caput humeri«, beeilte Orla sich zu sagen. »Skiunfall.« Dass sie die Titanplatte in ihrer Schulter einem schlecht gelaunten Moor-Koloss namens Olur zu verdanken hatte, dessen felsbrockengroßer Faust sie nur mit einem Trick entkommen war, verschwieg sie lieber – auch wenn sie in dem Moment gerne Daves Gesicht gesehen hätte. Doch vermutlich wusste er nicht einmal, dass Moorkolosse überhaupt existierten, denn normalerweise schaffte es keiner von ihnen hinüber in die Menschenwelt. Also ließ sie ihn ahnungslos und in seiner Trägheit schwimmend zum Tresen zurückkehren. 

Während er etwas in den Computer tippte, überlegte sie, ob es irgendetwas auf der Welt gab, das ihn aus seinem Trott brachte. Legte er nach Feierabend die Uniform ab und verwandelte sich in einen völlig anderen Dave? Drehte er die Musik im Auto laut auf, um zu headbangen? Betrauerte er die Niederlage seiner Lieblingsmannschaft? 

Vielleicht gehörte er auch einfach zu der Sorte Mensch, die ihr Leben wie eine Pflichtveranstaltung absolvierte und Gefühle als unnötiges Laster empfand, das man sich aus praktischen Gründen abgewöhnt hatte. Zu zeitaufwendig, zu teuer, zu kompliziert. 

In gewisser Weise konnte Orla verstehen, dass manche es vorzogen, alles, was ihnen im Alltag begegnete, unter einer fetten Schicht Gleichgültigkeit zu begraben. Auch sie hatte Momente erlebt, in denen es besser gewesen wäre, nichts zu fühlen. Die Dinge ohne Regung hinzunehmen, gerade wenn sie nicht zu ändern waren. In seinem Pyjama aus knitterfreier Apathie schlief der liebe Dave nachts vermutlich eine ordentliche Portion ruhiger als sie. Sorglos und unbeschwert, ohne einen Gedanken an das zu verschwenden, was gestern war oder morgen sein würde. 

Wenn der Preis für diese Gelassenheit jedoch darin bestand, dass man auch den Blick für das Schöne verlor und Glück zu einem abstrakten Konstrukt wurde, weil nichts im Leben mehr eine Bedeutung hatte, dann stellte sich die Frage nach dem Sinn. Denn was nutzte es, knitterfrei einzuschlafen, wenn es morgens nichts gab, wofür es sich lohnte aufzustehen.

Mit dem Elan eines Faultieres erstellte Dave einen Fotoausweis, den sie sich um den Hals hängen sollte. Wozu sie ihn brauchte, obwohl sie ein Einstellungsschreiben dabei hatte, blieb unbeantwortet. 

Regeln waren eben Regeln. 

Anstatt ihre Energie in Fragen zu stecken, die Dave sowieso ignorierte, vertrieb sich Orla die Wartezeit deshalb lieber mit dem Zählen der Kameras am Einlass. Eigentlich eine unnütze Information. Egal in welcher Form Doyle sie aufsuchen würde – keine Sicherheitskamera wäre in der Lage, ihn als Eindringling zu registrieren. Irgendwie musste sie jedoch ihr Gehirn beschäftigen, wenn sie es davor bewahren wollte, wie ein Eisberg unter schädlicher Strahlung zu schmelzen. 

Bis sie ihren Ausweis schließlich in den Händen hielt, vergingen noch einmal zwanzig Minuten, in denen Orla sich ernsthaft fragte, ob der Wachmann vielleicht doch ein Dämon war, der sich von der Lebensenergie anderer ernährte, indem er sie mit seiner Art zur Weißglut trieb. Als er sie wortlos durch das schmiede-eiserne Tor auf die Straße entließ, die vermutlich zum Haus der Kingsleys führte, beschleunigte sie ihren Schritt aus Sorge, er könnte sie wegen irgendeiner Formalie zurückpfeifen und die Tortur von vorne starten. 

Wo sie lang musste, wusste sie nicht. Von den majestätischen Mauern Thornwoods war von hier aus nichts zu sehen. Die Straße verlor sich in einer Wand aus knorrigen Bäumen und Gestrüpp. Nebelschwaden quollen dazwischen hervor und bahnten sich – bedrohlich schwelend wie stumme Geister – ihren Weg in Orlas Richtung. Doch sie würde sich davor hüten, noch einmal umzukehren und Dave nach dem Weg zu fragen.

Beeindruckt vom Aufwand, der hier ganz offensichtlich betrieben wurde, um ungebetene Gäste abzuschrecken, hielt Orla einen Moment inne, bevor sie dem Nebelflüstern in den Wald hinein folgte. 

Die Stille, die sie in Empfang nahm, schien nicht nur jeden ihrer Schritte zu schlucken – sie schien sich auch genüsslich von ihren Atemzügen zu nähren. Vergeblich versuchte Orla sich zu orientieren. Während sie am Einlass von Thornwood von Sonnenstrahlen gekitzelt worden war, herrschte hier nebelgetränkte Dämmerstimmung. Die Sicht so trüb wie durch eine beschlagene Fensterscheibe. 

Ein Säuseln schwirrte an ihrem Ohr vorbei, zart und kaum hörbar, dann immer lauter werdend, gefolgt von einem Knistern aus den Baumkronen über ihr und einem Rascheln zu ihren Füßen. Sie hielt inne und lauschte. Es war, als würde der Wald zum Leben erwachen und jedes Ächzen der Äste, jedes Heulen des Windes, jedes Knacken im Gebüsch schien zu rufen: Du bist hier nicht willkommen!

Orla schlug den Kragen ihrer Jacke hoch und umfasste den Griff ihres Koffers noch fester, bevor sie ihren Weg zwischen den bizarr gekrümmten Baumriesen fortsetzte, die mit den Armen nach ihr zu greifen schienen. 

So durchschaubar dieser Spuk auch war – er verfehlte seine Wirkung nicht. Mit gesenktem Blick tänzelte Orla um die Pfützen herum, die sich auf der Straße gebildet hatten – fest entschlossen, die Drohkulisse um sie herum zu ignorieren. Doch fühlte sie sich dabei wie ein Kaninchen, das jeden Moment damit rechnen musste, von oben gepackt und verschleppt zu werden. 

Als sich hinter einer Wegbiegung das vielversprechende Blau des Himmels am Horizont zeigte, glaubte Orla, das Gröbste geschafft zu haben. Umso enttäuschter musste sie feststellen, dass ihr der Weg durch eine Senke versperrt war, in der sich genug Regenwasser gesammelt hatte, um den Asphalt zu fluten und alles in einen kleinen See zu verwandeln. 

Es blieb nur der Umweg durch das Unterholz. Mit ihrem Koffer unterm Arm wagte sie sich durch flüsternde Farne und dornige Büsche. Sie bereute langsam, dass sie Wachmann Dave nicht nach einem Shuttle zum Anwesen gefragt hatte, auch wenn er vermutlich schulterzuckend mit einer Kaugummiblase geantwortet hätte. Der Wunsch, diesen Alptraumwald endlich hinter sich lassen zu können, beflügelte ihre Fantasie so sehr, dass sie hinter sich den Motor eines heranfahrenden Autos zu hören glaubte. 

Suchend blickte sie zur Straße. 

Der Nebel machte es unmöglich, etwas zu erkennen, das weiter entfernt war als ihre ausgestreckte Hand, doch das Brummen wurde immer lauter und schien sich in die gleiche Richtung wie sie zu bewegen. Eine Mitfahrgelegenheit für leidgeplagte Neuankömmlinge? Mühsam hievte Orla ihren Koffer über einen umgestürzten Baum, nur um ihn schließlich doch im Unterholz zurückzulassen, damit sie schneller zur Straße zurückstolpern und ihr Glück als Anhalterin versuchen konnte.

Eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben näherte sich der Senkung, doch anstatt das Tempo zu drosseln, rauschte sie durch den Tümpel auf dem Asphalt und an Orla vorbei. Die hatte gerade noch ihren Arm ausgestreckt, war aber nicht rechtzeitig in Deckung gegangen, um den Schwall Pfützenwasser auszuweichen, der sich jetzt über sie ergoss.

»Was zum …?« Fassungslos sah sie dem Wagen nach. »Dein Ernst?«, schrie sie aus voller Kehle und riss beide Mittelfinger hoch. Doch der Wagen war längst außer Sichtweite. Der Wald schluckte ihr Fluchen und bedachte sie im Gegenzug mit gehässigem Blätterrauschen. 

Orlas Blick wanderte zur Pfütze, die noch immer in kleinen Wogen vor sich hin tanzte. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Situation auch völlig anders hätte ausgehen können. Bei dieser Geschwindigkeit, der schlechten Sicht und den ungünstigen Straßenverhältnissen hätte ihr erster Arbeitstag mit ein wenig Pech ihr letzter werden können. Gemessen daran waren die Matschflecken auf ihrer Hose zwar ärgerlich und die Nässe, die sich wie ein Film über ihre Haut legte, unangenehm, aber alles in allem verkraftbar. Nachdem sie den schlimmsten Dreck abgewischt hatte, zog sie ihren Koffer aus dem Unterholz, nahm sich eine frische Jacke heraus und trat zähneknirschend den Rest des Weges an. 

Ihre Hoffnung, am Ende des Waldes das Anwesen der Kingsleys vorzufinden, wurde nur einige hundert Meter weiter enttäuscht. Auch wenn Thornwood nun deutlich sichtbar am Horizont aus den sattgrünen Wiesen emporragte, würde sie dorthin mindestens genauso lange brauchen wie für das Stück, das sie bereits zurückgelegt hatte.

Orla fragte sich, ob die beschwerliche Anreise Teil eines dubiosen Aufnahmerituals für Neulinge war. Welchen Grund sollte Dave sonst haben, sie ohne Vorwarnung auf diesen Gewaltmarsch zu schicken? Sollte sich jedoch irgendwann herausstellen, dass der Wachmann einfach aus reiner Boshaftigkeit gehandelt hatte, würde sie die Zeit finden, sich angemessen bei ihm zu bedanken.

Aus der Nähe betrachtet wirkte Thornwood noch imposanter als auf den Bildern der APA. Allein mit seiner Größe stellte das Herrenhaus alles in den Schatten, was Orla bisher in ihrem Leben gesehen hatte. Paläste dieser Art kannte sie nur aus Schauerromanen oder Mitternachtsdokus über historische Adelshäuser. 

Deshalb ließ sie es sich auch nicht nehmen, die Fassade ihres vorübergehenden Lebensmittelpunktes ausführlich in Augenschein zu nehmen. Schließlich wusste sie nicht, ob und wann sie noch einmal Gelegenheit dazu bekommen würde.

Eigentlich hatte man ihr gesagt, dass sie sich unter keinen Umständen an der Front des Haupthauses blicken lassen dürfe, denn dieser Bereich war den Herrschaften und ihren Gästen vorbehalten, doch Orla fand, dass sie nach dem langen Marsch eine Pause verdient hatte. Ein paar Minuten mehr oder weniger machten keinen Unterschied. Hier – abseits der Auffahrt im Schutz der alten Eiche – würde eh niemand Notiz von ihr nehmen.     

Sie legte ihren Kopf tief in den Nacken, um bis ganz nach oben zum Dach sehen zu können und entdeckte eine Art Terrasse unterhalb der Schindeln. Neugierig folgte sie dem purpurnen Efeu, der sich wie eine dekorative Schleife um das Terrassengeländer wickelte bis zu den Kuppeln rechts und links des Daches. Der Zahn der Zeit hatte die Türmchen mit dem typischen Grünschleier versehen, den man von alten Denkmälern kannte. Eine kleine Armee Gargoyles bewachte das Haus von der Regenrinne aus und Orla fragte sich, ob die Steinmonster nachts wohl ihre Fledermausflügel ausbreiteten und das Gelände aus der Luft observierten. 

Überhaupt hatte die Fassade viel von einer Märchenkulisse. Das Mahagonitor mit den Eisenbeschlägen, die verschnörkelten Fensterrahmen in den oberen Stockwerken, der friedlich plätschernde Brunnen vor dem Eingang – man erwartete fast schon, dass im nächsten Moment eine goldene Kutsche vorfuhr oder jemand ein Fenster öffnete, um sein Haar herunterzulassen.

Doch es blieb ruhig. Die Sandsteinmauern von Thornwood schwiegen in trügerischer Idylle, während sich Licht und Schatten auf der goldgelben Fassade des Hauses abwechselten. 

Und so setzte Orla ihren Weg Richtung Seitengebäude fort, um sich endlich ganz offiziell zum Dienstantritt zu melden. 

Die Kieselsteine unter ihren Füßen knirschten, als würden sie ihr zuflüstern. 

Nicht. Nicht. Nicht.