9 Nachtschatten

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Eine Stunde und diverse leere Schubladen später gab Orla enttäuscht auf. Das Zimmer war farbloser als befürchtet. Keine persönlichen Gegenstände, keine Schriftstücke, keine Bücher – nichts, das mehr über den Bewohner und seine Beziehung zur Familie hätte verraten können. Die einzige Information, die der Kleiderschrank geliefert hatte, war eine Vorliebe für die Farbe Schwarz und eine Abneigung gegen alles Ausgefallene. Der Rest des Zimmers war für die Ermittlungen in etwa so interessant wie ein leeres Blatt Papier. 

Das Persönlichste, das sie hatte finden können, war ein antiker Holzkasten mit der eingravierten Aufschrift Bataroi. Orla kannte das Spiel – den Kampf der Könige. Am einfachsten ließ es sich als eine Mischung aus Schach, Risiko und Schatzsuche beschreiben, mit dem Unterschied, dass die Figuren ein Eigenleben besaßen und man nie ganz sicher sein konnte, wer Feind und wer Verbündeter war. Doyle hatte schon oft versucht, ihr die komplizierten Regeln beizubringen – die mehr Hürden als Hilfen zu sein schienen – nur um selbst mehrfach daran zu scheitern. 

Wessen Armee wen wann mit welchen Tricks schlagen konnte, hing von einer Menge unberechenbarer Faktoren ab: verborgene Schätze, die wie Joker zu mehr Macht verhalfen, Tag- und Nachtzyklen, die Angriffe zum Stillstand bringen konnten, heimliche Allianzen auf Zeit und Verräter in den eigenen Reihen. Man hätte fast meinen können, dass es bei Bataroi eher um Glück als um Strategie ging, doch die hohe Kunst des Spiels bestand eben darin, all diese Variablen mitzudenken und so auf möglichst viele Widrigkeiten vorbereitet zu sein. Nur wer den Stich in den Rücken erwartete und deshalb besonders wachsam blieb, wer Niederlagen in Chancen umwandeln konnte und seinen Gegnern mehr als zwei Schritte voraus war, hatte die Aussicht, Bataroi einigermaßen zu beherrschen.          

Der Holzkasten stand griffbereit auf dem runden Tisch in der Lounge-Ecke, trotzdem war nicht klar, ob er dort lediglich dekorativ platziert worden war oder ob es sich bei Samael Kingsley tatsächlich um einen leidenschaftlichen Spieler handelte. Besonders aussagekräftig wäre der Hang zu dämonischen Brettspielen ohnehin nicht gewesen, doch zumindest hätte es dem Kingsley-Sohn etwas mehr Kontur gegeben. Aus dem blassen Geist wäre eine Art Glücksritter geworden, der es liebte, unkalkulierbare Risiken einzugehen. Jemand, der einen langen Atem hatte und das Ziel trotz aller Hindernisse nie aus den Augen verlor. 

Da alle Mutmaßungen in diese Richtung jedoch nur ein vages Stochern im Ungewissen blieben, hatte Orla bald eingesehen, dass es sinnvoller war, sich den Staubflusen und Spinnenweben im Zimmer zu widmen. Zu lüften, zu polieren und staubzuwedeln, wie es ihr von Hector aufgetragen worden war. Das Putzen tat erstaunlich gut, denn anstatt gedanklich auf der Stelle zu treten, konnte sie den Frust einfach wegwischen. Vielleicht würde sie diese Art der Copingstrategie für die eigenen vier Wände übernehmen. So würde wenigstens ihre Wohnung vom nächsten Streit mit Fitzsimmons profitieren.

 Sie war gerade dabei, dem kühlen Weiß des Waschbeckens den finalen Glanz zu verpassen, als sie nebenan eine Stimme hörte.

»Wirklich nett hier.« 

Überrascht hielt sie inne und lauschte Richtung Nebenzimmer. 

»Opulent und schlicht zugleich.« 

Es schien sich der Stimme nach um eine Frau zu handeln.

Auf Zehenspitzen schlich Orla zur Badezimmertür und warf einen Blick durch den Spalt. Die üppigen Blätter einer Zimmerpalme neben der Tür verdeckten große Teile der Sicht, sodass sie lediglich Fragmente erkannte, aber es war schnell klar, dass sich mindestens zwei Personen im Raum befanden. Vorsichtig drückte sie das grüne Ärgernis zur Seite, zuckte jedoch zurück, als die Pflanze sich mit Nadelspitzen gegen diesen Übergriff wehrte. Während Orla ihre Finger aneinander rieb, um den Schmerz zu stillen, versuchte sie die Eindringlinge im Auge zu behalten – so gut es eben durch eine Palmen-Jalousie ging. 

»Hier lässt es sich gut aushalten«, säuselte die Frau und tänzelte um ihren Begleiter herum. Die Art, wie sie sich bewegte, erinnerte Orla an einen Kraken. Sie schien mit ihren Armen überall gleichzeitig zu sein, immer darauf bedacht, den Mann in ihrer Nähe zu halten. Madame Mildreds Worte hallten ihr plötzlich im Ohr: Bedienstete unterschiedlichen Geschlechts waren angehalten, den nötigen Abstand einzuhalten, um unschöne Verstrickungen zu vermeiden. Wunderbar umständlich, aber eindeutig formuliert. Doch Gefühle folgten keinen Regeln, und wer Verbote aussprach, musste damit rechnen, dass sie fortan wie süße Früchte über den Köpfen der Betroffenen hingen. Was, wenn sich herum gesprochen hatte, dass man im Hades-Zimmer ungestört war? Ein besseres Ambiente für heimliche Treffen gab es wohl kaum in Thornwood. 

Die Fremde hatte ihren Rundgang durch das Zimmer beendet und ließ sich auf das Bett fallen. Sie war damit aus Orlas Blickfeld verschwunden und auch ihr Begleiter wurde durch die Pfeiler des Baldachins verdeckt. 

»Dieser Stoff ist wahrscheinlich mehr wert als alles, was ich an meinem Körper trage«, hörte sie die Frau sagen. »Ich fühle mich gleich so unwürdig.«

Die Kleidung der beiden wirkte in der Tat seltsam schäbig, so als hätten sie die letzten Wochen im Wald verbracht. Orla wunderte sich, dass Madame Mildred ihre Angestellten in der Freizeit so herumlaufen ließ. Beim Gedanken an die Unordnung, die die Fremde gerade auf dem von ihr frisch gemachten Bett hinterließ, verzog sie das Gesicht.

»Vermutlich ist es besser, wenn ich das hier ablege«, hörte sie die Frau wispern und glaubte ein nacktes Bein zu erkennen, das sich in Richtung des Mannes streckte. »Hilfst du mir dabei?« 

Die Szene hatte etwas Unangenehmes und wäre Orla nicht so genervt von den ungebetenen Gästen gewesen, hätte sie so etwas wie Mitleid mit der Frau empfunden, denn ihre seltsamen Verrenkungen schienen nicht sonderlich Eindruck auf ihr Gegenüber zu machen. Es war, als würde sie eine Marmorsäule verführen wollen. Der Mann stieg weder in das Gespräch ein, noch reagierte er anderweitig auf ihre Einladung. Stattdessen stand er stumm da – die Hände in den Taschen. Sein Gesicht konnte Orla nicht sehen, weshalb sie über seine Motive nur mutmaßen konnte. Vielleicht war ihm die ganz Sache nicht geheuer und er überlegte, welchen Fluchtweg es aus diesem Zimmer gab. Eventuell war er mit ihren Avancen überfordert. Womöglich irrte sie sich aber auch und er genoss einfach nur die Aussicht. Egal, was ihn zurückhielt, Orla wusste, dass sie diesen Moment nutzen und sich endlich bemerkbar machen musste, um dieser Farce ein Ende zu bereiten, bevor es für alle Anwesenden richtig unangenehm wurde. 

Gerade als sie sich aus ihrem Versteck wagen wollte, trat der Mann einen Schritt vom Bett weg und drehte sich in ihre Richtung. Und da erkannte sie ihn. Das Foto der APA war unscharf, doch die Gesichtszüge passten. Er hatte längere Haare als auf dem Bild, einen Dreitagebart und wirkte, als hätte er einige schlaflose Nächte hinter sich, aber er war es ohne Zweifel.

Hades war heimgekehrt.

Orla schreckte zurück und presste sich an die kalten Fliesen der Badezimmerwand. Mit geschlossenen Augen wünschte sie sich eben jenen Hadeshelm herbei, über den sie vorhin noch so geschmunzelt hatte. Wie sollte sie ihre Anwesenheit erklären? Wie die Tatsache rechtfertigen, dass sie sich nicht schon eher zu erkennen gegeben hatte? 

»Wie wäre es mit einem warmen Bad?«, hörte sie Samael Kingsley sagen und in ihren Ohren klang es wie eine Drohung. Orla schüttelte den Kopf, als könne sie dadurch irgendetwas abwenden. Doch seine Schritte kamen unaufhaltsam näher. Hastig schlüpfte sie in die Ecke hinter die Tür, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war und er sie spätestens beim Verlassen des Bades sehen würde. 

Die Tür öffnete sich bedrohlich. Bevor Orla jedoch ein letztes Stoßgebet gen Himmel schicken konnte, ließ ein Knall sie hochschrecken. 

»Wie ärgerlich«, hörte sie die Frau rufen. 

Was auch immer gerade zu Bruch gegangen war, hatte sie gerettet. Vorerst. Die Tür blieb halb offen stehen und die Schritte entfernten sich wieder.

Es dauerte einen Moment, bis Orla einen Blick durch den Türspalt wagte. Das Bett schien leer und das Gemurmel kam aus einer hinteren Ecke des Zimmers. Womöglich hatte sie gerade die letzte Chance bekommen, doch noch ungesehen davonzuschleichen. 

Sie musste nur schnell sein. Vom Bad waren es lediglich ein paar Meter bis zur rettenden Tür nach draußen. Jetzt oder nie, schoss es Orla durch den Kopf. 

Vorsichtig schob sie sich an der Stechpalme vorbei und huschte in feinster Phantom-Manier zum Kamin hinüber, um dort kurz zu verharren.

Samael Kingsley und seine Begleiterin standen mit dem Rücken zu ihr und betrachteten etwas auf dem Boden, das nur noch entfernt an ein Blumengesteck erinnerte. Vermutlich hatte ein Windzug die Porzellanschale zu Fall gebracht und in gewisser Weise war das Orlas Schuld, die wegen der Überraschungsgäste nicht dazugekommen war, das Fenster zu schließen.

»Ich werde jemanden rufen, der sich darum kümmert«, sagte der Dämon. Der Unmut in seiner Stimme befeuerte Orlas Schritte zusätzlich. Sie fixierte die rettende Tür und streckte den Arm nach der Klinke aus. Nur wenige Augenblicke trennten sie von der Freiheit. 

»Wer zum Teufel ist das?« Die Stimme der Frau traf sie mit der Wucht einer Gewehrkugel in den Rücken. »Was macht sie hier in deinem Zimmer?«

Orla erstarrte – wie ein Reh, wenn weder Flucht noch Angriff eine Option waren und es einfach hoffte, von den Wölfen übersehen zu werden. Doch die Bedrohung hatte sich längst vor ihr aufgebaut. Auch wenn sie zunächst nicht wagte, zu ihm aufzusehen, spürte sie, wie sich sein Schatten einem Bleimantel gleich über sie legte. 

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Sir …«, murmelte sie Richtung Fußboden. »Ich …« Welche Worte sie auch immer wählte, es würde ihn nicht beschwichtigen. »Ich bin schon weg.« 

Der devote Knicks gelang ihr noch, doch als sie sich an ihm vorbei schleichen wollte, verweigerten ihre Füße die Gefolgschaft. Es war, als hätte sie jemand in Beton gegossen.     

Irritiert schaute sie auf und bereute es sofort, denn Samael Kingsleys düsterer Blick ließ auch den Rest ihres Körpers einfrieren. Die Finsternis, die sich in seinen Pupillen zeigte, glich den Aschewolken eines Vulkans und Orla spürte mit jeder Sekunde, die sie in diesen Abgrund starrte, wie sie ein Stück von sich selbst verlor.

 Ihr schien, als würde alles, was sie je gefühlt hatte, alles Schöne, alles Blühende langsam absterben und von der Dunkelheit verschluckt werden. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Ihren Herzschlag hörte Orla nur noch dumpf und immer leiser werdend, als hätte jemand ein Glas darüber gestülpt. Den Takt schien der Dämon zu bestimmen. Anders konnte sie sich nicht erklären, dass ihr Herz von quälend langsam in den Galopp stolperte, nur um im nächsten Moment fast stehen zu bleiben.

Orla war in ihrer Zeit bei der APA schon einigen furchteinflößenden Paraviduals begegnet, aber dieser hier war ein ganz spezielles Kaliber.