10 Sensentanz

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»Sie wollten mich sprechen, Ma’am?« Orla blieb an der Schwelle des Büros stehen. Dass sie noch vor Dienstanfang hierher zitiert worden war, ließ die Alarmglocken schriller läuten als ihrem Kopf nach der ohnehin schlaflosen Nacht guttat. 

Was, wenn sich Samael Kingsley und seine Begleitung nun doch bei Madame Mildred beschwert hatten? Was, wenn diese Minuten – hier und jetzt – ihre letzten auf Thornwood waren? Sie bereute, nicht die Flucht nach vorne angetreten und ihre Vorgesetzte selbst über den Vorfall informiert zu haben. Die Tatsache, dass sie nichts gemeldet hatte, würde sie nur noch schuldiger aussehen lassen.

Madame Mildred hatte ihr nach dem Anklopfen kurz zugenickt und sich dann abgewandt, sodass ihr Rücken nun die perfekte Projektionsfläche für Spekulationen bot. »Sie hatten letzte Nacht Dienst, richtig?«, murmelte sie, ohne Orla anzusehen.

»Das ist richtig, Ma’am.«

»Und Sie waren in Master Samaels Gemächern?« Zu Orlas Verwunderung deutete nichts in ihrer Stimme darauf hin, dass sie verärgert war. 

»Ich habe sauber gemacht. Eine Blumenschale war umgefallen und ich …«

Die Hausdame schloss den Schrank ab und deutete ihr beim Verlassen des Büros, zur Seite zu treten. 

Brav folgte Orla der stummen Aufforderung.

»Man hat nach Ihnen verlangt«, sagte Madame Mildred, während sie die Bürotür abschloss. »Sie werden im Grünen Salon erwartet.«

Orla nickte, nur um im nächsten Moment stutzig innezuhalten. »Ich verstehe nicht. Wer wartet wo auf mich?«

Statt einer Antwort bekam sie den eisernen Blick eines Feldwebels, der den Untergebenen an seinen Rang erinnern und weitere Fragen im Keim ersticken sollte. Also folgte sie der Befehlsgeberin den Flur entlang in den Mittelflügel des Hauptgebäudes. Sie hatte Mühe, das Tempo zu halten, denn für eine Frau ihres Alters war Madame Mildred erstaunlich flink zu Fuß. Vielleicht war es auch die Angst vor dem Ungewissen, die sich zäh wie Kaugummi an Orlas Füße geheftet hatte und ihren Schritt verlangsamte.

Als müsste sie sich persönlich davon überzeugen, dass Orla den Anweisungen auch wirklich Folge leistete, begleitete Madame Mildred sie bis zum Grünen Salon, obwohl ihr anzumerken war, dass sie andere Dinge im Kopf hatte.

Vor der Salontür drehte sie sich auf dem Absatz um und musterte ihre Untergebene mit ernster Miene. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« 

»Ich denke nicht.« Orlas Finger wanderten den Saum ihrer Schürze entlang. 

»Sie denken nicht? Was ist das für eine Antwort?« 

»Ich meine, ich …« Orla räusperte sich und blickte zur Tür. Was auch immer im Salon auf sie wartete, würde durch Madame Mildreds Gegenwart nur noch komplizierter werden. Eine Beschwerde schien entgegen aller Befürchtungen bisher nicht an ihr Ohr gedrungen zu sein und das sollte auch so bleiben. Auf keinen Fall durfte sie ihr Misstrauen mit vagem Stammeln wecken. Sie drückte ihre Schultern nach hinten, streckte ihren Rücken durch und sah ihrer Vorgesetzten direkt in die Augen. »Nein, Ma’am. Es ist alles in Ordnung.«

Madame Mildreds Blick ruhte einen Moment auf ihr, so als wolle sie noch etwas entgegnen, doch dann nickte sie nur. Erst als Orla bereits die Flügeltür geöffnet hatte und mit einem Fuß über der Schwelle war, hörte sie die Hausdame hinter sich. 

»Miss Cilla ist neu hier und scheint mit den Gepflogenheiten dieser Welt nicht sehr vertraut. Richten Sie ihr aus, dass Sonderwünsche jeglicher Art mit mir abgesprochen werden müssen.«

»Selbstverständlich, Ma’am.« Obwohl Orla damit endgültig die Bestätigung bekommen hatte, dass der Vorfall von letzter Nacht unerwähnt geblieben war, spürte sie keine Erleichterung. 

Selten zuvor hatte ein schöner Name solch unschöne Gefühle in ihr ausgelöst.

Was hatte diese Cilla vor?