10 Sensentanz

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Die Dämonin mit den unlauteren Absichten stand an einem der Salonfenster und wirkte wie eine Großgrundbesitzerin, die mit zufriedenem Blick ihre Ländereien inspizierte – nachdem sie alle anliegenden Dörfer niedergebrannt hatte. Sie begrüßte Orla mit gefletschten Zähnen, die vermutlich ein Lächeln imitieren sollten, und deutete ihr, sich an den Tisch zu setzen, auf dem eine hübsche Pappschachtel in Schuhkartongröße bereitstand. 

»Ich habe noch einmal nachgedacht«, sagte Cilla und nahm ebenfalls Platz. »Orlanna, richtig?«

Der biedere Anstrich, den sie sich mit frischer Kleidung und den streng zurückgekämmten Haaren gegeben hatte, vermochte Orla nicht zu täuschen. Nur widerwillig ließ sie sich auf das Schauspiel ein, während sie den Raum nach einer möglichen Waffe absuchte, mit der sie sich im Notfall zur Wehr setzen konnte, falls ihr Gegenüber vorhatte, den verpatzten Kampf doch noch nachzuholen. Jede Faser ihres Körpers sträubte sich gegen diese Zusammenkunft, jeder ihre Sinne schlug Alarm. Ihr war bewusst, dass sie längst in der Falle saß. Die Frage war nur, wie hoch der Preis sein würde, um frei zu kommen.

»Wir beide hatten einen denkbar schlechten Start«, fuhr Cilla fort. »Ich möchte das so schnell wie möglich aus der Welt schaffen. Da ich vorhabe, länger zu bleiben, müssen wir wohl einen Weg finden, miteinander auszukommen.«

Orla hatte Mühe, ihren Spott über diese alberne Märchenstunde zu unterdrücken. Kein Szenario dieser Welt setzte voraus, dass sie sich vertragen mussten. Dafür gab es zu viele Bedienstete auf Thornwood und zu viele Möglichkeiten, sich aus dem Weg zu gehen – und dafür war sie als Angestellte einfach zu unbedeutend. Cilla musste sie für ausgesprochen naiv halten, wenn sie glaubte, dass Orla bereit war, diesen Köder zu schlucken. Sie fragte sich, wann die Dämonin endlich ihre Karten offenlegen und zum eigentlichen Punkt kommen würde.

»Es tut mir leid, wenn ich Sie letzte Nacht mit meinem Verhalten verärgert habe«, sagte Orla monoton, und jedes Wort war moralische Schwerstarbeit. »Es wird nicht wieder vorkommen.« 

»Das freut mich zu hören«, antwortete Cilla. Sie nahm die Pappschachtel in ihre Hände und schob sie über den Tisch. »Ich bin nicht nachtragend. Wie holprig es zwischen uns auch gelaufen ist – ich bin bereit, nach vorne zu schauen. Und ich glaube, etwas gefunden zu haben, dass uns beide einander näherbringen wird.« Die Dämonin tippte mit der Hand auf den Deckel.

»Ich darf keine …«, murmelte Orla.

»Ich bestehe darauf.« 

Zum ersten Mal bemerkte Orla, dass Cilla so gut wie nie blinzelte. Ihre Pupillen hatten die Form einer schmalen Raute, weshalb ihr Blick auf unangenehme Weise an den einer Schlange erinnerte.

»Ich habe noch einmal nachgedacht – über das, was du erzählt hast. Das mit den Tauben …«, sagte die Dämonin und zog das Paket wieder zu sich. »… als Symbol für Hoffnung. Für die verstorbenen Seelen, die ihren Frieden gefunden haben. Das ist doch das, was du meintest, oder?«

Orla antwortete nicht. Mit einem flauen Gefühl im Bauch beobachtete sie jede noch so kleine Regung der Schlangenfrau.

»Samael meint, eure Welt sei überfrachtet mit symbolischem Quatsch.« Abwehrend hob sie die Hände. »Seine Worte, nicht meine.« Sie hab den Deckel der Box ein Stück an, kippte ihn jedoch so, dass Orla der Blick auf den Inhalt weiterhin verwehrt blieb. »Ich mag den Gedanken, dass Seelen sich nie ganz auflösen, sondern einfach ihre Form ändern.« In gespielter Rührung fasste Cilla sich an den Hals. »Das hat meine Sicht auf die Dinge vollkommen verändert und dafür möchte ich dir danken.«

Ein leises Gurren in der Box weckte schlimme Befürchtungen.   

Als Cilla schließlich eine schwarze Taube herausnahm und wie eine Trophäe in die Luft hielt, schnürte sich Orlas Kehle zu.

Das Tier wehrte sich nicht, doch das hektische Blinzeln verriet, dass es Angst hatte. 

»Glaubst du, das kleine Ding hier war mal ein Mensch?« Cillas Pupillen verengten sich zu einem dünnen Spalt. 

»Bitte … ich …« Orla bekam die Worte nur heiser heraus gestammelt.

»Vielleicht war es ja sogar jemand, den du kanntest.«

»Tun Sie das nicht«, murmelte Orla, wagte aber nicht, sich zu rühren, aus Angst Cilla zu provozieren. Sie überlegte, wie sie die Taube gefahrlos aus den Klauen ihrer Gegnerin befreien konnte. Eine unüberlegte Bewegung und die Dämonin würde dem Tier das Genick brechen – daran hatte sie keinen Zweifel.

»Sie sind zerbrechlicher als man denkt«, säuselte Cilla in spöttischem Singsang. »So zart und unschuldig.« Gierig roch sie am Federkleid der Taube. »Ich habe gehört, ihr Fleisch soll köstlich sein.« Ihr Blick wanderte zu Orla. »Genauso zart wie Menschenf–«

Mit einem Hechtsprung über den Tisch hatte sich Orla auf ihr Gegenüber gestürzt, sodass die beiden samt Stuhl nach hinten kippten. Während die Taube durch eine Wolke aufgewirbelter Federn davon flatterte, sprang Orla auf – bereit, das drohende Echo ihrer Gegnerin abzuwehren. 

Cilla schien es zunächst die Sprache verschlagen zu haben. Ungläubig befühlte sie die rote Stelle an ihrer Kehle – genau dort, wo Orla mit festem Griff zugepackt hatte. Sie brauchte nicht lange, um wieder auf die Beine zu kommen, doch die Überraschung des Angriffs ließ sie unsicher zurücktaumeln. Der Ausdruck in ihrem Gesicht verriet eine Mischung aus Empörung und Wut. Darüber, dass ein Mensch es gewagt hatte, sie in ihre Schranken zu weisen. Dieser Moment der Kopflosigkeit würde nur von kurzer Dauer sein und Orla wusste, dass sie ihn geschickt für sich nutzen musste, um die Oberhand zu behalten. Sie bemerkte die grünen Schuppen, die sich an Cillas Schläfen bildeten und ein Schlangenmuster bis zu den Wangen zeichneten, als hätte die ungewohnte Erfahrung menschlicher Rebellion eine Art Allergie bei ihr ausgelöst. Wütend schnaufte die Dämonin in ihre Richtung und ballte die Fäuste. 

Doch eine Revanche blieb ihr verwehrt.

»Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht?« Madame Mildred stand vor ihnen, als wäre sie heimlich aus einem der Salongemälde zu ihnen herabgestiegen. Auch ihre Körperhaltung erinnerte an klassische Ölporträts berühmter Damen – elegant und würdevoll, aber unnatürlich steif. In ihrer Mimik las Orla weniger Schock als Unmut. Doch wo andere die Arme verschränkten oder die Hände in die Seiten stemmten, beließ Madame Mildred es bei einer subtileren Geste, indem sie mit den Fingern gegen die Falten ihres Rockes tippte.

»Ich bin sicher, Sie können mir das erklären, Miss Davis«, sagte sie und Orla erwartete, jeden Augenblick von ihr an den Ohren aus dem Salon gezogen und auf die stille Treppe verbannt zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Die Hausdame stand da und sah von einer Übeltäterin zur anderen. »Oder wollen Sie vielleicht den Anfang machen, Miss Cilla?« 

Die Geschwindigkeit, in der Cilla von kampfbereit auf harmlos umschaltete, beeindruckte Orla. Die geballten Fäuste verschwanden hinter dem Rücken und anstelle der Zornesfalte zeigte die Dämonin nun wieder die klägliche Imitation eines Lächelns. »Es ist alles in Ordnung, Mrs. Mildred. Wir …« Suchend sah sie sich im Raum um. »Wir hatten nur ein kleines Problem, um das wir uns kümmern wollten …« 

Es wäre ein Leichtes gewesen, Orla ans Messer zu liefern. Mit ihrem Angriff hatte sie jegliche Grenzen überschritten und Cilla hatte jedes Recht, sich bei der Hausdame zu beschweren. Und dennoch schien sie die Sache herunterspielen zu wollen.

Orla pustete eine störende Haarsträhne aus ihrem Gesicht, bevor sie beschloss, in Cillas Spiel einzusteigen. »Wir hatten überraschend Besuch.« Ihr Blick folgte dem Gurren in die hintere Ecke des Salons. »Von einer Taube, die sich in den Salon verirrt hat.«

»Ja, das arme Ding«, stimmte Cilla mit ein. »Sie ist reingeflattert und hat nicht mehr hinaus gefunden.« 

»Das liegt womöglich daran, dass alle Fenster geschlossen sind«, sagte Madame Mildred trocken. 

»Oh, das … ja, das war eine Vorsichtsmaßnahme …« Orla näherte sich der Taube und erschrak, als sie das Häufchen Elend auf dem Boden hocken sah. Ihr Flügel hing in einer unnatürlichen Verrenkung herab. »Damit wir sie besser einfangen können.« Vorsichtig griff sie nach dem verletzten Tier, das sich allem Anschein nach aufgegeben hatte und keinerlei Gegenwehr zeigte. Das Herz der Taube schlug so heftig, dass Orla befürchtete, es würde jeden Moment aussetzen. »Sie hat sich verletzt und wir dachten, dass sie unter diesen Umständen vielleicht nicht da draußen sein sollte.«

Orla versuchte, das Tier mit den Fingern zu fixieren, um weitere Verletzungen zu verhindern und trug es wie zum Beweis für ihre Geschichte zu Madame Mildred.

»Und nun?« Etwas im Blick der Hausdame hatte sich verändert. Sie bemühte sich zwar weiterhin um eine gewisse Skepsis, doch eine weiche Note hatte sich untergemischt. Der Anblick der Taube schien echtes Mitleid bei ihr auszulösen. »Was gedenken Sie mit ihr zu tun, Miss Davis?«

»Sie braucht einen Arzt.«

»Wir haben nur unseren Warlock.« Madame Mildred beugte sich über das verletzte Tier, um es näher zu betrachten. 

»Und wo finde ich den? Je schneller wir uns darum kümmern, umso besser stehen ihre Chancen.«

»Ich glaube nicht, dass er sich zuständig fühlt.«  

»Lassen Sie mich mit ihm reden.« Orlas Puls hatte sich mittlerweile dem Herzschlag der Taube angepasst. »Einen Versuch wäre es wert.« 

»Und wer räumt das Chaos hier auf?« Schneller als erhofft fand die Hausdame in ihre alte Rolle zurück.

Orla folgte ihrem Blick durch den Salon bis zu dem umgekippten Stuhl und stutzte.

»Unser Gast scheint sich in Luft aufgelöst zu haben«, hörte sie Madame Mildred neben sich, während sie den verlassenen Schauplatz ihres Kampfes betrachtete und versuchte, sich einen Reim auf das seltsame Verhalten der Dämonin zu machen. Die einzige Erklärung, die ihr für das ausgebliebene Tribunal unter Zeugen einfiel, basierte auf demselben Grund, der sie in den Salon geführt hatten. Cilla wollte sie ganz für sich allein, um ihre Rachegelüste auszuleben – ohne jemanden, der einschreiten konnte. 

Auch wenn sie die Niedertracht der Dämonin diesmal ironischerweise vor größerem Schaden bewahrt hatte – es war noch lange nicht vorbei. Beim nächsten Mal würde Cilla sicher dafür sorgen, dass sie vollkommen ungestört waren.

»Ich schlage Folgendes vor«, sagte Madame Mildred und holte Orla aus ihren Gedanken. »Sie kümmern sich um das Durcheinander hier und ich rede mit dem Warlock.«

Andersherum wäre es Orla lieber gewesen, doch sie wagte nicht, zu widersprechen. Behutsam legte sie die Taube in den Karton zurück und übergab ihn Madame Mildred. 

»Ich möchte keine einzige Feder auf dem Teppich finden, wenn ich wiederkomme.«

»Selbstverständlich, Ma’am.«

Die Hausdame war schon zur Tür heraus, als sie den Kopf noch einmal ins Zimmer steckte. »Und dann erzählen Sie mir endlich, was Miss Cilla wirklich von Ihnen wollte.« 

Nachdem sie gegangen war, nahm Orla den umgefallenen Stuhl und brachte ihn an seinen Platz zurück. Natürlich hätte sie sich denken können, dass Madame Mildred nicht auf das Ammenmärchen der verirrten Taube reinfallen würde. Über die eigentlichen Gründe ihres Treffens hatte schließlich keiner der beiden ein Wort verloren. 

Beim zweiten Versuch galt es nun, gerade genug Wahrheit in den Cocktail zu mixen, dass er glaubhaft schmeckte. Viel Zeit hatte sie nicht, die richtigen Zutaten zu wählen. Zutaten, die über nicht weniger als ihre Zukunft auf Thornwood entscheiden würden.