10 Sensentanz

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Wenn man von der hohen Luftfeuchtigkeit absah, die Orlas sorgfältig zurecht gesteckten Dutt in einen Mopp störrischer Zotteln verwandelte und man es außerdem schaffte, den Maschinenlärm zu ignorieren, der den Unheil verkündeten Trommeln eines griechischen Dramas glich, war der Job in der Waschküche gar nicht so übel. Zwischen dem Bügeln, dem Falten und dem Wäschekörbetragen war Orla immer wieder Zeit geblieben, um das Stück Papier mit dem Grundriss für Thornwood an einigen Stellen zu vervollständigen und sich Notizen zu ihren weiteren Plänen zu machen, ohne dass sie – aus Angst vor unliebsamen Augenzeugen – ständig über ihre Schulter hatte schauen müssen. Praktischerweise gab es genug Nischen im Raum, in die sie sich zurückziehen konnte, und genug Pausen, die ihre zwei Kolleginnen draußen an der frischen Luft verbrachten. 

Im Grunde konnte man es fast als Glücksfall betrachten, dass Madame Mildred sie dorthin verbannt hatte, denn einen besseren Ort für zukünftige Treffen mit Doyle hätte sie sich nicht wünschen können. Dass dort frische Uniformen für die Hausangestellten lagerten, von denen er einfach eine überziehen konnte, um nicht weiter aufzufallen, war das Sahnehäubchen.  

Bei aller Freude über die neuen Möglichkeiten, die sich ihr damit eröffneten, war sie dennoch erleichtert, ihre erste Schicht hinter sich gebracht zu haben. Körperlich verlangte der Job ihr einiges ab und das Poltern der Maschinen strapazierte auf Dauer die Nerven. Als letzte Amtshandlung wollte sie nur noch nach der verletzten Taube sehen, um sich anschließend in den Feierabend zu verabschieden. 

Nachdem sie sich bis zum Warlock durchgefragt und seine Gemächer in einem abgelegenen Winkel des Ostflügels unverschlossen vorgefunden hatte, trat sie nach kurzem Zögern ein. Weder auf ihr Klopfen gegen den Türrahmen noch auf ihr zaghaftes Rufen in den Raum reagierte jemand. Orla überlegte wieder zu gehen, doch aus dem Brodeln des gusseisernen Kessels über dem Kamin schlussfolgerte sie, dass der Hausherr nicht weit sein konnte. Also beschloss sie zu warten.

Ein Hauch von Patschuli hing in der Luft – diese unvergleichliche Mischung aus Erde, Holz und orientalischer Süße. Die zahlreichen Kräuterbüschel, die an einer Schnur zum Trocknen aufgehangen worden waren, verwandelten das Zimmer in eine Art Fadenlabyrinth, durch das man nur kam, wenn man sich hier und da duckte. Neugierig näherte Orla sich dem Lavendel und genoss, wie der Duft in ihrer Nase kitzelte. Sie erkannte die Blüten der Schafgarbe, die Blätter von Salbei und Thymian. So ziemlich alles, was in eine Kräuterküche gehörte, schien hier vorrätig zu sein. Auch seltsame Exemplare, deren Ursprung Orla aufgrund der ungewöhnlichen Formen in Pandaemonia vermutete, fanden sich unter den sorgsam aufgereihten Heilpflanzen. Einige öffneten ihre Blüten und schlossen sie wieder – als würden sie atmen. Andere wechselten die Farbe, wenn man sie berührte. Eine lilafarbene Pflanze, deren Blätter an Rucola erinnerten, ließ milchige Bläschen in die Luft steigen, die sich unter der Decke sammelten.

Je weiter sich Orla durch das Schnurgewirr vorwagte, umso dominanter drängte sich jedoch ein ganz spezieller Geruch in den Vordergrund – die verräterische Note eines Gewächses, das in nur wenigen Bundesstaaten legal war und bevorzugt geraucht wurde. Sie fragte sich, ob Madame Mildred von der Cannabisliebe ihres Haus- und Hofheilers wusste. Ein verletztes Tier in den Händen eines benebelten Kräuterpanschers klang nicht unbedingt nach der besten Idee. Auch weil ein genauer Blick Richtung Fensterbrett verriet, dass es ganz offenbar einen Mitbewohner gab, der Vögel zum Fressen gern hatte.

Die haarlose Katze, die bis eben im spärlichen Licht der Frühlingssonne gedöst hatte, erhob sich träge von ihrem Schlafplatz, streckte die rosa Vorderbeine vor sich aus und dehnte ihren Körper mit dem Hinterteil nach oben, als würde sie ausgerechnet die Yogaübung vorführen, die ironischerweise nach einem Hund benannt worden war. Gemächlich positionierte sie sich neu, diesmal aufrecht sitzend, bevor sie in der Bewegung erstarrte. Kein Blinzeln, kein Zucken. Von einer ägyptischen Steinbüste war sie so kaum zu unterscheiden, und hätte Orla sie zuvor nicht in Aktion erlebt, wäre sie als schlichte Raumdeko durchgegangen. 

Orla glaubte etwas Abfälliges in ihrem Blick zu erkennen, diesen typischen »Wer wagt es?«-Ausdruck in den Augen, den Katzen im Laufe ihrer jahrhundertelangen Herrschaft über die Menschen bekanntermaßen perfektioniert hatten. Ihre Ohren waren ungewöhnlich groß und so wirkte sie mit dem nackten, faltigen Gesicht ein wenig wie eine grimmige Fledermaus, nur eben ohne Flügel. Sie sah nicht aus, wie jemand, der gerade gefressen hatte, dennoch blickte Orla sich in einem Anflug von leichter Panik um und suchte den Boden nach Federn oder anderen verräterischen Spuren ab. 

Statt der befürchteten Überreste ihres gefiederten Freundes bemerkte sie an der Schwelle zum nächsten Zimmer ein paar nackte Füße – leblos auf den Holzdielen ausgestreckt. Die Antwort auf die Frage, warum niemand auf ihr Rufen geantwortet hatte, war gefunden und auch wenn Orla vermutete, dass der Warlock nur seinen Rausch ausschlief, wollte sie sich vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war. Also bahnte sie sich den Weg an den Kräuterschnüren vorbei in das Nachbarzimmer und kniete sich zu dem Mann, der regungslos auf dem Rücken lag und seinen nicht mehr ganz so jugendlichen Körper in einen floralen Seidenmantel und eine Boxershorts gehüllt hatte. 

Der ungewöhnliche Ort – auf dem kalten Boden gleich neben der Tür – schien eine fragwürdige Wahl für ein Schlummerstündchen und Orla beschlich der Verdacht, dass der Mann umgekippt war und ihre Hilfe brauchte. Um auszuschließen, dass sich der Warlock beim Sturz verletzt hatte, befühlte sie vorsichtig seinen Kopf. Dabei bemerkte sie, dass seine Haut alarmierend kalt war. Als sie mit dem Daumen eines seiner Lider hob, um die Pupillen zu prüfen, erschrak sie über den milchigen Schleier, der sich über den Augapfel gelegt hatte. Diesen leeren Blick kannte sie nur von den Toten.

Hektisch nahm Orla das Handgelenk des Heilers und versuchte, einen Puls zu finden. 

Nichts.

Sie schob seinen Bart zur Seite, der zu drei dünnen Zöpfen geflochten war und legte ihre Finger an seinen Hals. 

Nichts.

Als sie ihren Kopf auf seine Brust legte und statt des Herzschlages nur einen seltsamen Geruch registrierte, der an einem Mix aus Knoblauch und Gorgonzola erinnerte, wurde sie unruhig. Das war kein Rauschzustand. Hier hatte jemand ein One-Way-Ticket ins Jenseits gelöst und mit jeder Sekunde, die ohne Wiederbelebungsmaßnahmen verstrich, sanken die Chancen, ihn zurückzuholen.  

Orla versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren, während sie ihren linken Handballen in der Mitte des Thorax platzierte, die rechte Hand darüber legte und die Finger ineinander verschränkte. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Eigentlich hatte sie aufgrund der jährlichen Erste-Hilfe-Kurse der APA genug Routine, doch es war eben ein Unterschied, ob nur eine Trainingspuppe vor einem lag oder ob es sich – wie in diesem unglückseligen Moment – um einen echten Notfall handelte. Panisch versuchte sie, sich an den Disco-Song zu erinnern, der den Rhythmus der Herzmassage vorgab. Mit ausgestreckten Armen lehnte sie sich über den leblosen Körper und begann mit den Druckstößen auf den anvisierten Punkt, genau dort, wo die Rippen aufeinandertrafen. Sie schob das Kinn des Mannes nach oben, sodass sein Kopf im Nacken lag und verschloss mit den Fingern seine Nase. Doch gerade als sie tief Luft holte, um mit der Beatmung zu beginnen, schlug ihr Patient die Augen auf und schoss mit dem Oberkörper hoch – wie die Klinge eines Klappmessers.

»Das ging schnell«, murmelte der Warlock in seinen Bart, während er aufsprang, als wäre nichts geschehen. Sein Blick fiel auf Orla, die noch immer auf dem Boden kniete. Für einen kurzen Moment schien er zu überlegen, wo er sie einzuordnen hatte. Allerhöchste Priorität hatte diese Frage jedoch nicht, denn in der nächsten Sekunde hatte er sich abgewendet und sah sich suchend im Raum um. »Wo ist nur unser …?« Mit den Händen klopfte er seinen dürren Körper ab, griff in eine der Taschen seines Seidenmantels und holte ein Notizbuch samt Stift hervor. »Ah, ja …« Ungläubig verfolgte Orla seine Bewegungen, die etwas Manisches an sich hatten. So ähnlich musste Archimedes nach seinem Heureka-Moment ausgesehen haben.