6 Thornwood

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»Hier schlafen die Frauen und drüben haben die Männer ihre Zimmer.« Nell deutete eher desinteressiert zum anderen Ende des Ganges, bevor sie Orla die Treppen hinunter ins Erdgeschoss führte. »Gegessen wird aber zusammen. Unten im großen Saal. Zu festen Zeiten.« 

Orla nickte brav, während sie im Vorbeigehen versuchte, so viele Eindrücke wie möglich von ihrem neuen Heim aufzuschnappen. Für die APA war der Angestelltentrakt nicht von Bedeutung, doch je besser sie sich jeden Winkel einprägte, umso unauffälliger würde sie sich hier zukünftig bewegen können. 

Als sie durch eines der Flurfenster die Silhouette des Haupthauses zu erkennen glaubte, blieb sie stehen. Nur ein paar hundert Meter und das Dickicht der angrenzenden Parkanlage trennten sie von ihrem eigentlichen Zielobjekt. Sie fragte sich, was Lucinda und Cyrus Kingsley wohl gerade trieben – nicht ahnend, dass sie bereits Zielscheiben auf ihrem Rücken trugen.

»Beeindruckend, oder?«, hörte sie Nell neben sich. »Irgendwie wie im Märchen. Es gibt Tage, da muss ich mich kneifen, um das alles hier zu glauben.«  

»Das Anwesen sieht riesig aus.« Orla streckte sich, um besser sehen zu können. »Das müssen ja an die dreißig Zimmer sein.« 

»So genau weiß ich das gar nicht«, sagte Nell. »Es gibt einige Bereiche, zu denen wir keinen Zutritt haben.« Sie wischte mit dem Ärmel einen kleinen Fleck von der Scheibe. »Drei Jahre im Dienst der Kingsleys und habe trotzdem das Gefühl, ich lerne jeden Tag etwas Neues über Thornwood und seine Bewohner.«

»Ich bin schon sehr gespannt auf die Herrschaften«, sagte Orla – das Haupthaus fest im Blick.

»Du wirst sie mögen. Sie sind ausgesprochen großzügig.« 

»Hast du viel mit ihnen zu tun?« 

»Lucinda Kingsley hat ihre eigenen Zofen.« Die Antwort war mit einer Prise Bedauern gewürzt. »Ich hoffe, dass ich eines Tages dorthin aufrücke. Sie ist so eine außergewöhnliche Erscheinung. Wie sie durch die Flure schwebt …«

»Schwebt?«

»Na, du weißt schon. Wenn jemand einen so eleganten Gang hat, dass man glaubt, die Person wäre nicht von dieser Welt. Was ja auch irgendwie stimmt.« Nell lachte, als hätte sie sich an ihrer eigenen Heiterkeit verschluckt. 

»Und ihr Sohn?«

»Welchen der beiden meinst du?«, fragte Nell. 

Den, der buchstäblich über Leichen geht, um das zu bekommen, was er will, dachte Orla. »Den Älteren?«

»Master Cyrus?« Nell senkte den Kopf und strich eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte, hinter ihr Ohr. »Ich habe nur selten mit ihm zu tun. Aber er ist immer gut zu mir gewesen.« Sie räusperte sich. »Wir sind ja grundsätzlich angewiesen, den Herrschaften nicht in die Quere zu kommen. Madame Mildred sagt immer: Wir sind wie Luft – nicht zu sehen, aber unverzichtbar.«

Orla hatte das Gefühl, dass Nell etwas zurückhielt. Der Klang ihrer Stimme hatte sich verändert, seitdem das Gespräch auf Cyrus Kingsley gekommen war. 

»Soll ich dir noch die Gemeinschaftsräume zeigen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Nell Orla weg vom Fenster. »Wir sind hier zwar ziemlich abgeschnitten von der Außenwelt, aber langweilig wird es trotzdem nie.« Wie ein Floh hüpfte sie durch den Flur. »Wir haben eine eigene Bibliothek. Neben Büchern kann man sich dort auch Gesellschaftsspiele, Konsolen oder Musik ausleihen. Es gibt sogar einen kleinen Kinoraum. Nur mit dem Internet klappt es hier draußen nicht so gut.«

»Die Abgeschiedenheit war einer der Gründe, warum ich mich beworben habe«, sagte Orla. »Ich mag es, fernab von allem zu sein.«

»Dann passt du perfekt hierher.« Nell nahm sie bei den Schultern und strahlte übers ganze Gesicht, als wolle sie einen Pakt verkünden, der sie zu neuen besten Freundinnen machte. Doch als sie bemerkte, dass Orla bei der Berührung verkrampfte, schrumpfte ihr Lächeln augenblicklich. Verlegen ließ sie die Hände sinken. 

Orla fühlte sich, als wäre sie aus Versehen auf den Dimmer für das Licht gekommen. Woher sollte Nell wissen, dass sie immer so reagierte, wenn jemand ihr zu schnell zu nah kam. Es war ein Reflex. Ein Automatismus, den sie nicht kontrollieren konnte. 

Während Orla überlegte, ob sie einen gemeinsamen Cluedo-Abend vorschlagen sollte, um die Situation wieder aufzuhellen, sah sie eines der Hausmädchen auf einer separaten Treppe Richtung Kellergeschoss verschwinden und nahm die Chance dankbar wahr. »Und wo geht es da lang?« 

Noch plumper hätte sie nur gewirkt, wenn sie auf die Idee gekommen wäre, in Schwimmflossen Schwanensee zu tanzen. Doch plump war in Ordnung, solange es funktionierte und Nell schien tatsächlich dankbar für die Frage. 

»Da unten ist der Verbindungstunnel zum Hauptgebäude«, sagte sie.

»Du meinst, wir müssen immer durch den Keller, wenn wir hinüber zu den Herrschaften wollen?«

»Richtig.«

»Alle?«

»Alle vom Service.« Nell zuckte mit den Schultern, als verstünde sie die Frage nicht. »Das Gartenpersonal hat sicher andere Befugnisse, aber für uns ist das der offizielle Weg.«

Dass Hausmädchen auf Thornwood wie Luft behandelt wurden, hatte sich bereits angedeutet – spätestens als Nell das offizielle Arbeitsmantra von Madame Mildred verraten hatte. Ein eigener Schacht, damit die Kingsleys so selten wie möglich vom Anblick des Pöbels belästigt wurden, war nur die logische Konsequenz. 

»Madame Mildred!« Erst jetzt fiel Orla der Termin wieder ein. »Wie spät ist es?«  

Nell blickte auf ihre Uhr. »Zehn nach Zw…«

»Kannst du mich in ihr Büro bringen?«

»Selbstverständlich.« Mit tippelnden Schritten lief Nell zur Wendeltreppe. »Mir nach.« 

Der Kellergang wirkte moderner als Orla ihn sich vorgestellt hatte. Sie war ein wenig enttäuscht, dass es keine Fackeln gab, die ihnen stilecht den Weg durch die alten Gemäuer leuchteten. Stattdessen folgten sie dem kühlen LED-Licht, das sich – ausgelöst durch Bewegungsmelder – nach und nach automatisch anschaltete. Über ihren Köpfen hörte Orla das Rumpeln eines Motors, das sie an einen alten Rasenmäher erinnerte. Zu gerne hätte sie gewusst, wo genau sie sich befanden und was sich in diesem Moment oberhalb des Tunnels abspielte. Bei Gelegenheit würde sie den Weg in Ruhe ablaufen und mit Stoppuhr und Kompass ausloten, um alles besser verorten zu können. Doch nun war Eile geboten. 

Als sie die Tür am Ende des Ganges entdeckte, raffte sie den Rock ihres Kleides hoch und beschleunigte ihren Schritt. 

Ein paar lästige Treppen, einige Türen und zwei verwinkelte Korridore später standen sie vor dem Büro. Nell hielt beide Daumen in die Luft und schenkte Orla ein mutzusprechendes Lächeln, bevor sie sich davon schlich. Dass sie keine große Lust auf Madame Mildred zu haben schien, konnte Orla nachvollziehen. Obwohl sie das Verhör in ihren eigenen vier Wänden gemeistert und die Hausdame von sich überzeugt hatte, fühlte sie sich in diesem Moment ein wenig wie vor einer mündlichen Prüfung. Sie holte tief Luft und wollte gerade anklopfen, als laute Stimmen sie aufhorchen ließen. Neugierig lief sie ein paar Schritte den Flur entlang und schaute um die Ecke. 

Der Tumult schien sich eine Etage tiefer auf der gegenüberliegenden Seite der Treppe abzuspielen. Viel war nicht zu erkennen, denn die Holzstufen verdeckten das Meiste. Orla duckte sich, um besser sehen zu können und entdeckte zwei schattengleiche Gestalten, die vor einer offenen Tür standen und in Schockstarre verharrten. Sie konnte ihre Gesichter nicht sehen, denn die gleißend hellen Strahlen, die aus dem Zimmer kamen, schien die beiden geradezu aufzufressen. 

Ein Wimmern war zu hören, gefolgt von einem Schrei – so markerschütternd wie Orla ihn zuvor nur ein Mal in ihrem Leben gehört hatte. Ausgestoßen von jemandem, der ohne Zweifel seinem Ende entgegensah. 

Anstatt dem Leidenden zu helfen, wichen die beiden Männer zurück und verharrten weiterhin in seltsam gekrümmter Haltung – einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Angst. Ein süßlich-verkohlter, nur allzu vertrauter Geruch stieg Orla in die Nase. 

Dann sah sie ihn. 

Sie erkannte das schmale Gesicht mit den hohen Wangenknochen und das schwarze, gelockte Haar. Er war aus dem Zimmer vor die Tür getreten und befahl den Gestalten mit strengem Blick hinein zu gehen – eine Aufforderung, der sie nur widerwillig nachkamen. Bevor er ihnen folgte, sah er sich um, so als wolle er sichergehen, dass es keine Zeugen für den Vorfall gab. Orla zog den Kopf zurück und wartete ein paar Sekunden, bevor sie einen weiteren Blick wagte.  

Cyrus war verschwunden. 

Was blieb, war der Geruch von verbranntem Fleisch in der Luft.


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