6 Thornwood

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Als sie auf dem Hof des Seitengebäudes ankam, entdeckte sie den Fahrer der Limousine, der gerade den Wagen von genau dem Dreck befreite, der auf Orlas Kleidung klebte. Sie hatte große Lust, sich wegen seiner Rücksichtslosigkeit mit ihm anzulegen und steuerte direkt auf ihn zu. Nach ein paar Schritten dämmerte ihr jedoch, dass es keine gute Idee war, sich gleich am ersten Tag Feinde zu machen, wenn man möglichst unsichtbar bleiben wollte. Also machte sie auf dem Absatz kehrt und wandte sich stattdessen an einen älteren Mann, der allem Anschien nach als Gärtner für die Kingsleys arbeitet und gerade seine Gerätschaft sortierte. Mit einem freundlichen Lächeln fragte sie ihn, wo sie Mrs. Mildred finden könne. 

»Madame Mildred hört es gar nicht gerne, wenn man sie Mrs. Mildred nennt«, sagte der Mann lachend, während er sich die Hände mit einem Lappen abwischte. Ohne von seinen Werkzeugen aufzublicken, zeigte er auf einen Lastwagen am anderen Ende des Hofes.

»Um diese Zeit findest du sie vermutlich in der Küche«, sagte er. »Wegen der Lieferungen.«

Orla bedankte sich und folgte seinem Fingerzeig. Nach kurzem Kofferstolpern über Kopfsteinpflaster schloss sie sich den Lieferanten an, die kistenweise Lebensmittel von der Ladefläche des Transporters abluden und in das Gebäude trugen. Allein hätte sie sich in den engen, labyrinth-ähnlichen Gängen des Hauses verlaufen, doch so stand sie wenig später zusammen mit den zwei Männern in der Küche – der Frau gegenüber, deren Bekanntschaft sie bereits vor zwei Wochen hatte machen dürfen. 

Damals war Madame Mildred in Begleitung eines wortkargen Protokollanten ohne Vorwarnung bei ihr Zuhause aufgetaucht, um sich ungefragt umzusehen und sich in einem zähen Gespräch, das eher einem Verhör geglichen hatte, ein Bild von der Bewerberin zu machen.

Orlanna Davis. 

Das Mädchen, das Orla nie sein wollte. 

Sie konnte noch immer nicht glauben, dass die wenige Zeit für das Einstudieren der Schein-Identität gereicht hatte, um Madame Mildred von sich zu überzeugen. Die Hausdame hatte ihr bis zuletzt das Gefühl gegeben, nicht viel von ihr zu halten. Umso überraschter hatte Orla am Ende des Gesprächs das Einstellungsschreiben in den Händen gehalten und den Termin für ihren Arbeitsantritt vereinbart.

Und nun stand sie hier.

Während die Lieferanten schon wieder an ihr vorbei zur Tür hinaus eilten, um die nächsten Kisten zu holen, versuchte sie mit einem Räuspern auf sich aufmerksam zu machen. Ihr zaghaftes Solo ging jedoch kläglich unter in einer Arie aus Trippelschritten, Topfscheppern und dem Dröhnen der Belüftungsanlage. 

Inmitten des hektischen Treibens um sie herum wirkte Madame Mildred wie jemand, der nicht hierher gehörte. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid – nichts, was sie von den anderen Bediensteten hervorgehoben hätte. Doch die Art, wie sie mit den Dienstmädchen kommunizierte, verlieh ihr etwas Erhabenes. Sparsam dosierte, ruhige Anweisungen, ohne Hektik oder laute Worte. Ihre Präsenz im Raum war spürbar und zweifellos dominant, jedoch ohne dass sie wie ein Feldwebel agierte. Als eine frisch angelieferte Kiste Kartoffeln umkippte und die Knollen munter über den Boden kullerten, wie ein Heer übermütiger Zwerge, bedachte sie eine der Küchenhilfen mit einem kurzen Nicken. Alles wirkte wie eine ausgefeilte Choreografie, bei der Madame Mildred nur minimale Impulse setzen musste, weil jeder wusste, was zu tun war.

Nicht zum ersten Mal stellte sich Orla die Frage, aus welcher Welt sie wohl kam. Beim Bewerbungsgespräch hatte sie bereits auf Indizien für paranormale Fähigkeiten geachtet, aber nichts Auffälliges bemerkt. Am Äußeren der Hausdame war schwer auszumachen, ob sie ein Mensch war oder lediglich eine überzeugende Hülle trug. Auch wenn ihre weißgrauen Locken und die unübersehbaren Fältchen im Gesicht gegen übernatürliche Vitalität sprachen, war nicht auszuschließen, dass dies einfach Teil der Tarnung war. 

»Entschuldigung.« Orla trat einen Schritt auf Madame Mildred zu und räusperte sich erneut. 

Der Blick der Hausdame streifte sie nur flüchtig. Die Weinflaschen, die sie zur Begutachtung bekommen hatte, schienen wichtiger.

»Orlanna Davis, Ma’am. Wir hatten einen Termin?« 

Diesmal ruhte die Aufmerksamkeit von Madame Mildred etwas länger auf ihr, so als würde sie überlegen, wo sie das Gesicht einzuordnen hatte. 

»Richtig. Das neue Mädchen.« Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht – halbherzig und unterkühlt, doch nach allem, was Orla widerfahren war, seitdem sie sich von Dave am Eingang aggressiv anschweigen hatte lassen, kam es einer netten Begrüßung am nächsten. Madame Mildred musterte sie von oben bis unten und hob überrascht die Augenbrauen, als die vom Pfützenwasser verschmutzte Kleidung sah.

»Ein kleines Missgeschick auf dem Weg hierher«, sagte Orla und wischte mit der Hand über ihre Hose, als könne sie auf diese Weise den Dreck mal eben wegzaubern. »Meine Taufe zum Einstand habe ich damit wohl hinter mir.« 

Die Hausdame quittierte ihren Witz mit einem leicht irritierten Nicken. Kein Schmunzeln, kein Zucken um den Mund herum, nichts. 

Natürlich war niemand verpflichtet, über Orlas Verlegenheitsscherze zu lachen. Und die Regeln des sozialen Miteinanders schienen ihr selbst oft genug wie ein unlösbar verdrehter Zauberwürfel, der mit jedem Versuch, Ordnung hinein zu bringen, nur noch komplizierter wurde. Doch auch sie wusste, wie viel einfacher es in solchen Phasen des Kennenlernens für beide Seiten war, wenn man wenigstens den Anschein von Wohlwollen wahrte und das auch in kleinen Gesten zeigte. 

Dass Madame Mildred sich nicht viel darum scherte, wie wohl sich Orla in ihrer Gegenwart fühlte, hatte sie schon beim Bewerbungsgespräch gemerkt. Die Prioritäten der Hausdame lagen offenkundig anderswo. Vielleicht hatte Madame Mildred aber auch einfach ein festgelegtes Budget, wenn es um Nettigkeiten ging und musste entsprechend sparsam damit umgehen. 

»Ich bin gerade beschäftigt, Miss …?« Sie warf Orla einen fragenden Blick zu.

»Orlanna, Ma’am. Orlanna Davis.«

»Gerade passt es schlecht, Miss Davis.« Madame Mildred winkte eine der Küchenmädchen zu sich. »Warum lassen Sie sich nicht von Cora ihr Zimmer zeigen? Sie machen sich in Ruhe mit allem vertraut und in einer Stunde sehen wir uns in meinem Büro.« 

»Wie Sie wünschen, Ma’am.« Den unterwürfigen Ton hatte Orla sich mühsam antrainieren müssen und noch immer kam er eher widerwillig über ihre Lippen. Kurz überlegte sie, ob zu einer solchen Situation auch ein alberner Knicks gehörte oder ob dies nur den Kingsleys vorbehalten war. 

Bevor sie den Gedanken beenden konnte, hatte Madame Mildred ihr die Entscheidung jedoch abgenommen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich die Hausdame ab und widmete sich den Weinflaschen aus der Lieferung.

Auf gewisse Weise gefiel Orla die kühle Effizienz, mit der ihre zukünftige Chefin kommunizierte, auch wenn ihr ein herzlicher Empfang lieber gewesen wäre. Hatte man sich einmal auf sachliche Distanz eingestellt, war das Miteinander unter Umständen sogar leichter. Kein Wort zu viel, keine Geste verschenkt – keine Schnörkel, die vom Wesentlichen ablenkten. Beide Seiten wussten, wo sie standen, und niemand verhedderte sich in irgendwelchen Deutungsversuchen.

Orla sah auf die Uhr und prägte sich die Zeit ein, denn es stand außer Frage, dass jemand wie Madame Mildred nicht nur eine Vorliebe für klare Ansagen hatte, sondern auch Wert auf Pünktlichkeit legte. Nachdem sich ihre erste Begegnung aufgrund von Pfützenwasserflecken und versandeten Witzen eher zu einem Matschklumpen verformt hatte, sollte das zweite Mal besser werden. Dabei ging es Orla weniger darum, einen guten Eindruck zu hinterlassen, auch wenn das ohne Zweifel von Vorteil war. Vielmehr brauchte sie das Gefühl, sich im neuen Job problemlos warmlaufen zu können. Für die spätere Zielgerade waren die ersten Meter entscheidend. Das wusste sie aus Erfahrung. Je mehr sie am Anfang stolperte, umso schwerer kam sie im weiteren Verlauf der Ermittlungen vom Fleck. Zu viele Patzer konnte und wollte sie sich nicht leisten. Denn der große Hürdenlauf stand erst noch bevor.