Der leere Flur gab ihr die erste richtige Gelegenheit durchzuatmen. Erschöpft lehnte sie sich an den Putzwagen und holte tief Luft. Auch wenn sich ihr Körper nun normal anfühlte, hallte das Echo der Dämonen nach. Ihre Gedanken gehörten ihr zwar wieder ganz allein, doch immer wenn sie Ordnung ins Chaos bringen wollte, flackerten sie durcheinander, als hätten sie einen Wackelkontakt.
Orla löste die Bremsen ihres Putzwagens und eilte den Gang hinunter. Dass einer der beiden Dämonen im Hades Zimmer die Kontrolle über sie übernommen hatte, stand außer Frage. Orla war keine Freundin falscher Nettigkeiten und hielt sich selten zurück, doch selbst sie wusste, wann sie besser den Mund zu halten hatte. Nie im Leben hätte sie sich freiwillig auf dieses Harakiri-Wortgefecht eingelassen.
In ihrer Eile übersah sie Hector, der gerade noch ihrem Putzwagen ausweichen konnte. »Hey, Davis, ich war zufällig …«
»Er ist zurück.«
»Wer?«
»Samael Kingsley. Wer sonst?«
Hector blickte den Flur hinunter Richtung Hades Zimmer. »Ich hoffe, du bist rechtzeitig fertig geworden mit allem.«
Wortlos schob Orla den Putzwagen an. Sie würde sich hüten, auch nur eine einzige Silbe über das zu verlieren, was gerade vorgefallen war.
Nach einigen Schritten blieb sie jedoch stehen.
Was, wenn Samael Kingsley das für sie übernahm? Was, wenn er sich bei Madame Mildred über sie beschwerte?
»Alles in Ordnung?«, hörte sie Hectors Stimme neben sich.
Vielleicht sollte sie dem Dämon zuvorkommen und die Sache melden. Es würde Ärger geben wegen ihrer Äußerungen, aber was war das schon gegen den Vorwurf der versuchten Körperverletzung?
»Er ist nicht allein«, sagte sie mehr zu sich als zu Hector.
»Ach, so?« Es schien ihn weder zu wundern noch sonderlich zu interessieren. Er übernahm den Wagen und brachte ihn in die dafür vorgesehene Kammer am Ende des Flures. Orla ließ es geschehen. Die Energie zu protestieren war irgendwo zwischen hier und dem Hades Zimmer verpufft. Noch immer überlegte sie fieberhaft, welche Strategie sie vor dem drohenden Ärger retten konnte, der ihr blühte, wenn Madame Mildred Wind von der Sache bekam.
»Du bist so ruhig, Davis«, sagte Hector und klimperte mit seinem Schlüsselbund. »Ist wirklich alles okay?«
»Ich bin einfach nur müde«, sagte Orla. »Es war eine lange Nacht.«
»Es ist gerade mal halb drei.«
»Wirklich?« Orla sah auf die Uhr. »Dann werde ich jetzt wohl einen besonders starken Kaffee brauchen.«
Hector folgte ihr die Treppe hinunter. »Als ich hier anfing, hatte ich auch Schwierigkeiten, mich an den Rhythmus zu gewöhnen. Inzwischen liebe ich die Nachtschichten.«
»Hm.« Ob Madame Mildred so spät noch erreichbar war?
»Es ist so friedlich um diese Uhrzeit.«
»Ja,…« Sie würde sich irgend eine Ausrede einfallen lassen müssen, um Hector loszuwerden.
»Als hätte man das ganze Schloss hier für sich allein.«
Die Treppenstufen zogen sich ungewohnt zäh in die Länge und für einen Moment verschob sich alles so diffus ineinander, dass Orla schwindelig wurde. Sie blieb stehen und rieb sich die Augen.
»Vielleicht ist es besser, wenn du für heute Schluss machst.« Hector legte die Hand auf ihre Schulter.
»Ich kann doch meinen Posten nicht einfach so verlassen. Madame Mildred …«
»Madame Mildred hat längst Feierabend. Sie wird es nicht merken.«
Vorsichtig setzte Orla ihren Weg fort und hielt sich dabei am Treppengeländer fest. »Geht schon wieder.«
Das Angebot klang verlockend, doch sie kannte Hector zu wenig, um ihm leichtfertig einen derartigen Schuldschein auszustellen. Schließlich war schwer abzusehen, ob er ihn nicht irgendwann gegen sie verwenden würde. Wer war schon gerne erpressbar?
Immerhin wusste sie nun, dass es keine gute Idee war, Madame Mildreds um diese Zeit zu stören. Alles, was sie damit erreichen würde, wäre Unmut auf allen Seiten.
»Ach, hier steckt ihr zwei.« Nell kam ihnen mit einem Tablett entgegen. »Ich wollte schon eine Suchmeldung nach euch rausgeben.«
»Orlanna geht es nicht gut«, sagte Hector.
»So ein Quatsch. Alles bestens.« Genervt winkte Orla ab und deutete auf das Tablett. »Wo willst du denn damit hin?«
»Während ihr auf Nachtwanderung wart, habe ich einen Anruf aus dem Hades Zimmer bekommen.« Da war er wieder – dieser funkelnde Blick, den Nell immer hatte, wenn sie kurz davor war, etwas Aufregendes zu verkünden. Oder zumindest das, was sie für aufregend hielt. Manchmal reichte schon die Neuigkeit, dass der Milchlieferant jetzt immer donnerstags kam oder sich die Zusammensetzung ihrer Lieblingsseife geändert hatte, um sie in diese Stimmung zu versetzen. »Zuerst dachte ich, ihr wollt mir einen Klingelstreich spielen, aber dann war der junge Master am anderen Ende. Offenbar hatte er größere Sehnsucht nach Thornwood, als wir dachten.«
Hector musterte das Essen, das sich auf dem Tablett türmte. »Sehnsucht und ordentlich Hunger auf kalten Braten wie ich sehe.«
Zu gerne hätte Orla gefragt, wie Samael Kingsley am Telefon geklungen hatte, doch sie wusste, dass es Fragen folgen würden, die sie nicht beantworten wollte.
»Ich soll das einfach alles vor die Tür stellen«, sagte Nell und zuckte mit den Schultern.
»Vermutlich will er nicht gestört werden«, murmelte Hector. »Orlanna meinte, er hätte Besuch dabei.«
»So, so.« Nells abfälliger Blick hätte ebenso gut von Madame Mildred kommen können. Überhaupt wirkte ihre Zimmergenossin in vielen Momenten wie eine jüngere Version der Hausdame. Für Orla stand außer Frage, dass sie eines Tages die Nachfolge ihrer Chefin antreten und die Regie über die Belegschaft übernehmen würde.
»Du bist ihm also schon begegnet?« Nells Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Wem?«
»Master Samael.«
»Ach, so … ja.« Orla sah sein Gesicht vor sich und es war, als würde sie erneut in den Abgrund fallen, der sich in seinem Blick aufgetan hatte. Die Funken in seinen Augen, das taube Kribbeln in ihren Fingern – es war alles wieder da.
»Komisch, dass er die Bestellung nicht gleich bei dir aufgegeben hat.«
»Ja, komisch«, sagte sie und lächelte gequält. Vielleicht war es ja ein gutes Zeichen, dass die beiden ihren Appetit wiedergefunden hatten. Womöglich hatten sie den Vorfall längst abgehakt und Orla würde nur schlafende Hunde wecken, wenn sie es irgendwem meldete.
Sie hasste diesen Schwebezustand. Abhängig zu sein von launischen Möchtegerndespoten. Aber ihre Optionen waren begrenzt. Sie würde die Angelegenheit vorerst unter einer ausreichenden Portion Schweigen begraben und darauf bauen, dass genug Gras darüber wuchs. Grün war schließlich die Farbe der Hoffnung und viel mehr als das blieb ihr gerade nicht.