1 Kinder der Sonne

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Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch kämpfte sie sich durch eine Wand aus Telefonklingeln und hektischen Stimmen. 

»Zweihundert Zivilisten …«

»Erinnerungen neutralisieren.«

»Auf der Flucht …«

Es war das Echo eines Bebens, das niemand vorhergesehen hatte. Dass Grogon nach so kurzer Zeit seine Gemeinde auflöste, passte nicht in das Muster. Irgendetwas musste ihn aufgeschreckt haben. 

Eine ganze Abteilung war nun damit beschäftigt, den Trümmerhaufen, den er hinterlassen hatte, wegzuräumen. Hastig liefen die Kollegen auf und ab – besprachen sich mit den Einsatzkräften vor Ort, mobilisierten Betreuung für die Geretteten und stellten das Sondereinsatzkommando für Pandaemonia zusammen.  

»Parker und Stone … Besprechung in Raum Zwei.«

Orla verzog das Gesicht und beschleunigte ihren Schritt. Sie musste mit allen Mitteln verhindern, dass diese beiden Testosteron-Trampel ihren Fall übernahmen. Irgendetwas Brauchbares sollte doch aus Dick Mason herauszuquetschen sein, um die Schlägertruppe aus dem Spiel zu nehmen.

Hastig riss sie das Schubfach ihres Schreibtisches auf und durchwühlte die Papiere. »Hier muss doch irgendwo …«

Als ihr jemand auf die Schulter tippte, fuhr sie herum und hielt die Hände im Abwehrmodus hoch. Der Schmerz, den ihre Rippen ihr zum Dank sandten, schnürte ihr fast die Luft ab. Sie erinnerte sich, dass der Sanitäter etwas von Schonen gefaselt hatte und lachte spöttisch auf.

»Die Infos, die du angefordert hast«, hörte sie Doyle sagen, während sie auf ein Blatt voll mit Zahlenkolonnen direkt vor ihrem Gesicht blickte. »Frisch aus dem Drucker.«

»Du bist mein Retter.« Orla seufzte und hielt die Hand auf ihre Rippe, um das Pochen zu dämpfen. Als Doyle sie auf seine alles-umarmende Art anlächelte, spürte sie plötzlich den Drang sich einfach fallen und von ihm auffangen zu lassen. Wie kaputt man war, zeigte sich manchmal erst im sicheren Hafen. 

Doyle reichte ihr weitere Papiere, die zwischen seiner gelähmten Hand und seiner Brust klemmten. »Du hattest recht mit deiner Vermutung.« 

Mit gierigem Blick blätterte Orla die Infos durch, bis sie fand, was sie sich erhofft hatte. »Dickie, Dickie, Dickie«, murmelte sie zufrieden. »Das gehört sich aber nicht, mein Lieber.« Erneut beugte sie sich über ihre Schublade und durchsuchte sie. »Weißt du zufällig, wo die alte Fall-Akte von den ›Jüngern des Lichts‹ ist?«, keuchte sie wie eine Hundertjährige beim Schuhe binden.

Ein Griff in den Stapel genügte und Doyle hielt die gewünschte Akte in der Hand. Doch als Orla sie an sich nehmen wollte, zog er die Mappe weg. »Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, fragte er sie mit ernster Miene.

»Was meinst du?«

»Du bist doch gar nicht in der Verfassung, ein Verhör durchzuführen. Warum überlässt du das nicht jemand anderen?«

»Es ist mein Fall, also werde ich auch den Zeugen vernehmen«, sagte Orla und versuchte, sich aus ihrer gekrümmten Haltung aufzurichten, um ihre Entschlossenheit zu demonstrieren. Doch der Schmerz hatte sich wie ein Fieber im Körper ausgebreitet. Jede Bewegung fühlte sich an als spiele jemand mit einem Vorschlaghammer Xylophon auf ihren Knochen. 

Doyle sah sie besorgt an. »Seit wie vielen Stunden bist du jetzt auf den Beinen?«

»Keine Ahnung«, nuschelte Orla in sich hinein. »Aber ich kann mich ja wohl nicht einfach schlafen legen.« 

»Hast du dich wenigstens ordentlich durchchecken lassen?«

»Es geht mir gut.« Orla wollte abwinken, doch sie bekam den Arm nur schwer angehoben. »Der Sanitäter hat mir grünes Licht gegeben«, sagte sie und lehnte sich vorsichtig gegen den Schreibtisch. Das Knochenxylophon wurde leiser. »Hast du was von Fitzsimmons gehört?«

»Er wird notoperiert« Doyle senkte den Kopf, als glaubte er, die Wucht der Worte damit abschwächen zu können. Für einen Moment schwiegen beide und überließen es der Hektik um sie herum, die Geschichte zu erzählen. Das Schlimmste zu denken war das Eine, es laut auszusprechen etwas ganz anderes.

»Wäre ich nur früher bei ihm gewesen«, sagte Orla  schließlich. Ihr Blick fiel auf das Blut unter ihren Fingernägeln. Wie Säure schien es sich in die Haut zu fressen.

»Du warst rechtzeitig da, um ihn zu retten. Nur das zählt.« Doyle machte einen Schritt auf sie zu, um sie zu umarmen, doch Orla wich der lieb gemeinten Geste aus. 

»Ich muss herausfinden, was Mason weiß.« Sie stahl ihm die Akte der Jünger aus der Hand. »Grogon darf nicht davonkommen.« 

»Soll ich mit rein? … So als Verstärkung …«, hörte sie Doyle hinter sich, während sie die Treppe zu den Verhörräumen im Keller anvisierte.  

»Lass mich erst mal alleine auf den Busch klopfen«, antwortete sie. »Männer wie Mason neigen dazu, sich maßlos zu überschätzen. Einer Frau gegenüber wird er sich noch überlegener fühlen …«

»… und irgendwann unvorsichtig werden«, beendete Doyle den Satz. 

»Hoffentlich.« Orlas Blick wurde von einem Rufen abgelenkt und wanderte zur Tür von Besprechungsraum Zwei. Als sie Parker und Stone zu doppelter Größe aufgeplustert Anweisungen geben sah, wandte sie sich an Doyle. »Kannst du mir einen Gefallen tun und herausfinden, was die beiden Stiernacken vorhaben?« 

»Mit Vergnügen.« Er hielt ihr die Faust hin. »Weidmanns… dingens.«

Orla holte tief Luft, bevor sie ihre Faust gegen seine drückte. »Weidmanns-fucking-was-auch-immer.«