1 Kinder der Sonne

1

»Sie wollten mich sprechen, Sir?« Orla drückte die Bürotür hinter sich zu und verschränkte die Hände ineinander. 

Dass der Chief ihr zur Begrüßung den Rücken zuwandte, war kein gutes Zeichen. Jemand hatte ihr mal erzählt, sein Hinterkopf sei das Letzte, das man vor einem Rausschmiss sah. Kein Donnerwetter, keine lauten Worte – einfach die stumme Ignoranz einer kalten Schulter. 

»Wo haben Sie gesteckt?«, fragte er, ohne sie anzusehen. »Ich hatte erwartet, dass Sie sich gleich nach Ihrer Ankunft bei mir melden und Bericht erstatten.«

»Der Zeuge, Dick Mason, Sir«, antwortet Orla brav und kämpfte gegen das Gefühl rostiger Nägel in ihrem Hals. »Ich wollte ihn schnellstmöglich verhören, um …« Sie räusperte sich. »Es hat etwas gedauert, aber jetzt singt er wie ein Goldkehlchen, Sir.«

»Von mir aus kann dieser Niemand die komplette Neunte Symphonie rauf und runter trällern.« Wütend fuhr er herum – wie ein Stier, der in Orla das rote Tuch erkannt hatte. »Es interessiert mich nicht, was er sagt. Mich interessiert, wie Ihnen Grogon entwischen konnte.« 

Die Tatsache, dass sie nun deutlich die tiefen Furchen auf seiner Stirn erkennen konnte, hätte ihr eigentlich Sorgen bereiten sollen. Doch Orla war auf seltsame Weise erleichtert, dass sie nicht mehr mit seinem Rücken sprechen musste. »Es ging alles sehr schnell, Sir«, sagte sie. »Wir hatten kaum Zeit zu reagieren.«

»Wie ich hörte, hatten Sie doch immerhin Zeit für einen Spaziergang.«

»Verzeihung, Sir?« 

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass sie die Anweisungen missachtet und Fitzsimmons allein gelassen haben.«

Es gab nur Einen, der ihm das gesagt haben konnte. »Ist Fitzsimmons wieder bei Bewusstsein?«

»Es spielt keine Rolle, auf welchem Weg die Informationen zu mir gelangt sind.« Der Chief verschränkte die Arme hinter seinem Rücken. »Erklären Sie mir lieber, was, verdammt nochmal, so wichtig war, dass Sie Ihren Posten verlassen haben.«

Orla trat einen Schritt näher – entschlossen, der kühlen Distanz, die sich mit jedem Wort zwischen ihnen ausdehnte, etwas entgegenzusetzen. »Ich hatte eine Gruppe Kinder entdeckt, die in die Kirche gebracht werden sollten«, sagte sie. »Mein Bauchgefühl riet mir, ihnen zu folgen. Ich wollte verhindern, dass sie …«

»Sie hatten einen klaren Auftrag!«, fiel ihr der Chief polternd ins Wort. »Das Zielobjekt zu keiner Zeit aus den Augen lassen.«

»Sie kennen doch die Bilder vom letzten Übergang, Sir.« Energisch wagte Orla einen weiteren Schritt. »Ich musste sicherstellen, dass den Kindern nicht das Gleiche widerfährt.« 

Der Chief musterte sie mit der tadelnden Miene eines Lehrers, dessen Frage, wie viel denn zwei mal zwei sei, von ihr mit „Das kommt darauf an“ beantwortet worden war. 

»Ihr eigenmächtiges Verhalten hat die gesamte Operation platzen lassen. Das ist der Punkt, um den es hier geht«, sagte er schließlich in weniger aufbrausendem Ton, dem es dennoch nicht an Schärfe fehlte. »Im entscheidenden Moment waren Sie nicht zur Stelle.«

»Ich kam nur ein paar Minuten später dazu«, versuchte Orla sich zu verteidigen, auch wenn der Instinkt ihr riet, vielleicht lieber den Mund zu halten.

»Und doch ist es Ihnen nicht gelungen, Grogon festzunehmen.«

»Die Dämonen waren in der Überzahl.« 

»Warum haben Sie nach dem Notsignal nicht wie angeordnet auf die Verstärkung gewartet?«

»Fitzsimmons war bereits in ein Handgemenge verwickelt, als ich dazu stieß.«

»Und das bringt uns wieder zu Ihrem Fehlverhalten zurück. Wären Sie an seiner Seite gewesen, müssten wir dieses Gespräch jetzt nicht führen.«

Der Schuldspruch traf sie tief in die Magengrube. Niemand konnte sagen, wie es ausgegangen wäre, wenn sie ihren Posten nicht verlassen und einfach abgewartet hätte. Vielleicht wäre die Verstärkung rechtzeitig gekommen, vielleicht wäre Grogon auch längst über alle Berge gewesen. Vielleicht hätte er sich vor seiner Flucht noch genüsslich an den Seelen seiner Gemeindemitglieder satt gegessen und die Opferzahl wäre wesentlich höher gewesen. 

Vielleicht. 

Vielleicht. 

Dass der Chief sich so sicher war, wer sich wann falsch verhalten hatte, kränkte und empörte sie zugleich. 

»Es tut mir leid, Sir«, sagte sie gegen den Trotz ankämpfend. »Ich musste eine Entscheidung treffen. Und das schnell. Hätten Sie diese Kinder ihrem Schicksal überlassen?«

Statt ihr zu antworten, lief der Chief zum Schreibtisch und deutet auf die Akten, die sich dort stapelten. »Fünf Monate Undercover-Arbeit.« Er nahm die oberste Akte und ließ sie in den Mülleimer fallen. »Umsonst.«

Orla wollte protestieren, doch es blieb bei einer hilflosen Handbewegung.

»Und Grogon treibt da draußen weiterhin sein Unwesen«, fuhr der Chief mit einem Blick Richtung Fenster fort. »Er wird sich neue Opfer suchen und es werden auch Familien unter ihnen sein. Sie haben heute vielleicht diese Kinder gerettet, aber gleichzeitig hunderte anderer Leben in Gefahr gebracht. Denn jetzt, wo er weiß, dass wir ihm auf den Fersen sind, wird er umso vorsichtiger sein.« Er ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen und seufzte. »Sie hatten eine einmalige Chance in Ihren Händen, Mayfield – und Sie haben sie achtlos weggeworfen.«

Das Seltsame an Prangern war, dass man sich irgendwann, wenn man genug Dreck abbekommen hatte, seinem Schicksal ergab. Die ersten faulen Eier in ihre Richtung hatte sie noch abwehren wollen, schließlich war sie nicht die Einzige, die umstrittene Entscheidungen getroffen hatte.

Hätte sie Fitzsimmons nicht davor bewahren müssen, in Stücke gerissen zu werden, hätte sie sich Grogon schnappen können. 

Hätte. Vielleicht.

Egal. 

Der Schandpfahl war für sie reserviert. 

Für niemand anderen. 

Sie würde es einfach über sich ergehen lassen.

»Ich kann mich nur noch einmal entschuldigen, Sir«, sagte sie leise. Anstatt ihre Energie in Schuldabwehr zu stecken, würde sie sich das letzte bisschen Kraft für Grogon aufsparen. Mit Dick Mason hatte sie ihren Trumpf, der die Operation doch noch retten konnte.

»Dick Mason!« Wie aufs Stichwort steckte Stanford seinen Kopf durch die Tür. In seinem Blick lag Panik. »Er ist …« Verzweifelt sah er Orla an. »Mit ihm stimmt was nicht.«

Orla stürmte aus dem Büro an Stanford vorbei und hastete die Treppen zu den Katakomben im Keller hinunter. Dort angekommen, blieb sie wie angewurzelt stehen. Dick Mason lag reglos am Boden des Verhörraumes, die Augen weit aufgerissen. Orla kniete sich hastig neben ihn auf den Boden und fühlte seinen Puls.  

Nichts. 

»Nein, nein, nein!« Sie beugte sich über ihn und erschrak, als sie die starren Pupillen sah, aus denen jedes Leben gewichen zu sein schien. »Komm schon, tu mir das nicht an!« Energetisch klatschte sie mit ihrer Hand gegen seine Wange. Doch als sie die kleinen, weißen Schaumbläschen in seinen Mundwinkeln bemerkte, hielt sie inne.  

»Ich hab ihn nur zwei Minuten allein gelassen«, hörte sie Stanford sagen. »Er wollte ein Glas Wasser. Als ich wiederkam, lag er so da.«

»Was ist mit ihm?« Der Chief war ihnen in den Verhörraum gefolgt und stand nun mit verschränkten Armen im Türrahmen.

»Er ist tot, Sir«, antwortet Orla mit matter Stimme und erhob sich.

Die hinzugerufenen Sanitäter betraten den Raum und versuchten zu retten, was nicht mehr zu retten war. Orla stolperte benommen an ihnen vorbei vor die Tür. Draußen lehnte sie sich an die Wand, schloss die Augen und atmete tief durch. Ihr Kopf dröhnte. Ihr Körper schmerzte. Es war, als würde der Ballast der letzten Stunden plötzlich sein gesamtes Gewicht über ihr ausbreiten und sie nun erbarmungslos in die Knie zwingen.

Das Spiel war aus.

Verloren.

Vorbei.


Hat dir das Kapitel gefallen? Dann freue ich mich über deine Unterstützung.