11 Familienbande

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Lucinda ließ den Arm des Plattenspielers behutsam niedersinken. Auf das anfängliche Knistern folgten die vertrauten Klänge eines Songs, dessen Leichtigkeit sie für einen kurzen Moment aus der Wirklichkeit riss und in die Vergangenheit trug: Arm in Arm mit einem Schatten, trunken vor Glück, die Zukunft nur eine vage Skizze ohne Bedeutung. 

»Deeskalationsmusik?«, hörte sie Samaels Stimme hinter sich. »Wenn ich gewusst hätte, dass es so schlecht um den Familienfrieden steht, wäre ich früher gekommen.«

Nur zögerlich löste Lucinda sich von der Erinnerung und betrachtete ihren Sohn, der es sich auf dem Sofa bequem gemacht hatte. Beim letzten Besuch hatte er weniger fremd gewirkt. Nicht wirklich vertraut – daran hatte sie sich mittlerweile gewöhnt – aber nahbarer. Es schien, als würde er jedes Mal einen anderen Teil von sich in Pandaemonia zurücklassen und gegen etwas eintauschen, das für sie nicht mehr greifbar war. Sie fürchtete, irgendwann einer leeren Hülle gegenüberzusitzen, die sich, wenn sie die Hand ausstreckte, in Luft auflösen würde.

»Ich weiß ja, wie lächerlich du das alles hier findest«, antwortete sie. »Aber könntest du mir einen Gefallen tun und mir wenigstens meine Musik lassen?« 

Als Zeichen der Entschuldigung hob Samael beide Hände, doch das überhebliche Grinsen auf seinem Gesicht blieb.

Lucinda dachte an Aamon und wie er auf diesen Affront reagiert hätte. Vielleicht war sie einfach zu nachsichtig mit ihrem Jüngsten. 

Mit einem gut gefüllten Häppchenteller in der Hand und einem Seufzen auf den Lippen setzte sich ihm gegenüber auf einen der Sessel. »Solange Cyrus noch nicht da ist, können wir vielleicht kurz über diese Person sprechen, die du in unser Haus gebracht hast.«

»Keine Sorge, Mutter. Bis zum Fest ist sie verschwunden.« Die Zeitschrift vor ihm auf dem Tisch schien Samael mehr zu interessieren als das Gespräch. 

»Sie kann sich hier nicht so aufführen. Ganz Thornwood ist wegen ihr in Aufruhr.«

»Übertreibst du nicht ein bisschen?« 

Dass er seelenruhig in dem Magazin blätterte, während sie redeten, trieb Lucindas Puls langsam aber stetig nach oben.

»Übertreiben? Sie scheucht die Angestellten in einer Tour durch die Gegend. Sie spielt sich auf, als wäre sie die Hausherrin. Eines der Mädchen wurde sogar von ihr bedroht. Hast du eine Ahnung, wie viel Unruhe ihr Verhalten in die Belegschaft gebracht hat?« Sie ließ ihren Teller so rabiat auf den Tisch knallen, dass die Wucht ihr zumindest die gewünschte Aufmerksamkeit bescherte.

»Es wird nicht wieder vorkommen«, sagte Samael und sah sie dabei direkt an. »Ich habe das geklärt.« 

»Ich will, dass sie verschwindet. Sonst kümmere ich mich persönlich um sie.« Lucinda nahm den Teller wieder auf, doch so richtig wollten die Häppchen nicht mehr schmecken.

»Sehr wohl, Ma’am.«

»Komm mir nicht so, Samael.«

»Was immer Euch glücklich macht, Majestät.«

Das Talent, andere zu lesen und gezielt aus der Fassung zu bringen, hatte er von seinem Vater geerbt. Beide wussten stets, welche Knöpfe sie bei wem drücken mussten, und ihr größtes Vergnügen schien es, die Fassade Stück für Stück bröckeln zu sehen, bis das Gegenüber in seine Einzelteile zerfallen war. 

Samael hatte diese Fertigkeit perfektioniert. Er spielte andere wie Instrumente – mit der Leichtigkeit eines Virtuosen und der Zerstörungswut eines Vandalen. Beseelt von der Disharmonie, die er auslöste, provozierte er solange schiefe Töne, bis er genüsslich darin baden konnte. Lucindas Stolz wäre grenzenlos gewesen, wenn er diese Gabe nicht ständig gegen sie selbst richten würde.

»Können wir gleich zur Sache kommen?« Mit hektischen Schritten kam Cyrus ins Zimmer gepoltert, ohne von seinem Handy aufzublicken. »Ich hab in einer halben Stunde ein wichtiges Telefonat« 

»Noch immer damit beschäftigt, die Weltherrschaft an dich zu reißen?« Samael lehnte sich zurück und breitete die Arme auf der Rückenlehne des Sofas aus. 

»Kann eben nicht jeder so planlos durchs Leben laufen wie du«, antwortete Cyrus ungerührt, während er sich auf dem einzigen Sessel niederließ, der noch frei war. »Wie ich hörte, gab es Ärger, weil du deine Spielgefährtin nicht im Griff hattest?« Er legte das Handy auf den Tisch und musterte seinen Bruder, als wäre er ein verwahrloster Schiffbrüchiger nach der Heimkehr.

»Was soll ich sagen – sie hat Feuer«, gab Samael zurück. 

»Und liebt offenbar den dramatischen Auftritt. Vielleicht solltest du sie zum Ball mitbringen?«

»Schluss mit dem Unfug«, fuhr Lucinda dazwischen. »Können wir diese unsägliche Geschichte ruhen lassen und uns bitte auf das Wesentliche konzentrieren? Ich hab euch nicht ohne Grund hierher gebeten.« 

»Richtig.« Cyrus knöpfte sein Sakko auf und lehnte sich vor. »Der Grund deiner Einladung. Ich bin gespannt, was so wichtig ist, dass es nicht bis heute Abend hätte warten können.«

»Nun, zum einen ist dein Bruder zurück«, sagte Lucinda und bedachte ihn mit einem tadelnden Blick. »Und für gewöhnlich nimmt man das in normalen Familien zum Anlass, zusammen zu kommen und sich auszutauschen.«

»Seit wann sind wir normal?«, sagte Samael.

»Das scheint mir auch eine gewagte These.« Cyrus nickte. »Als Familie sind wir in etwa so normal wie ein Schneesturm in den Lavahöhlen von Caligor.«

»Und so funktional wie eine stehen gebliebene Uhr.« Samael griff erneut nach der Zeitschrift, doch bevor er sein Desinteresse ein zweites Mal so demonstrativ zur Schau stellen konnte, hatte Lucinda das Heft mit einem Fingerzeig durch die Luft vom Tisch gewirbelt, sodass es außer Reichweite auf den Boden fiel. »Könntet ihr mir zuliebe wenigstens so tun, als wärt ihr auch nur marginal am Leben des anderen interessiert.«

»Oh, glaub mir, ich weiß mehr über Samaels Eskapaden als mir lieb ist, Mutter.« Cyrus nahm sein Handy vom Tisch, denn es vibrierte hektisch. Er wagte jedoch nur einen kurzen Blick auf das Display, bevor er es ausschaltete und wegsteckte.

»Über dein beängstigendes Interesse an meinem Privatleben sollten wir mal reden, Bruderherz«, sagte Samael. »Woher kommt diese Obsession? Was kompensierst du damit?«

»Du könntest ruhig etwas dankbarer sein«, entgegnete Cyrus. »Ohne die Hilfe meiner Männer würdest du heute nicht hier sitzen.«

»Ich bin mir sicher, du wärst untröstlich.« 

»Ob du es glaubst oder nicht – mir liegt tatsächlich viel an deinem Wohlergehen.« 

Samael lachte spöttisch. »Ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass der Einzige, der dir wichtig ist, jeden Morgen selbstgefällig aus dem Spiegel zurücklächelt.«

»Mutige Aussage von jemandem, dessen größtes Opfer für diese Familie bisher darin bestand, hier aufzutauchen.« Oberflächlich betrachtet, wirkte Cyrus gelassen, doch Lucinda kannte ihn zu gut. Sie ahnte, wie schwer es ihm fiel, ruhig zu bleiben. 

»Womöglich habe ich aber auch einfach etwas falsch verstanden«, sagte er. »Ich dachte immer, du machst dir auf meine Kosten eine schöne Zeit in Pandaemonia. Ein bisschen Zündeln hier, ein bisschen Kokeln da – wie es dir gerade gefällt. Und dann lehnst du dich zurück und siehst zu, wie andere die Kohlen aus dem Feuer holen. Aber vielleicht sind das keine Ego-Trips, sondern Charity Events, die du dort veranstaltest. Vielleicht bist du ein Wohltäter, ein verdammter Altruist. Klär mich auf! Vielleicht kann ich meine Hilfe als Spende geltend machen und von der Steuer absetzen.«

»Niemand zwingt dich dazu, dich ständig einzumischen.« 

Cyrus beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und verschränkte die Hände ineinander. »Doch. Das ist genau das Problem. Du zwingst mich. Wenn ich nichts unternehmen würde, hättest du mich schon längst mit in den Abgrund gerissen. Jedes Verhalten hat Konsequenzen, Samael. Und dein Verhalten hat Konsequenzen für uns alle.«

Mit einem schrillen Kratzen verrutschte die Nadel des Plattenspielers. Auf schnulzige Pianoklänge folgte peinliche Stille.

»Und genau deshalb habe ich dieses Treffen einberufen«, sagte Lucinda und erhob sich von ihrem Sessel. »Ich habe mir etwas überlegt, um diese Familie wieder näher zusammenzubringen.« Sie schaltete den Plattenspieler aus. 

»Dazu müsste mein lieber Bruder erst mal erwachsen werden«, sagte Cyrus. »Und Verantwortung für sein Handeln übernehmen.«

»Und genau das wird er.« Lucinda lief zum Sekretär und holte die Dokumente aus der Schublade, die sie sich extra bereitgelegt hatte.