Als Samael die Partie nach zähem Kampf schließlich für sich entscheiden konnte, hörte man bereits die ersten Vögel vor dem Fenster in der Morgendämmerung ihr Lied zwitschern. So tapfer sich Orla auch Samaels Angriffen entgegengestellt hatte – am Ende war sie chancenlos. Ihre Enttäuschung darüber hielt sich in Grenzen, denn jeder Rückschlag auf dem Feld hatte sie an anderer Stelle nach vorne rücken lassen. Auch wenn Samael für die APA keine Priorität hatte, schien das Wissen, das sie in dieser Nacht über ihn geschürft hatte, einige Körnchen Gold zu enthalten.
Erst jetzt – da das Spiel vorüber war – bemerkte sie die Schwere ihrer Augenlider und die Müdigkeit, die ihren Körper immer rücksichtsloser lähmte. Während sie sich zur Seite drehte, um ihr Gähnen hinter vorgehaltener Hand zu verbergen, hörte sie das Rappeln der Bataroi-Kiste und kurz darauf waren alle Figuren verschwunden, als hätte es die Tumulte der letzten Nacht nie gegeben. In Samaels Blick meinte sie dieselbe Unentschlossenheit zu lesen, die auch sie umtrieb. Gehen? Bleiben? Niemand schien gewillt, eine Entscheidung zu treffen.
Schließlich war Orla diejenige, die den Anfang machte und sich räuspernd von ihrem Stuhl erhob. Sie verschränkte die Hände vor ihrer Kittelschürze und nickte unbeholfen, insgeheim hoffend, dass Samael es übernehmen würde, die richtigen Worte zum Abschied zu finden. Als der sich ebenfalls erhob und einen Schritt auf sie zu machte, dachte Orla an die bedrohliche Wucht ihrer ersten Begegnung und wie vieles davon in den letzten Stunden dahingeschmolzen war. Die neue Nähe fühlte sich ungewohnt an – heikel und fragil, wie ein Sandschloss, das in Zeiten der Ebbe gebaut wurde und jederzeit von der Flut heimgesucht werden konnte.
»Ich habe das Gefühl, dich irgendwie entschädigen zu müssen«, sagte Samael.
»Wofür?«
»Für die gestohlene Zeit.«
»Das ist schon in Ordnung, Sir«, antwortete Orla, während sie mühsam gegen die Müdigkeit anzwinkerte.
»Dann für den verlorenen Schlaf.«
»Das werde ich verkraften.«
»Mein Angebot steht. Wenn du den heutigen Tag frei haben willst, kann ich das einrichten«, sagte Samael.
Orla dachte an ihre Mission, an die Gästeliste, die sie unbedingt in die Finger bekommen wollte, an die Bibliothek, die auf sie wartete. »Bloß keine Sonderbehandlung«, antwortete sie und erschrak über den Anflug von Panik in ihrer Stimme. »Das wäre mir nur unangenehm.«
»Kann ich mich irgendwie anders erkenntlich zeigen?« Die Art, wie Samael sie ansah, ließ Orla ahnen, dass dies keine Frage im eigentlichen Sinne war und ein Nein nur theoretisch zur Wahl stand. »Ich möchte gerne etwas zurückgeben«, schob er freundlich, aber bestimmt nach.
»Das haben Sie bereits«, sagte Orla. »In den Momenten, als Sie mir auf Augenhöhe begegnet sind. Immer dann, wenn Sie zugehört und mich ernst genommen haben.«
»Wer hätte gedacht, dass sich ein wenig Anstand als Währung auszahlen würde.« Obwohl Samael schmunzelte, schien er unzufrieden zu sein, denn sein Lächeln wich augenblicklich einem Ausdruck des Bedauerns. »Dann sind wir also quitt?«
»Das sind wir«, sagte Orla und deutete einen Knicks an. »Sie schulden mir nichts, Sir.«
»Das fühlt sich nicht richtig an«, sagte Samael. »Jemand, dessen Lebenszeit so knapp bemessen ist, muss doch anständig kompensiert werden.« Ohne einen letzten Seitenhieb konnte er sie offenbar nicht gehen lassen.
»Wie überaus zuvorkommend von Ihnen, mich noch einmal so charmant an meine Sterblichkeit zu erinnern«, sagte Orla. »In der Tat würde ich ein paar Extratage auf meinem Lebenszeitkonto nicht ausschlagen.«
»Ich kann vieles ermöglichen, aber das liegt außerhalb meiner Fähigkeiten« Das Bedauern in Samaels Stimme klang ehrlich.
»Dachte ich mir.«
»Aber ich wüsste jemanden, der uns vielleicht auf anderem Wege helfen kann.«
Bevor Orla etwas einwenden konnte, schnipste Samael mit dem Finger und der Raum begann sich zu drehen. Ungläubig sah sie zu, wie die Einrichtung in einem Meer aus Farben verschwamm, die Tapete mit den Vorhängen zu bizarren Kaugummifäden verschmolz und die Teppiche die Möbel verschluckten. Alles drehte sich in einem wilden Strudel, der immer schneller um sie herum rotierte.
Orla wollte protestieren, denn mit Karussellfahrten – egal, welcher Art – hatte sie schlechte Erfahrungen gemacht. Doch sie brachte kein Wort heraus. Intuitiv schloss sie die Augen und sah ihren Vater vor sich, der mal wieder ihren Geburtstag vergessen und deshalb die letzten Pennies zusammengekratzt hatte, um seiner Tochter eine Fahrt auf dem Jahrmarktkarussell zu schenken – eine Tortur, die sie tapfer ertragen hatte, obwohl die Übelkeit mit jeder Runde mächtiger wurde. Nur um ihn ein Mal lächeln zu sehen.
Der bittere Geschmack des Moments lähmte ihre Zunge, auch nachdem sie längst die Augen wieder geöffnet hatte. Verwirrt sah sie sich um, denn der Ort, an dem sie sich befanden, war neu und vertraut zugleich. Dort, wo sie und Samael vor kurzem noch Bataroi gespielt hatten, brodelte nun ein Kessel im Feuer, über ihren Köpfen hingen Kräuterbüschel, die einen heimeligen Geruch verströmten und auch das Katzenkissen auf der Fensterbank kam ihr bekannt vor.
»Pyramus.« Samaels Stimme dröhnte so laut durch das Zimmer, dass Orla befürchtete, er hätte den Rest des Hauses gleich mitgeweckt. Die Selbstverständlichkeit, mit der er davon ausging, dass alle anderen jederzeit Gewehr bei Fuß standen, verblüffte Orla, obwohl sie es inzwischen besser hätte wissen müssen. Schließlich floss durch seine Adern die Hybris ganzer Dämonengenerationen. Von Demut hatte er mit großer Wahrscheinlichkeit schon mal gehört, das Konzept aber naserümpfend als Unsinn verworfen.
»Sie haben gerufen, Sir?« Der Warlock quetschte sich durch den Türspalt des Nachbarzimmers und zog die Tür hinter sich zu, als müsse er den Nachbarraum vor neugierigen Blicken schützen. »Was können wir für Euch tun?«
Er verbeugte sich mehrfach.
Entweder gehörte er zu den Lerchen und war schon seit einer Weile wach oder er hatte die Nacht durchgemacht, denn er wirkte nicht wie jemand, den man gerade aus dem Schlaf gerissen hatte. Er trug den grauen Arbeitskittel, den Orla aus brenzligen Situationen kannte. Vermutlich war er gerade mal wieder dabei, Substanzen zu mischen, deren Reaktion er nur vage abschätzen konnte. Er nannte es Pionierarbeit, sie nannte es Leichtsinn. Und dem war er so gut wie jedes Mal verfallen, wenn sie vorbeikam, um nach ihrem Zögling Pixie zu sehen. Bei ihrem letzten Besuch hatte sie nur der beherzte Griff nach dem Feuerlöscher vor größerem Schaden bewahrt.
»Wir brauchen etwas aus deinem Wunderschrank«, sagte Samael.
Pyramus schaute irritiert von einem ungebetenen Gast zum anderen. »Jetzt?«
»Wenn es keine Umstände macht.« Es war eine dieser Antworten, die das Gegenteil von dem implizierten, was die Worte versprachen, denn die Art, wie Samael den Warlock anlächelte, ließ keinen Zweifel daran, dass es ihm herzlich egal war, ob die Situation für Pyramus Unannehmlichkeiten mit sich brachte.
»Selbstverständlich.« Der Warlock deutete eine weitere Verbeugung an und verschwand im Nebenzimmer.
Heimlich schaute Orla auf ihre Armbanduhr und fragte sich, ob Nell schon bemerkt hatte, dass ihr Bett bisher leer geblieben war. Ihre Schicht war seit Stunden zu Ende und wenn ihre Abwesenheit sich erst mal bis zu Madame Mildred herumsprach, würden lästige Fragen nicht lange auf sich warten lassen. Sie hatte nichts Unrechtes getan und dafür auch einen überzeugenden Kronzeugen an ihrer Seite – die Aufmerksamkeit wäre dennoch hinderlich. Mit Getuschel verhielt es sich wie mit Kletten: Irgendetwas blieb immer hängen. Deshalb durfte man das Wurzelwerk erst gar nicht wuchern lassen.
»Was auch immer das hier werden soll – es ist wirklich nicht nötig, Sir«, sagte sie an Samael gewandt. »Ich brauche einfach ein wenig Schlaf. Dann bin ich schon glücklich.«
»Bestimmt hat Pyramus etwas in Richtung Vigilanzia da«, antwortete er. »Um dein Energielevel wieder aufzufüllen.«
»So ein magischer Trunk aus gerösteten Bohnen? Das wäre was. Vielleicht habe ich ja Glück und bekomme einen mit Milchschaum und einer Prise Kakaopulver.«
Der Witz starb einen unwürdigen Erstickungstod in den Tiefen der Stille zwischen ihnen. Und das war auch nicht weiter verwunderlich. Wieso sollte sich ein Dämon, der Müdigkeit nur als Schwäche der anderen kannte, für koffeinhaltige Booster-Gebräue der Menschen interessieren?
Bevor es zu weiteren Fehlzündungen kommen konnte, erschien Pyramus mit einer klobigen Holzkiste in den Händen. Er sah sich unschlüssig um und legte sie schließlich in Ermangelung eines Tisches direkt vor seinen Füßen ab. Als er sich an Ort und Stelle im Schneidersitz niederließ, um die Kiste mit einem rostigen Schlüssel zu öffnen, schauen sich Samael und Orla unentschlossen an. Schließlich folgten sie seinem Beispiel und machten es sich auf dem Teppichboden bequem. Es hatte etwas von einer geheimen Séance, wie sie zu dritt im Kreise saßen, nur dass sie nicht auf ein Ouija-Brett, sondern auf eine antike Holzkiste starrten.
Begleitet vom Knistern des Feuers klappte der Warlock den Deckel zur Seite und gab den Blick frei auf dutzende Flakons, die sorgsam in Fächer einsortiert und mit unleserlichen Schildchen versehen waren. Es schien sich um eine Art Reiseapotheke zu handeln, die jedoch deutlich in die Jahre gekommen war. Die Scharniere hakten beim Ausklappen und auch die wackligen Schubladen hatten die besten Tage bereits hinter sich. Orla dachte an die Vorliebe des Warlocks für moderne Ausrüstung und fragte sich, ob das hier nur der Vorführkoffer war – reine Dekoration für Nostalgiker wie Lucinda Kingsley. Die Aura des Mystischen fing er damit auf jeden Fall besser ein als mit dem sterilen Metallkoffer eines Pharmavertreters.
Stumm blickte Pyramus in die Runde. Am leichten Zucken seiner Oberlippe bemerkte Orla, dass er seinen Schatz nur widerwillig präsentierte. Sie fühlte sich schlecht, weil sie nicht nur ungefragt eingedrungen waren, sondern ihn außerdem zu Dingen zwangen, auf die er gar keine Lust hatte. Gerne hätte sie das Ganze beschleunigt, damit jeder wieder seiner Wege gehen konnte, doch dazu hätte sie wissen müssen, warum sie überhaupt hergekommen waren. Ungeduldig sah sie zu Samael hinüber und rutschte dabei auf den Knien hin und her, als wäre der Teppich aus glühenden Kohlen.
Den Kingsley-Erben schien das alles nicht aus der Ruhe zubringen. Ohne um Erlaubnis zu fragen, griff er in die Kiste und nahm eine der Ampullen heraus, um sie näher zu betrachten. Die gelbe Flüssigkeit im Inneren leuchtete so hell wie die Knicklichter, von denen Orla als Kind so fasziniert gewesen war.
»Fluxus 528«, las Samael vom vergilbten Etikett ab.
»Etwas für die Stimme.« Pyramus wollte nach dem Fläschchen greifen, zögerte aber und zog die Hand schließlich zurück. »Damit kann man allein mit seinem Gesang Dinge schmelzen lassen.«
Orla lachte auf, biss sich jedoch auf die Lippe, als sie sah, wie verschnupft Pyramus auf ihren kleinen Ausbruch reagierte.
»Wie muss ich mir das vorstellen?«, fragte Samael.
»Man singt und Dinge schmelzen«, antwortete der Warlock, als hielte er seine Gäste für begriffsstutzig.
Die Vorstellung, den geheimen Tresor in der Bibliothek mit einem Liedchen schmelzen zu lassen, amüsierte Orla. Praktikabel schien es trotzdem nicht.
»Ist der Master denn auf der Suche nach etwas Bestimmtem?« Der Blick des Warlocks blieb auf den kostbaren Flakon in Samaels Händen gerichtet.
»In der Tat«, antwortete der und stellte die Ampulle wieder zurück. »Wir haben ein ganz konkretes Problem und glauben, dass du uns dabei helfen kannst.« Er machte eine kurze Pause, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr: »Wir brauchen Lebenszeit.«
Der Warlock runzelte die Stirn und auch Orla verstand nicht wirklich, worauf er hinauswollte.
»Das WIR ist in dem Fall natürlich nicht ganz richtig.« Mit beiden Händen deutete Samael auf Orla. »Meine Begleitung ist diejenige, die wertvolle Lebenszeit verloren hat. Und ich möchte ihr gerne etwas davon zurückgeben.«
Pyramus verzog das Gesicht, als hätte er auf ein Pfefferkorn gebissen. »Und wie können wir dabei behilflich sein?« Er rieb sich den langen Bart. »Die dunklen Mächte …«
»Ich rede nicht von schwarzer Magie«, unterbrach ihn Samael. »Ich dachte an etwas Simpleres. Einen Trank, der ihr hilft, ihre Arbeitsabläufe zu beschleunigen.« Er wandte sich an Orla. »Denn wenn du schneller mit deinen Aufgaben fertig bist, hast du automatisch mehr Zeit zur freien Verfügung, richtig?«
Es war irgendwie putzig, wie einfach er sich das Ganze vorstellte. Jeder, der in Lohn und Brot stand, wusste, dass eingesparte Zeit oft nur ein Mehr an Arbeit mit sich brachte. Gerade in einem so großen Hause wie Thornwood gab es immer etwas zu tun. Madame Mildred würde sie bei Zieleinlauf vor Schichtende einfach mit lustigen Sonderaufgaben belohnen.
Sie nickte trotzdem brav, denn die Frage, wie Pyramus ihr dabei helfen sollte, effizienter zu werden, war zu spannend und die Neugier größer als ihr Pessimismus.
»Mehr Hände wären hilfreich«, sagte sie zum Scherz, doch der Warlock schluckte ihren Kommentar mit einer Ernsthaftigkeit, die sie verstummen ließ. Er schien das ohne jede Ironie im Kopf durchzuspielen. Orla sah sich mit den Armen eines Oktopus parallel den Staubwedel schwingen, die Fenster putzen und den Boden wischen und so reizvoll das auch klang, so befremdlich war der Gedanke.
»Wir haben leider nichts dergleichen hier«, sagte Pyramus und die Enttäuschung in seiner Stimme wunderte Orla. Wo war der genervte Eigenbrötler, der sie so schnell wie möglich wieder loswerden wollte? Der Warlock ließ seinen Blick über die Fläschchen schweifen. »Wie wäre es mit einem Elixier, das deinen Körper in Gummi verwandelt?«, murmelte er, holte einen lilafarbenen Flakon aus der Kiste und hielt ihn Orla unter die Nase.
»Und warum sollte ich das wollen?«, fragte sie irritiert.
»Du wärst flexibler. Deine Haut wäre elastischer, deine Gliedmaßen gelenkiger. Du könntest dich um ein Vielfaches strecken.«
»Perfekt«, rief Samael, als hätten sie gerade die Formel für Weltfrieden entdeckt. »So kommst du überall viel leichter heran und das ganz ohne Leiter.« Dass er sich die Gelegenheit nicht entgehen ließ, auf ihr Missgeschick in der Bibliothek anzuspielen, war nicht überraschend. Überhaupt schien er viel Spaß an den absurden Gedankenexperimenten zu haben. Und auch Orla erkannte in diesem Moment, welch gute Geister sie in dieser Runde gerade heraufbeschworen. Das richtige Elixier zur richtigen Zeit würde ihr Möglichkeiten eröffnen, von denen sie nicht zu träumen gewagt hatte.
Mit leuchtenden Augen beugte sie sich über die Kiste, bemühte sich aber um einen gleichgültigen Ton. »So reizvoll die Vorstellung auch sein mag, mit acht Armen herumzuwedeln, Müll einfach wegzusingen und sich vom Ostflügel zum Westflügel strecken zu können, würde ich etwas weniger Extravagantes bevorzugen«, sagte sie. »Vielleicht eher so etwas wie einen Beschleuniger, der mir die vielen Wege verkürzt?« Beim Gedanken daran, ihre heimlichen Erkundungen in Lichtgeschwindigkeit erledigen zu können, rieb sie sich aufgeregt die Finger. In einem Wimpernschlag hin und zurück, bevor jemand ihre Abwesenheit bemerkte – das würde die Ermittlungen auf ein ganz anderes Level heben.
Natürlich waren ihr noch weitere nützliche Fähigkeiten eingefallen. Doch inwiefern Telepathie, Unsichtbarkeit oder ein Röntgenblick ihr die Hausarbeit erleichtern sollten, schien ihr auf die Schnelle nur schwer vermittelbar, ohne bei den anderen Verdacht zu erregen. »Schneller zu Fuß zu sein, wäre schon eine Riesenentlastung«, schob sie nach.
Der Warlock rümpfte die Nase. »Für solche Banalitäten verschwenden wir weder unsere Zeit noch unser Talent«, murmelte er und klappte den Deckel der Kiste wieder zu. »Höher, schneller, weiter ist alles, was euch einfällt. Wo sind die Visionen? Wo das Besondere?«
»Ich bin nur ein einfaches Hausmädchen«, antwortete Orla und senkte in gespielter Demut den Kopf. »Visionen kann ich mir nicht leisten.« Sie kannte den Pyramus inzwischen gut genug, um von seinen Sympathien für die Benachteiligten zu wissen.
»Es tut uns leid, dass wir dir nicht weiterhelfen können«, sagte er. »Unsere Kreationen sind spezieller Natur. Exklusiv und einzigartig.«
»Verstehe«, sagte Orla und schenkte ihm ein versöhnliches Lächeln. »Jedes einzelne ein kleines Kunstwerk der Braukunst. Vermutlich nirgendwo anders auf der Welt zu finden.«
»Nicht einmal in den hintersten Ecken von Pandaemonia.« Das Gesicht des Warlocks hellte sich etwas auf. »Nur hier! Von uns entwickelt, getestet und verfeinert.«
»Um das noch einmal klarzustellen …« Samael räusperte sich überraschend aus seiner Beobachterecke. »Es gab auch schon mal Menschen, die in den Genuss deiner Elixiere gekommen sind, richtig?«
»Wenige.« Pyramus rieb sich erneut den Bart. »Mit unterschiedlichem Ausgang.«
Die Antwort verunsicherte Orla. Doch sie wollte jetzt keinen Rückzieher machen. »Aber alle haben es überlebt?«, fragte sie.
»Im Großen und Ganzen schon.« Der Warlock zuckte mit den Schultern. »Soweit wir uns erinnern.«
»Von deinen Klonen mal abgesehen«, sagte Samael.
»Klone?« Verwirrt sah Orla von einem zum anderen.
»Das waren ja streng genommen keine Menschen«, sagte Pyramus und hob entschuldigend die Hände. »Und getötet haben wir sie auch nicht, sondern vorsichtig re-integriert.« Er legte beide Hände auf seine Brust und schloss für einen kurzen Moment die Augen, als würde er in der Erinnerung zurückreisen.
»Jetzt bin ich neugierig«, sagte Orla. »Was hat es mit diesen Klonen auf sich?«
»Vor ein paar Jahren kam es bei einem seiner Experimente zu unerwünschten Nebenwirkungen.« Samael legte Pyramus seine Hand auf die Schulter. »Unser Freund hier bekam Schluckauf und mit jedem Hicks erschien ein Doppelgänger auf der Bildfläche, der sich ebenfalls per Schluckauf verdoppelte. Das ganze Haus wimmelte vor Duplikaten. Es war ein Fest.«
Orla konnte sich das Chaos lebhaft vorstellen. »Darf ich das Serum mal sehen?«, fragte sie und war überrascht, wie bereitwillig der Warlock ihrer Bitte folgte. Blinzelnd hielt sie die grüne Ampulle gegen das Morgenlicht.
»Das wäre doch die Idee«, sagte sie. »Ein Doppelgängertrank, um an mehreren Orten gleichzeitig sein zu können. Wie viel Zeit ich sparen würde …«
»Entschuldige, aber das ist nichts für Laien.« Hastig nahm ihr Pyramus das Fläschchen wieder ab. »Wir haben Jahre gebraucht, um alle Nebenwirkungen unter Kontrolle zu bekommen. Nicht auszudenken, was es mit einer Anfängerin macht, die solche Kräfte nicht bändigen kann.«
»Ein zweites Pyramageddon.« Samael griff ebenfalls nach der Flasche und lächelte diabolisch, als er das Elixier vor sich hatte – gerade so, als wäre das Klon-Desaster etwas Wünschenswertes und nicht etwas, das es abzuwenden galt.
»Und wenn ich trainiere?«, fragte Orla und setzte ihren besten Bettelblick auf. »Du könntest mir zeigen, wie ich damit umgehen muss. Du könntest mir helfen, es zu kontrollieren.«
»Dafür fehlt uns die Zeit.«
»Du könntest einen Doppelgänger von dir erschaffen, der sich darum kümmert«, sagte Samael grinsend, während er das Fläschchen in der Luft wedelte.
»Nein, weißt du was«, sagte Orla. »Du hast Recht, Pyramus. Es ist albern.« Sie stand auf und richtete ihr Kleid. »Das ist eine Nummer zu groß für mich, so wie vermutlich neunundneunzig Prozent deiner Elixiere.« Energisch griff sie nach dem Koffer und hielt ihn Samael hin, damit er die Ampulle hineinstecken konnte. Nachdem er ihrer Aufforderung verdutzt, aber folgsam nachgekommen war, reichte Orla das sperrige Ungetüm an den Warlock weiter, doch zwei der Schubladen verselbstständigten sich und schnellten nach vorne, sodass Orla kurz aus dem Gleichgewicht geriet. Bevor ihr der Koffer aus den Händen gleiten konnte, war Pyramus zur Stelle und nahm die kostbare Fracht an sich.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Das war alles eine blöde Idee. Wir hätten dich nicht so überfallen sollen.«
»Aber jetzt, wo ihr schon mal da seid …«, murmelte Pyramus. Orla hatte schon länger den Verdacht, dass er nicht sonderlich viel Besuch bekam, war bisher aber davon ausgegangen, dass er sich bewusst für die Einsamkeit entschieden hatte. Nun wirkte er etwas vor den Kopf gestoßen.
»Wir haben viele Elixiere, die durchaus geeignet wären für Menschen wie dich«, sagte er und seine Stimme hatte einen flehenden Unterton. »Wie wäre es mit der Fähigkeit, Staub in Gold zu verwandeln? Das ist nicht so kompliziert, wie man denkt …« Er öffnete den Deckel des Koffers, um das Fläschchen zu suchen, doch Orla legte ihre Hand auf die Kiste und drückte sie sanft wieder zu. »Das klingt unglaublich verlockend, aber ich habe gerade nicht das Gefühl, informierte Entscheidungen treffen zu können.« Sie lächelte ihn an. »Nach dem Frühlingsball komme ich gerne darauf zurück, aber im Moment höre ich einfach nur mein Bett rufen.«
»Tatsächlich haben wir auch etwas zum Thema Schlafen entwickelt«, sagte der Warlock. »Eine Art Unsichtbarkeitszauber aber eben für Schlafende …«
»Entschuldige, Pyramus. Gerne ein anderes Mal«, sagte Orla. »Ich sollte längst in meinem Zimmer sein. Man sucht vermutlich eh schon nach mir – auch ohne Unsichtbarkeitszauber.«
»Aber du hast doch sicher noch einen Moment, um Pixie Hallo zu sagen«, entgegnetet Pyramus. »Moment, wir holen unsere kleine Freundin.« Er ächzte, während er die Kiste wieder abstellte, um die Tür zum Hinterzimmer zu öffnen. »Wir müssten eh noch einmal über die Unterbringung reden. Auf Dauer …«
»Ich weiß.« Orla seufzte. »Ich lass mir etwas einfallen, aber jetzt muss ich wirklich los. Nach dem Ball reden wir. Versprochen!«
Der Warlock gab sich geschlagen und nahm seinen Koffer wie in Zeitlupe hoch, als würde er Orla eine letzte extralange Chance geben, ihre Meinung zu ändern. Als er keinen Einspruch hörte, verschwand er mit den Elixieren im Hinterzimmer.
»Sir?« Orla sah zu Samael hinüber. Die Furche auf seiner Stirn verriet, dass er unzufrieden mit dem plötzlichen Abbruch war, doch er nickte ihr zu und entließ sie damit in den Feierabend.
Ein Lächeln, ein Knicks und schon war sie auf dem Weg in den Angestelltentrakt. Nachdem sie in sicherer Entfernung angekommen war, holte sie eine giftgrüne Ampulle aus ihrer Kittelschürze und hielt sie triumphierend in die Luft, um das Elixier zu betrachten, bevor sie das Fläschchen wieder versteckte. Wie ungeschickt von ihr, sich so weit nach vorne zu beugen, dass die Schubladen fast aus dem Koffer gerutscht wären. Wie ungünstig, dass ausgerechnet Samael das Fläschchen als Letztes in den Fingern gehabt hatte.
Sobald Pyramus das Fehlen der Ampulle bemerkte – und das war nur eine Frage der Zeit – würde er es nicht wagen, den Verdächtigen, der gerade noch grinsend ein zweites Pyramageddon verkündet hatte, darauf anzusprechen. Er würde die Spuren verwischen, die zu ihm führten, indem er schleunigst einen neuen Trank als Ersatz braute, den Ahnungslosen geben und das Beste hoffen.
Ob und wie Orla das Elixier einsetzen würde, wusste sie noch nicht. Ihr kleiner Diebstahl war das Ergebnis einer spontanen Laune und so ganz allgemein hatte sie eher wenig Lust, in hundertfacher Ausführung durch Thornwood zu geistern. Sie würde zunächst einen Weg finden müssen, das Mittel zu testen.
Wenn dabei etwas schief gehen sollte, hätte sie zumindest keine Probleme, den Verdacht mühelos auf jemand abzuwälzen, der bereits Zeuge des ersten Pyramageddon gewesen war – jemand, der das Chaos liebte und Thornwood verabscheute.
Inzwischen war sie sicher, dass selbst Samaels Familie einem armen Hausmädchen mehr Glauben schenken würden als dem Unruhestifter in ihren eigenen Reihen.
Orlas Alibi war Samaels schlechter Ruf.