»Warum nehmt ihr nicht den kleinen Salon?«, sagte Lucinda. »Dort ist es viel gemütlicher und ihr seid ungestört.« Sie wirkte dezent überfordert, als sie sich nach Personal umsah, das sich um die ungebetenen Gäste kümmern sollte. »Ich kann euch etwas Tee und Kuchen hinüberbringen lassen …«
»Ich finde es eigentlich ganz schön hier.« Bei diesen Worten streifte Samaels Blick zufällig Orla und blieb an ihr hängen. Er schien kurz irritiert, sie in dieser Runde zu sehen, ließ sich dann jedoch zu einem freundlichen Nicken hinreißen. Obwohl Orla dem ersten Impuls nachgeben und seinen Gruß erwidern wollte, zwang sie sich zu Besonnenheit und senkte stattdessen den Blick. Niemand sollte Anlass für falsche Spekulationen haben. Noch wichtiger schien es, den Unruhestifter nicht zu ermutigen, sich in ihre Nähe zu setzen. Wie sollte sie unbemerkt ihre Handy-Aktion starten, wenn sich jegliche Aufmerksamkeit auf ihre Seite des Tisches konzentrierte?
Zu ihrem Unmut musste sie jedoch mit ansehen, wie das Personal weiteres Geschirr heranbrachte und neben ihr eindeckte.
Samael führte seine Begleitung an den Platz neben Orla und half ihr, sich zu setzen. »Ethel freut sich immer über freundliche Gesichter«, sagte er und sah seine Mutter an. »Viel Gelegenheit hat sie ja nicht. So selten wie sie vor die Tür kommt.«
»Und wie du weißt, ist das alles zu ihrem Besten«, gab Lucinda verschnupft zurück.
»Deine Fürsorge rührt mich«, sagte Samael, während er Platz nahm. Er legte seine Hand auf die knöchernen Finger der alten Dame. »Sonst sorgst du dich ja eigentlich nur um Familienangehörige, die bereits tot sind.«
»Das ist eine infame Unterstellung«, rief Lucinda etwas zu laut. Sie räusperte sich, während ihr Blick kurz durch die Runde wanderte und fuhr in gemäßigterem Ton fort: »Ich möchte dich bitten, derlei Äußerungen vor den Mädchen zu unterlassen. Das gehört nicht hierher.«
»Weil es deine sorgfältig einstudierte Inszenierung ruiniert? Den immer gleichen, eintönigen Ablauf, den du schon seit Jahren durchexerzierst?« Er wandte sich an Orla und die anderen Eintagsköniginnen. »Habt ihr Spaß bei dieser Prozedur? Oder ist euch inzwischen aufgefallen, dass ihr nur Staffage seid?«
Niemand antwortete und Samael schien auch nichts dergleichen zu erwarten.
»Kennst du auch nur einen ihrer Namen?«, fragte er stattdessen seine Mutter. Ihr Schweigen ließ ihn spöttisch nicken. »Dachte ich mir. Weißt du etwas über ihre Herkunft, wie lange sie bei uns sind … irgendetwas?«
Orla kreuzte die Finger unter dem Tisch und betete, dass er sie nicht ins Schussfeld zerrte.
»Auf diese Diskussion lasse ich mich gar nicht erst ein«, antwortete Lucinda. »Bis zu deinem Eintreffen haben wir uns prächtig amüsiert. Wenn dir die Dinge nicht gefallen, wie ich sie handhabe, kannst du gerne gehen.«
Demonstrativ wandte sich Samael an die Sitznachbarin zu seiner Rechten. »Würdest du uns deinen Namen verraten?« Sein Ton war freundlich, aber dominant. Es war mehr als offensichtlich, dass es ihn nicht wirklich interessierte, sondern nur darum ging, seine Mutter vorzuführen. Dass er alle anderen in eine unmögliche Situation brachte, schien ihm egal.
»Dorothy?« Die Antwort kam der zwischen die Fronten Geratenen nur zögerlich über die Lippen und es klang fast so, als wäre sie sich nicht sicher, ob dies wirklich ihr Name war.
»Schön, dich kennenzulernen, Dorothy«, sagte Samael, doch gerade als er fortfahren wollte, unterbrach ihn ein Kichern. Die alte Frau aus dem Turm blinzelte unter ihrem wirren Grauschopf hervor und bedachte jeden mit einem Nicken als würde sie sich ebenfalls vorstellen. Ihr Lachen war entwaffnend. So frisch wie der Wind, der den Baum von den welken Blättern befreit.
Dankbar für die Erleichterung, die dieser kindliche Moment allen verschaffte, lächelte Orla ihr zu – und auch die anderen ließen sich vom Kichern der greisen Dame anstecken. Nur Mutter und Sohn schienen noch immer in ihrer Zwietracht festzustecken und sahen sich mit ernster Miene an.
Orla kannte die Blicke. Sie kannte das schwelende Gefühl dahinter – das eines nie enden wollenden Konfliktes. Wenn es unter der Asche hartnäckig nachglühte und der nächste Ausbruch nur eine Frage der Zeit war. Sie erinnerte sich an die Andeutungen, die Samael während ihres Bataroi-Spiels gemacht hatte und ahnte, dass die beiden in einer ähnlichen Misere steckten wie ihr Vater und sie nach dem Unglück, das ihre Kindheit beendet hatte. Umgeben von Ruß, der sich in allen Poren festsetzte und das Atmen erschwerte, wenn man im selben Raum war. Den verkohlten Geruch ungenutzter Chancen an sich haftend, der die Hoffnung auf Normalität im Keim erstickte. All das hatte die letzten Jahre mit ihrem Vater vergiftet – als jedes Wort in benzingleichen Groll getränkt wurde, bevor es den anderen erreichte.
Deshalb hatte Samaels Überraschungsbesuch im Salon von Anfang an den Charakter eines Angriffs gehabt. Deshalb hatte er die alte Frau dabei: nicht einfach als Begleitung, sondern als Waffe. Was auch immer zwischen ihm und seiner Mutter vorgefallen war, diese Ethel schien eine wichtige Rolle zu spielen.
Ein spitzer Schrei ließ Orla aufschrecken. Sie folgte den Blicken der anderen und realisierte, dass der Brandgeruch in ihrer Nase nicht ihrer Erinnerung entsprang, sondern einen ganz realen Grund hatte: Ethel saß mit leuchtenden Augen vor ihrem Teller und beobachtete eine tanzende Flamme, die sich gierig durch ihre Serviette fraß. Lachend klatschte sie in die Hände, als würde sie den Takt vorgeben und den Tanz mit ihrem Blick dirigieren. Noch bevor irgendjemand einschreiten konnte, entzündete sich eine gewaltige Stichflamme Richtung Decke und löste einen Tumult aus.
Instinktiv griff Orla die alte Dame bei den Schultern, riss sie weg vom Tisch und stellte sich schützend zwischen Feuer und Brandstifterin. Sie spürte die Hitze im Rücken und hörte wie sich das Chaos hinter ihr Bahn brach. Stühle fielen zu Boden, Geschirr ging klirrend zu Bruch. Während die einen um Hilfe riefen, rissen andere Türen und Fenster auf.
Trotz der Hektik um sie herum, begann die alte Dame in Orlas Armen die Melodie eines Kinderliedes zu summen und sich sanft hin und her zu wiegen. Ihr schien jegliches Bewusstsein dafür zu fehlen, was sie mit ihrer Feuerbeschwörung ausgelöst hatte.
Aus dem Augenwinkel sah Orla wie jemand nach einer opulenten Vase griff, die Blumen herausnahm und das Wasser schwungvoll Richtung Feuer kippte.
Auf das Platschen folgte gespenstische Stille.
Als Orla sich umdrehte, entdeckte sie Lucinda, die stumm vor sich hin tropfte, wie eingefroren und wieder aufgetaut. Ihre nassen Haare klebten an den Wangen und ihr wütender Blick verriet, dass den Anwesenden das Schlimmste vielleicht noch bevorstand. Orla konnte nur ahnen, wie übel das abgestandene Blumenwasser riechen musste und wie unangenehm sich die nasskalte Kleidung auf der Haut anfühlte – ganz zu schweigen von der Demütigung, die sich mit diesem Malheur über die sonst so stolze Hausherrin ergossen hatte.
Doch ihr Mitleid wurde von der Sorge überschattet, dass Lucinda sich für die Blamage revanchieren würde – bei jedem Einzelnen und auf ihre ganz spezielle Art. Ihr zorniger Blick mochte in erster Linie Samael gelten, der das Chaos in Form von Ethel mitgebracht hatte, doch unliebsame Zeugen konnte niemand gebrauchen, der so viel Wert auf seinen Ruf legte, wie Lucinda es tat.
»Niemand verliert auch nur ein Wort über das, was hier gerade geschehen ist«, zischte sie. »Niemals! Habt ihr das verstanden?« Um Haltung bemüht, schloss sie für einen kurzen Moment die Augen, als würde sie in ihrem Innern den letzten Rest Würde zusammenkratzen, bevor sie die Schultern durchdrückte, das Kinn anhob und die nassen Haare aus dem Gesicht wischte. »Höre ich auch nur das leiseste Echo eines Gerüchtes, werde ich euch alle zur Rechenschaft ziehen«, sagte sie und Orla glaubte ein Zittern in ihrer Stimme zu hören. »Das gilt besonders für dich, Samael. Solltest du auf die dumme Idee kommen, das hier gegen mich zu verwenden, werden diese Mädchen dafür bezahlen.« Ohne ein weiteres Wort, drehte sie sich auf dem Absatz um, rauschte durch die geöffneten Türen davon und löste sich noch im Gehen in Luft auf.
Erst jetzt, als die Anspannung allmählich nachließ, bemerkte Orla, dass sie Ethel noch immer im Arm hielt. Sie war nicht sicher, wer sich während der letzten Minuten an wen geklammert hatte. Zögerlich entließ sie die alte Dame aus ihrer Umarmung.
Ethel lief in Tippelschritten zu Samael und hakte sich unter, als wäre sie nur eine unbeteiligte Zuschauerin und nicht der eigentliche Grund für das Chaos.