11 Familienbande

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»Der Grund, aus dem ich euch beide herbestellt habe, ist folgender ….« Lucinda machte eine bedeutungsschwere Pause und sah von einem Sohn zum anderen. Ihr Plan war gewagt, doch nun gab es kein Zurück mehr. »Ich werde meine Firmenanteile an Samael überschreiben.«

»Bitte was?« Cyrus starrte sie mit offenem Mund an. »Das kann nicht dein Ernst sein.«

»Natürlich nicht alles«, sagte Lucinda und deutete ihrem Ältesten mit einer beschwichtigen Handgeste, sitzen zu bleiben. »Aber genug, um ihn vernünftig in unser Unternehmen einbinden zu können. So bekommt er ein Mitspracherecht und kann beweisen, dass er in der Lage ist, Verantwortung zu übernehmen.«

»Ist dir klar, dass du damit unsere gesamte Zukunft aufs Spiel setzt?« Während Cyrus redete, zeigte er mit dem Finger auf Samael, würdigte ihn jedoch keines Blickes. »Er wird alles ruinieren, was wir mühsam aufgebaut haben.«

»Ich vertraue darauf, dass dein Bruder die nötigen Fähigkeiten mitbringt, sich der Herausforderung zu stellen.«

»Wie denn? Er hat keine Erfahrung. Kein Verantwortungsgefühl. Keine Disziplin.«

»Das kann er lernen«, sagte Lucinda gelassen. Sie stellte sich hinter das Sofa zu Samael und legte demonstrativ ihre Hand auf seine Schulter. »Es wird sicher nicht ohne dich gehen, Cyrus. Aber wenn ihr zwei an einem Strang zieht, können wir das schaffen.«

»Du willst ihm all die wichtigen Entscheidungen überlassen? Er kann nicht mal für sich selbst sorgen.« Cyrus hielt es nicht mehr im Sessel. 

Und auch Samael löste sich aus dem Griff seiner Mutter und verzog sich auf die andere Seite des Zimmers. Im Gegensatz zu seinem Bruder machte er jedoch keine Anstalten, sich in irgendeiner Form in die Diskussion einzubringen. Er zog es vor, an der Seitenlinie zu stehen und zu beobachten wie sich aus dem Funken, den Lucinda mit ihrer Ankündigung in den Raum geworfen hatte, langsam schwelend ein Brand entwickelte.

Lucinda ließ sich davon nicht beirren. Sie hatte mit Widerstand gerechnet. »Dem Ansehen der Familie würde es guttun, wenn wir auf diesem Wege Einigkeit zeigen«, sagte sie. »Lasst es uns doch wenigstens versuchen.«

»Nur über meine Leiche.« Mit dem gesenkten Kopf und dem düsteren Blick sah Cyrus aus wie ein Stier kurz vor dem Angriff. Es fehlte nur noch das Scharren mit dem Fuß.

»Es enttäuscht mich, dass du so denkst«, sagte Lucinda. Seufzend setzte sie sich auf das freigewordene Sofa und warf die Dokumente vor sich auf den Tisch. »Ich hab dir damals eine Chance gegeben, dich zu beweisen. Ich hab dir freie Hand gelassen, nachdem dein Vater weg war, und du hast etwas Großartiges erschaffen. Findest du nicht, dein Bruder hat dieselbe Chance verdient?«

»Ich habe mir das alles selbst erarbeitet«, gab Cyrus zurück. »Und er bekommt es einfach so geschenkt?« 

Ein Räuspern unterbrach die beiden. Samael hatte die Arme verschränkt und sein Lächeln verriet, dass er sich prächtig amüsierte. »Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst, Mutter, aber es dürfte ziemlich schwer sein, die Familiengeschäfte von Pandaemonia aus zu führen.«

»Du müsstest natürlich bereit sein, mehr Zeit in dieser Welt zu verbringen, und dein dortiges Leben vorerst aufgeben«, sagte Lucinda.

»Kein Interesse.« 

»Es geht nicht um Interesse, Samael, es geht um bestimmte Verpflichtungen. Die Prophezeiung …«

»Die Prophezeiung?« Cyrus lachte laut auf. »Die Prophezeiung ist ein verdammtes Trugbild. Eine blasse Reminiszenz auf die guten alten Zeiten, als Vater noch in Caligor herrschte. Sie ist ein Wunschtraum ohne jede Substanz. Und du klammerst dich an sie wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibholz.«

Lucinda wollte etwas erwidern, doch der barsche Ton, den Cyrus anschlug, verschlug ihr die Sprache.

»Du bist total fixiert darauf«, fuhr er mit verbissener Miene fort. »Weil du den Gedanken nicht ertragen kannst, dass der Name Kingsley in der alten Welt langsam an Bedeutung verliert. Du träumst von einem großen Comeback in Pandaemonia und glaubst, Samael sei der Schlüssel.«

»Das ist doch absurd«, sagte Lucinda. »Wenn ich uns dort als Familie sehen würde, wieso sollte ich ihn dann an diese Welt binden wollen?«

»Um ihn aus der Schusslinie zu nehmen.« Cyrus stützte sich auf die Sessellehne vor ihm. »Es ist dir vollkommen egal, was aus unseren Familiengeschäften wird. Du willst deinen Goldjungen nur solange in Sicherheit wissen, bis sich die Lage in Pandaemonia wieder beruhigt hat und der rote Teppich für ihn ausgerollt werden kann. Du bist bereit, alles in dieser Welt zu opfern – alles, was ich aufgebaut habe – um dein Ticket für die alte Welt nicht zu verlieren.« 

Lucindas Blick ruhte einen Moment auf ihm, bevor sie ihn mit müdem Applaus bedachte. »Du hast mich erwischt, Cyrus. Ziel meines perfiden Plans war es, euch beide gegen mich aufzubringen, indem ich Samael etwas schenke, das er überhaupt nicht will.«

»Du wirst ihm keine andere Wahl lassen, als das Geschenk anzunehmen«, erwiderte Cyrus.

»Und inwiefern profitiere ich davon, dass er alles in Grund und Boden wirtschaftet?« Lucinda zuckte mit den Schultern. »Was um Himmels Willen habe ich davon, dass du dich von mir hintergangen fühlst? Sag es mir.« 

Während Cyrus nach einer Antwort suchte, erhob sie sich und ging ruhigen Schrittes zu ihm. »Ich habe es wirklich nur gut gemeint und es tut mir leid, dass ich das ohne dein Einverständnis beschlossen habe. Aber manchmal muss man einfach Tatsachen schaffen.« Sie legte ihre Hände um sein Gesicht. »Ich nehme dir nichts weg, Cyrus. Ich schenke dir etwas. Mehr Freiheit in deinen Entscheidungen. Indem ich mich rausnehme. Du hältst weiterhin die Zügel in der Hand. Du sagst, wo es lang geht.« 

Sie drehte sich zu Samael und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Ich möchte, dass wir ein neues Kapitel aufschlagen. Lasst uns die Animositäten begraben und von vorne anfangen. Ich liebe euch beide. Ihr seid das Wichtigste in meinem Leben. Ist es denn so verwerflich, dass ich uns als Familie beieinander wissen will?«

Als Cyrus resigniert den Kopf senkte, wusste Lucinda, dass sie im Begriff war, diese Runde für sich zu entscheiden. Es gab nur noch eines zu tun. Lächelnd wandte sie sich an Samael: »Genau deshalb habe ich auch deine Großtante zu uns geholt, Sam. So sind wir alle unter einem Dach und können füreinander sorgen.«

»Ethel ist hier?« 

Die Verwirrung in seinem Gesicht amüsierte Lucinda. »Sie würde sich so freuen, wenn du mehr Zeit mit ihr verbringst.« 

»Wo ist sie?«

»Ich wünsche mir wirklich, dass unsere Familie wieder enger zusammenwächst.« Lucinda hielt ihm ihre Hand entgegen. »Dass wir mehr füreinander da sind, mehr am Leben des anderen teilhaben.«

»Sie hat sie ins Turmzimmer gesperrt«, murmelte Cyrus.

Samaels Blick war schwer zu lesen. Doch die Art, wie er die Lippen aufeinanderpresste, zeugte von einem inneren Kampf. »Ich weiß nicht, was du vorhast, Mutter«, sagte er. »Aber wenn du glaubst, dass ich mich von dir zu einer Schachfigur degradieren lasse …« 

»Entschuldige bitte, dass ich dir eine Freude machen wollte«, sagte Lucinda. 

»Indem du Ethel hier gefangen hältst?«

»Sie in professionelle Hände zu geben, war dir nicht recht. Sie hier wohnen zu lassen, ist dir auch nicht recht. Was soll ich denn machen, damit du zufrieden bist?« 

Samael sah zu dem Familienporträt an der Wand und schüttelte den Kopf. »Wenn ich eins gelernt habe in den vielen Jahren, dann ist es, dass du nichts ohne Hintergedanken tust, Mutter.«

»Warum siehst du es nicht als das, was es ist? Eine Geste der Versöhnung. Ja, es war falsch, sie fortzuschicken …«

»Das erste wahre Wort aus deinem Mund.«

»… aber ich habe es in dem Glauben getan, ihr damit zu helfen. Du weißt, wie sie sein kann.«

»Sie war dir einfach lästig.« Sein Blick traf Lucinda an einer Stelle, die schmerzte.

»Sie brauchte die volle Aufmerksamkeit von jemandem, der sich mit solch schwierigen Fällen auskennt«, konterte sie. »Aber ich will die alten Geschichten gar nicht wieder aufwärmen. Falls ich einen Fehler gemacht haben sollte, tut es mir leid.« Sorgfältig studierte sie Samaels Mimik. Er war noch immer schwer zu lesen, doch sein Schweigen weckte die Hoffnung, ihn wenigstens vorübergehend entwaffnet zu haben. »Ich möchte einfach nur Frieden«, schob sie eilig nach und registrierte mit großer Genugtuung seinen hilfesuchenden Blick Richtung Cyrus. Er schien mit sich zu kämpfen und diese innere Zerrissenheit reichte ihr vorerst.

Ohne ein weiteres Wort wandte Samael sich ab und stürmte hinaus. Cyrus folgte ihm, drehte sich jedoch ein letztes Mal um und warf ihr einen eisigen Blick zu. »Du hättest das vorher mit mir absprechen sollen«, sagte er. »Aber für dich sind wir alle nur Marionetten, die du nach Belieben tanzen lässt, richtig?« 

»Cyrus, ich …« Lucindas Worte wurden vom Knall der Tür verschluckt. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, doch dann spazierte sie zum Büfett, goss sich ein Glas Champagner ein und prostete mit einem triumphierenden Lächeln in die Luft. 

Natürlich waren die beiden aufgebracht. Natürlich fühlten sie sich hintergangen. Doch der Ärger würde irgendwann verpuffen. Bis dahin war er der Klebstoff, der die Streithähne miteinander verband. Vereint in ihrem Groll würden sie genau den Weg gehen, den Lucinda für sie vorgesehen hatte – zusammen.

Sie nippte an ihrem Glas. 

Manche Dinge waren eben größer als die Summe ihrer einzelnen Teile. Eines Tages – idealerweise in nicht allzu ferner Zukunft – würden sie ihr für die Opfer danken, die sie erbracht hatte.