11 Familienbande

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»Warte!« Cyrus folgte seinem Bruder über den Korridor, vorbei an dem Wandteppich mit den Jagdmotiven. Da Samael weder stehen blieb noch irgendwelche Anstalten machte, sich umzudrehen, nutzte Cyrus seine Kräfte, um den Weg zu verkürzen, den er sonst hätte laufen müssen und stellte sich ihm Sekunden später in den Weg. 

»Was willst du?« Samael musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. 

»Mit dir reden.« Spontan hatte ihm etwas anderes auf der Zunge gelegen, doch da er sich vorübergehend in der misslichen Lage befand, vom Wohlwollen seines Bruders abhängig zu sein, schluckte er seinen Ärger fürs erste hinunter.

»Willst du mir meine Anteile abschwatzen?«, murmelte Samael, bevor er seinen Weg fortsetzte und dabei die Schulter seines Bruders touchierte. 

Cyrus atmete tief durch. Mit geballten Fäusten, aber um einen versöhnlichen Ton bemüht, folgte er Samael den Gang hinunter. »Denkst du denn allen Ernstes darüber nach, sie anzunehmen?« 

»Nenn mir einen guten Grund, warum ich sie dir geben sollte«, antwortete Samael.

»Familiärer Frieden?« 

»Dieses Schiff ist schon vor Jahrhunderten davon gesegelt und jämmerlich untergegangen.« Samael beschleunigte seinen Schritt. 

»Du kannst nicht zulassen, dass sie uns so gegeneinander ausspielt«, sagte Cyrus. »So machst du dich doch nur zu ihrem Lakaien.« Als sie in den langen Gang des Ostflügels einbogen, an dessen Ende der Ausgang zum Garten lag, wusste Cyrus, dass ihm nur noch wenige Meter blieben, um seinen Bruder davon zu überzeugen, sich gemeinsam gegen Lucindas Pläne aufzulehnen. Also blieb er stehen. 

»Wo ist dein Kampfgeist?«, sagte er. »Seit wann lässt du dir vorschreiben, was du zu tun und zu lassen hast?«

Samael stoppte ebenfalls, blickte jedoch stur geradeaus. »Nur weil ich die Firmenanteile nehme, heißt das nicht, dass ich mich von ihr vereinnahmen lasse.«

»Entschuldige, aber genau das heißt es. Wie naiv bist du denn, dass du das nicht siehst?« Kaum war der Satz über seine Lippen gekommen, biss Cyrus sich auf die Zunge. In diplomatischen Dingen war er hoffnungslos untalentiert. Mit einem Räuspern versuchte er die Dissonanzen in seiner Stimme zu vertreiben. »Du glaubst doch nicht, dass sie das alles nicht für sich zu nutzen weiß. Natürlich wird sie dich für ihre Zwecke einspannen und sei es nur, um dich als ihren neuen Schoßhund zu präsentieren.« 

»Das wird nicht passieren«, antwortete Samael. »Sobald ich einen passenden Ort für Ethel gefunden habe – etwas anderes als dieses Gefängnis – bin ich weg und wir alle machen das, was wir am besten können: uns aus dem Weg gehen.«

»Das ist aber nicht das, was unsere Mutter will.«

»Es interessiert mich herzlich wenig, was sie will – so wie es sie auch nie interessiert hat, was ich will.«

Da Samael nicht einmal selbst wusste, was er wollte, hatte Cyrus kein Problem damit, dass ihre Mutter über seinen Kopf hinweg Entscheidungen für ihn traf. Er war Treibholz. Ohne ein bestimmtes Ziel, ohne eine bestimmte Richtung. Natürlich glaubte sie, eingreifen zu müssen, damit er nicht fortgespült wurde. Problematisch wurde es nur, wenn sie Dämme baute, wo sie nicht hingehörten – Hindernisse, die Cyrus den Weg versperrten.

»Und du meinst, dass sie dir das einfach so durchgehen lässt?«, fragte er in bemüht brüderlichem Ton. »Wir reden hier von der Frau, die unseren Vater ein Jahr lang mit eisigem Schweigen bestraft hat, weil er sich nicht ihrem Willen beugen wollte.«

»Mach mir doch keine Hoffnungen«, antwortete Samael. 

»Ich will damit nur sagen, dass sie äußerst stur sein kann. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie die Sache einfach so auf sich beruhen lässt, wenn du dich ihr widersetzt.« 

»Was will sie denn machen? Mich zwingen, die Firma in den Ruin zu wirtschaften?«

»Du hast Recht.« Cyrus äffte ihn mit einem gekünstelten Lächeln nach. »Was mische ich mich da ein. Du wirst das schon machen. Es ist ja nicht so, als hätte sie ein Druckmittel gegen dich.« 

»Wenn Ethel aus dem Schussfeld ist, hat Lucinda nichts mehr in der Hand.«

»Willst du ihre Sicherheit wirklich aufs Spiel setzen?«, rief Cyrus etwas zu laut und verstummte sofort als zwei Hausmädchen vorbeiliefen, bevor er mit gesenkter Stimme fortfuhr: Du weißt, dass unsere Mutter Mittel und Wege finden wird, sie aufzuspüren, egal wie gut du sie versteckst.«

Samael blickte zur Gartentür und schien sich in seinen Gedanken zu verlieren. Stumm verharrte er in dieser Haltung, die Hände in den Taschen. Die Zweifel waren gesät.

»Glaub mir, Sam. Im Moment ist Ethel hier am besten aufgehoben«, sagte Cyrus. Seinem Bruder die Hand auf die Schulter zu legen, kostete ihn einiges an Überwindung. »Und sie braucht dich an ihrer Seite. Hier auf Thornwood.« 

Als Samael die Augen schloss und genervt seufzte, sah Cyrus die Ziellinie am Horizont. Er hatte vergessen, wie viel Freude es ihm bereitete, seinen Bruder in Bedrängnis zu bringen. Ihm gnadenlos den Trank einzuflößen, der ihn krank machte und ihm keine andere Wahl zu lassen, als ihn dankbar zu trinken.

»Also gut«, murmelte Samael und Cyrus gefiel die Resignation in seinem Gesicht. »Was schlägst du vor?« 

»Wir spielen das Spiel nach unseren eigenen Regeln.«

»Indem wir was tun?« 

»Offiziell trittst du in Lucindas Fußstapfen«, sagte Cyrus. Inoffiziell überlässt du die Geschäfte weiterhin mir.«

»Für dich liegen die Vorteile auf der Hand«, sagte Samael. »Aber was habe ich dadurch gewonnen?«

»Zeit. Bis wir etwas gefunden haben, das wir gegen unsere Mutter verwenden können.« Cyrus dachte an den Aufsichtsrat und wie lange es wohl dauern würde, alle Mitglieder auf seine Seite zu bringen. Vermutlich hatte Lucinda sich längst ein Veto bei ihnen gesichert, für den Fall, dass Samael ihm seine Anteile bedingungslos weiterverkaufen würde. »Deshalb ist es auch so wichtig, dass du mehr Zeit mit ihr verbringst. Du musst ihr den braven Sohn vorspielen und so ihr Vertrauen wiedergewinnen.«

»Sie wird mir das Theater nicht abkaufen.«

»Glaub mir, sie wird dich mit den offenen Armen einer überglücklichen Mutter empfangen, die sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als dass der verlorene Sohn endlich heimgekehrt in den sicheren Schoss seiner Familie.«

»Wegen der Prophezeiung?« Samael verzog das Gesicht. »Meinst du wirklich, dass sie diesem Hirngespinst immer noch hinterherjagt?«

Cyrus winkte ab. »Das war nur ein Schuss ins Blaue – um sie aus der Reserve zu locken.« 

In Wahrheit hatte er längst durchschaut, was Lucinda wirklich vorhatte. Die Firmenanteile sollten Samael den Anstrich eines respektablen Heiratskandidaten geben. Doch wenn er seinen Bruder in diese Pläne einweihte, würde er sich nur ins eigene Fleisch schneiden. Es ging schließlich auch um ihn und seinen Sitz im Rat. »Im Moment ist mir ziemlich egal, warum sie was tut«, sagte er. »Wichtiger erscheint mir die Frage: Was können wir dagegen unternehmen?« 

Dass Lucinda ihren Goldjungen mit zwielichtigen Mitteln in der Spur zu halten versuchte, war die eine Sache, aber dass sie dem Einzigen, der nach Aamons Tod an ihrer Seite geblieben war, dabei in den Rücken fiel, konnte er ihr nicht verzeihen. Wenn es darum ging, Samael mit einer Führungsposition zum attraktiven Schwiegersohn zu machen, hätte sich auch etwas anderes gefunden. Ein Sitz im Aufsichtsrat. Die Stelle des CEOs in einem der Tochterunternehmen. Ein glänzender Titel hätte völlig ausgereicht, um Cordelias Familie Seriosität vorzugaukeln. Warum musste Lucinda gleich alles aufs Spiel setzen? Und warum hatte sie das über seinen Kopf hinweg entschieden?

»Gut, ich bin dabei«, sagte Samael. »Unter einer Bedingung.«

»Die da wäre?«

»Ich überlasse dir die volle Entscheidungsgewalt bei den Geschäften, wenn du mir im Gegenzug weiterhin meine Freiheiten gewährst.«

»Was genau meinst du?«

»Meine Ausflüge nach Pandaemonia«, sagte Samael. »Du wirst mein Alibi sein.«

»Auf keinen Fall«, gab Cyrus entrüstet zurück. »Das funktioniert nicht.« 

»Dann musst du dir jemand anderes für deine Rebellion suchen.«

»Okay, okay.« Beschwichtigend hob Cyrus die Hände. »Aber nur wenn du einen Gang zurückschaltest. Du kannst da drüben nicht ein Feuer nach dem anderen legen und glauben, dass ich die alle so nebenbei gelöscht bekomme.«

»Ich werde mich zurückhalten, versprochen.« Samaels Blick wanderte den Flur entlang. »Und ich werde versuchen, mich hier irgendwie einzurichten.«

»Es wird dich wundern, aber man kann auch in dieser Welt seinen Spaß haben.«

»Das bezweifle ich.« 

Dass Samael resigniert zu Boden sah wie ein Unschuldiger, der gerade lebenslänglich bekommen hatte, wärmte Cyrus das Herz. Solche Momente, in denen sein Bruder sich einfach fügte, gab es nur selten. Es hatte eine Weile gedauert, aber nun war die Zellentür ins Schloss gefallen. 

»Sieh dich um, tob dich aus. Nur pass auf, dass du uns nicht in Schwierigkeiten bringst.« Cyrus klopfte ihm auf die Schulter. 

Samael nickte, doch er schien in Gedanken schon woanders zu sein. 

Es würde ein Leichtes sein, ihm die Firmenanteile abzuknöpfen. Alles, was Cyrus tun musste, war ihn vor dem Aufsichtsrat als unkalkulierbares Risiko hinzustellen. Notfalls würde er etwas nachhelfen müssen und einige Bilanzen fälschen. Ein Kinderspiel, wenn man so lange im Geschäft war wie er. 

Sobald die Fesseln der Ehe seinen Bruder an die Betancourts ketteten und der Sitz im Rat sicher war, würde Cyrus zuschlagen und sich seinen rechtmäßigen Besitz zurückholen. Er dachte an Aamons Credo. Geduld war nicht seine Stärke, aber in diesem Fall tatsächlich seine beste Waffe.


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