Nur widerwillig trennte sie sich von dem wortgewandten Freund in braunem Einband und stellte ihn wieder zurück ins Regal. Am liebsten hätte sie sich für die nächsten Stunden hier vergraben, um den zahlreichen alten Bekannten »Hallo« zu sagen, doch die Mission im Allgemeinen und der NanoBug im Speziellen hatten Priorität.
Während sie sich mit der einen Hand an der Leiter festhielt und mit der anderen in ihrem Kittel nach der Wanze suchte, überkam sie ein seltsames Gefühl. In ihrem Nacken kribbelte es, als hätten sich Ameisen dorthin verirrt und auf ihrer Schulter spürte sie die Schwere einer unsichtbaren Hand. Mit einem mulmigen Gefühl drehte sie sich herum und erkannte in einer Ecke des Zimmers, die nicht sonderlich gut beleuchtet war, einen Schatten.
»Ich bin gleich fertig«, spulte sie erschrocken den Text ab, den sie sich vorher für diesen Fall zurechtgelegt hatte, während sie hastig die Leiter hinunter kletterte. Innerlich fluchte sie, denn sie hatte weder ihren Staubwedel zur Hand noch andere Utensilien, die ihre Tarnung als arbeitswütige Reinigungskraft glaubhafter gemacht hätten. Die Flucht nach unten erfolgte so überstürzt, dass sie dabei aus Versehen mit dem Fuß an eine Reihe Bücher kam, sodass einige von ihnen aus dem Regal purzelten.
»Mist!« Orla sprang von der Leiter und hockte sich auf den Boden. »Nein, nein, nein, nein, nein!« Hektisch sammelte sie die Bücher wieder ein, die wie vom-Himmel-geschossene Vögel mit ausgebreiteten Flügeln am Boden lagen. Die meisten hatten den Sturz unbeschadet überstanden, doch ein besonders altersschwaches Exemplar schien schweren Schaden genommen zu haben: Die Seiten hatten sich aus dem Einband gelöst und lagen verstreut vor ihr. Mit zittrigen Fingern versuchte sie das Papier zu sortieren, während sie immer wieder verzweifelte Worte der Entschuldigung stammelte.
Sie war nur auf Bewährung draußen. Wenn Madame Mildred von ihrem Fehltritt im buchstäblichen Sinne erfuhr und von dem Schaden, den sie damit angerichtet hatte, würde sie statt in der Waschküche endgültig vor der Tür landen. Wie sollte sie Blake erklären, dass die Mission an ihrer Unfähigkeit gescheitert war, eine simple Leiter hinunter zu steigen?
»Entschuldigung, ich wollte nicht …« Unbeholfen legte sie die Seiten übereinander und versuchte sie, mit dem losen Buchrücken zu fixieren.
Victor Hugo – Les Misérables. Der Titel hätte nicht passender sein können.
Natürlich konnte sie sich der Lächerlichkeit preisgeben und anbieten, das Buch zu ersetzen. Doch neben dem monetären Schaden, für den sie sich in jahrzehntelange Knechtschaft begeben hätte müssen, gab es da noch den ideellen Wert. Natürlich handelte es sich bei dem zerstörten Buch nicht um irgendeine Erstausgabe. Natürlich befand sich auf der ersten Seite – genau wie bei Maupassant – eine persönliche Widmung an Lucinda Kingsley. Dieses Buch war nicht ersetzbar.
Ganz im Gegensatz zu ihr.
Orla wagte es kaum, von dem halb toten Hugo aufzuschauen, während die Schritte näher kamen. Jeden Moment würde das Gewitter über sie hereinbrechen, die donnernden Worte auf sie niederprasseln.
Doch es blieb still.
Zögerlich hob sie den Kopf und erkannte zum ersten Mal, wer da vor ihr stand. »Ich werde selbstverständlich für den Schaden aufkommen«, sagte sie – erschrocken über das unerwartete Wiedersehen und gleichzeitig erleichtert darüber, dass sie sich vorerst nicht vor Madame Mildred oder der Hausherrin persönlich verantworten musste.
Samael Kingsley sah sie schweigend an – wie ein Fischer, der sich wunderte, welch seltsamer Fang ihm ins Netz gegangen war. In seinem Blick lag nicht die Finsternis, die Orla von ihrer ersten unglücklichen Begegnung her kannte. Er schien eher amüsiert.
»Eine interessante Art, die alten Dinger zu überarbeiten«, sagte er. »Einfach den unnötigen Ballast rausschmeißen. Drastisch, aber effektiv.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sich für die gekürzte Fassung noch Leser finden«, murmelte Orla, den Blick schuldbewusst auf den Boden gerichtet. Mit den zerfledderten Resten des Buches im Arm erhob sie sich.
»Weiß meine Mutter, dass du ihre Bibliothek neu sortierst?«, hörte sie den Dämon sagen.
»Nein, Sir.«
Seine Schuhe wirkten klobig und im Kontrast zum noblen Perserteppich unpassend schäbig.
»Die Tür war offen«, sagte Orla. »Und ich wollte mich nützlich machen.«
»Was meinst du mit offen?«, fragte Samael Kingsley und Orla hörte die Skepsis aus seinen Worten tropfen.
»Es war nicht abgeschlossen«, sagte sie. »Ich bin neu und ich wusste nicht, dass …«
»Merkwürdig. Meine Mutter achtet sonst immer darauf, dass sich niemand ihren Büchern nähert.«
Sein Gesicht war frisch rasiert, die Haare kürzer. In schwarzem Hemd und legerer Hose wirkte er braver als bei ihrer ersten Begegnung – für einen Zivilisationsverweigerer fast schon bieder.
Als er ihr seine Hand entgegenhielt, brauchte Orla einen Moment, um zu verstehen, dass er den Hugo von ihr forderte. Zu sehr war sie damit beschäftigt, diesen neuen Samael mit dem ersten in Einklang zu bringen.
Nachdenklich betrachtete der Dämon das Malheur. Zu Orlas Verwunderung schob er die Seiten kurzerhand ineinander und legte sie in den Einband, bevor er das Buch an seinen ursprünglichen Platz stellte.
»Das bleibt unser Geheimnis«, sagte er und strich mit dem Finger wie zum Abschied über den Buchrücken. »Ich bezweifle, dass meine Mutter etwas bemerken wird. Das alles hat eher sentimentalen Wert für sie. Niemand kommt her, um Bücher zu lesen.«
»Wie bedauerlich«, sagte Orla.
Samael schlenderte die Regale entlang, als würde er in einem Museum die Kunst bestaunen. Die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, den Blick über die Bücher schweifend. »Was genau findest du bedauerlich?«, fragte er in den Raum hinein.
»All die verpassten Abenteuer, die ungelebten Dramen, die nie bereisten Welten. All die magischen Momente, die hier trostlos verstauben.«
»Warum von den Abenteuern anderer lesen, wenn man sie selbst erleben kann?«, murmelte der Dämon, ohne sie anzusehen. »Was soll ich mit schwarzer Farbe auf Papier, wenn ich da draußen all den Farben in ihrer Lebendigkeit begegnen kann?«
Die Frage wollte nicht so recht in den Moment passen. Nicht an diesen Ort. Wenn er nichts vom Lesen hielt, warum war er dann hier?
»Nicht jeder hat das Privileg zu reisen«, sagte Orla. »Abenteuer sind kostspielig. Oft fehlt es an den Mitteln.«
»Oder am Willen.« Samael drehte sich zu ihr und bedachte sie mit einem Blick, den sie von ihrer ersten Begegnung kannte. Als klopfte er sie auf Unsicherheiten ab, während er überlegte, in welche Wunde er seinen Finger zuerst legen würde. »Ist es nicht so, dass sich vor allem diejenigen in Bücher flüchten, die von der Realität überfordert sind?«
Orla begriff sofort, was er vorhatte. Das Messer war gezückt und er wartete nur darauf, dass sie hineinlief. Doch diesmal war sie klüger. Diesmal würde sie das Weite suchen, solange ihre Gedanken noch immer ihr gehörten. Dass ihm langweilig war und er Streit als legitimen Zeitvertreib ansah, war sein Problem. Sie würde sich hüten, es zu ihrem zu machen. Seine plumpe Provokation würde sich in Gleichgültigkeit versenden, wie der Ruf eines Wanderers im Nirgendwo.
Halbherzig überwand sie sich zu einem Knicks. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, Sir. Ich muss wieder an die Arbeit.« Allzu gerne hätte sie mit ihm über Privilegien diskutiert. Darüber wie leicht es war, diejenigen zu verurteilen, die sich täglich abmühten und trotzdem nicht von der Stelle kamen, wenn man selbst im gemachten Nest saß und von oben auf sie herabblickte. Doch sie sah Cillas gezückten Feuerhaken vor sich und biss sich auf die Zunge.
»Ich hätte gerne eine Antwort auf meine Frage«, hörte sie Samael sagen.
Seufzend hielt sie inne. Was sollte sie antworten? Sie konnte ihm schlecht offenbaren, dass sie ihn für einen arroganten Schnösel hielt, der keine Ahnung von den Menschen und ihrer Welt hatte; dass sie Dämonen wie ihn verabscheute, die glaubten über allem zu stehen.
»Ich kann natürlich nur für mich sprechen, Sir«, sagte sie, krampfhaft darum bemüht, die nötige Prise Freundlichkeit über ihre Antwort zu streuen. »Aber ich glaube, mein Leben ganz gut im Griff zu haben. Und was das Lesen betrifft: Ich bin neugierig – auf andere Blickwinkel, andere Wege. Bücher bringen mich an Orte, an die ich so nie kommen würden. Sie bringen mich in die Vergangenheit, in die Zukunft, wohin auch immer ich will.«
»Was ist so schlimm an der Gegenwart?«, sagte er.
»Nichts.«
»Und was ist so schlimm an dieser Welt?«
»Nichts.«
»Warum dann der Wunsch, dem zu entkommen?«
»Ich empfinde es gar nicht unbedingt als Flucht«, sagte Orla. Haben wir nicht alle das Bedürfnis, uns weiterzuentwickeln, zu wachsen? Bücher sind ein Weg, das zu tun. Konflikte werden verhandelt, Perspektiven gewechselt. Als Leserin werde ich immer wieder aufs Neue gefordert, meine Sicht der Dinge zu hinterfragen.«
»Das passiert auch im echten Leben.«
»Nur bin ich beim Lesen viel näher an dem anderen. Ich bekomme Einblick in die Gedankenwelt meines Gegenübers. Ich fühle, was er oder sie fühlt.«
»Wo würdest du wohl stehen, wenn du deine Zeit nicht mit solchen Dingen verschwenden würdest«, sagte der Dämon. »Wenn du dich nicht an fremden Glücksmomenten zwischen toten Buchdeckeln berauschen, sondern dein eigenes Leben als einzige Chance auf Wahrhaftigkeit begreifen würdest.«
»Falls Sie auf meine Anstellung bei Ihnen im Haus anspielen …« Orla räusperte sich. Es war erstaunlich, wie hartnäckig Empörung an den Stimmbändern haftete. »Ich bin genau da, wo ich sein wollte, Sir.«
»Du hattest nie größere Ambitionen?«
Wie absurd der Satz klang, wenn man Orlas tatsächliche Pläne kannte. »Jeder geht den Weg, den er oder sie für richtig hält«, antwortete sie. »Also nein, Sir. Um auf Ihre Ausgangsfrage zurückzukommen: Menschen, die lesen, sind nicht einfach nur Flüchtende. Sie sind wissbegierig, aufgeschlossen …«
»Leicht zu beeindrucken.«
»Ausgesprochen begeisterungsfähig.«
»Etwas weltfremd.«
»Sie sind zugewandt und reflektiert.« Dass ihr letzter Satz so trotzig heraus gepoltert kam und nur ein My von einem »Selber doof!« entfernt war, ärgerte sie. Doch der Dämon hatte etwas an sich, das sie bis ins Mark reizte. Sie musste diese Farce beenden, bevor sich ein erneutes Feuerhaken-Fiasko entzündete.