Bis zum Schichtbeginn blieben Orla noch ein paar Stunden. Ihre Kollegen nutzten diese Zeit für gewöhnlich, um im Gemeinschaftsraum auszuspannen, den neuesten Flurfunk auszutauschen, das karg eingerichtete Fitnessstudio im Keller zu besuchen oder ein wenig Sonne im angrenzenden Hof einzufangen – all die begrenzten Freiheiten, die einem in diesem Hause zu Verfügung standen, wenn man nicht gerade zu der seltenen Spezies der APA-Agenten mit ausgeprägtem Jagdinstinkt gehörte.
Orlas Freizeitgedanken galten ausschließlich der Arbeit und ihre Unruhe wurde durch die Größe des Hauses noch verstärkt. Dieser Palast bot zu viele Möglichkeiten, sich heillos in Sackgassen zu verlaufen. Aus Angst, etwas Wichtiges zu übersehen, schwankte Orla ständig zwischen Aktionismus und Resignation.
Dass Blake sie nicht von der Leine ließ und ihr lediglich das vorsichtige Abklopfen von bröckeligem Putz erlaubte, erschwerte die Sache zusätzlich. Wer verließ sich beim Jagen schon gerne auf den Zufall? Orla war niemand, der sich auf die Lauer legte und einfach abwartete. Hier ein Bug, da ein Gesprächsfetzen – das mochte eine vernünftige Taktik sein, aber keine, die sie entscheidend voranbrachte. Wenn man darauf hoffen musste, dass sich Cyrus zufällig in Hörweite befand, während er zufällig all seine Verbrechen gestand, machte man sich vom Glück abhängig. Und wenn Orla eines im Leben gelernt hatte, dann, dass man auf das Glück vergeblich wartete.
Als ihr ein Dienstmädchen auf dem Flur entgegenkam, registrierte sie nebenbei die großen Weinkrüge in beiden Händen, und beinahe hätte sie ihre Kollegin ungerührt vorbeiziehen lassen. Doch dann fiel ihr die ungewöhnliche Opulenz der Karaffen auf – zu edel in ihrer Verarbeitung und zu aufwendig verziert, um für einfache Leute gedacht zu sein. Eindringlich flüsterte Orlas Intuition, dass es sich lohnen würde, dem Mädchen zu folgen.
Statt in einen der Salons ging es jedoch in die Küche.
Die übliche Hektik unter dem Personal erlaubte es Orla, wie ein Schatten zwischen Töpfen und Pfannen durch die Räumlichkeiten zu schleichen, ohne dass sie jemand bemerkte. Als das Mädchen hinter einer unscheinbaren Tür verschwand, zögerte Orla einen Moment.
Keine Alleingänge.
Doyles Worte hallten wie ein mahnendes Echo in ihrem Kopf.
Unwahrscheinlich, dass er damit harmlose Ausflüge hinter irgendwelche Küchentüren meinte.
Orla schnappte sich ein Silbertablett, das in der Nähe lag, um den Anschein einer tüchtigen Helferin zu wahren und öffnete die Tür. Begleitet von Kellergeruch stieg sie die nur spärlich beleuchtete Treppe hinab und suchte zwischen Holzfässern und Weinregalen nach ihrer Kollegin. Zu ihrer Freude musste sie nur dem melodischen Summen folgen, das aus der hinteren Ecke kam. Dass es sich bei dem Lied um das mittelalterliche „Greensleeves“ handelte, verlieh dem Ganzen eine absurd anachronistische Note. Es war nicht das erste Mal, dass Orla sich fühlte, als wäre sie in der Zeit zurückgereist. Nicht nur das Ambiente auf Thornwood staubte vorgestrig vor sich hin, auch einige der Angestellten wirkten, als wären sie für den History Channel als Statisten gecastet worden.
Während das Mädchen begann, den zweiten Krug zu füllen, dachte Orla erneut an Doyles Worte: Keine Alleingänge.
Sie räusperte sich und wagte ihren Zug. »Madame Mildred schickt mich, um dir zu helfen.«
Erschrocken fuhr das Mädchen herum. Sie stellte den Krug ab und musterte Orla von oben bis unten. »Wobei?«
»Beim Tragen.«
»Das schaffe ich allein.«
»Ich richte dir nur aus, was ich gesagt bekommen habe«, antwortete Orla und zuckte mit den Schultern.
»Haben sich noch mehr Gäste angekündigt?«
»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich weiß nur, dass ich dich unterstützen soll. Alles Weitere sollst du mir erklären.«
»Okay«, sagte das Mädchen, begleitet von einem Seufzen – als hätte sie gerade den Auftrag bekommen, das Katzenklo zu reinigen. »Aber so lässt man dich da bestimmt nicht rein.«
So? Was sollte das heißen? Orla sah an sich hinunter, konnte aber keinen Unterschied in der Kleidung erkennen, der sie disqualifizierte. Sie nahm das Silbertablett und hielt es sich wie einen Spiegel vor das Gesicht. »Oh, verstehe.« Halbherzig versuchte sie die gekräuselten Haarsträhnen zu bändigen, die sich in der feuchten Luft der Waschküche aus ihrer Frisur gelöst hatten. »Besser?«
Die Kollegin nickte und reichte ihr einen der Krüge. Für seine Größe war er erstaunlich leicht, sodass Orla sich mit einem Blick hinein versichern musste, dass er überhaupt gefüllt war. Um herkömmlichen Wein schien es sich nicht zu handeln, auch wenn das dunkle Rot die Vermutung nahelegte. Das verriet ihr nicht nur das zähflüssige Lava-Blubbern im Inneren, sondern vor allem die nebelartigen Schwaden, die sich aus der Öffnung empor züngelten. Ein fruchtiger Geruch stieg Orla in die Nase, doch es war ihr nicht möglich, ihn zu identifizieren. Als wäre die Basis dieses Trunks nicht von dieser Welt.
»Am besten, du bringst den schon mal zu den Herrschaften in den Salon. Ich komme mit den anderen Krügen nach.«
Orla gab sich Mühe, ihre Freude hinter einem neutralen Gesicht zu verbergen, während sie innerlich jubelte, denn ihre anfängliche Vermutung schien sich tatsächlich zu bestätigen. Dies waren besondere Karaffen für besondere Hausbewohner und besondere Anlässe.
Auf den fragenden Blick ihrer Kollegin wusste sie zunächst nichts zu antworten, bis sie realisierte, dass sie sich trotz Ansage keinen Zentimeter bewegt hatte.
»Salon«, wiederholte Orla und überlegte fieberhaft, welcher Salon gemeint sein könnte. Der grüne, in dem sie so unschön mit Cilla aneinandergeraten war? Der blaue im Ostflügel? Oder der mysteriöse rote, den sie von Nells Andeutungen her kannte?
Zögerlich drehte sie sich um und machte ein paar Schritte, bevor sie ihre Kollegin im Rücken hörte. »Du weißt, wo der Rote Salon ist?«
»Selbstverständlich«, rief Orla ihr über die Schulter zu und stieg die Kellertreppe empor, den Krug sicherheitshalber im Arm, um nichts zu verschütten. Roter Salon, Westflügel, Erdgeschoss, ganz abgelegen im hinteren Bereich. Wunderschöne Flügeltüren mit barocken Zügen, die sich nun zum ersten Mal für sie öffnen würden.