13 Dschungelgift

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Der Krug war Orlas ganz persönlicher Backstagepass, denn den Wachen vor der Tür reichte ein kurzes Anheben und Vorzeigen und schon ließ man sie ohne weitere Nachfragen in den Roten Salon.

Es war fast zu einfach.

Orla hatte keine genauen Vorstellungen davon, was sie erwarten würde, nur die vage Hoffnung, endlich tiefer in den inneren Kreis der Kingsleys vordringen zu können. Ob Cyrus oder Lucinda, Teekränzchen oder Geschäftsessen – wen sie in welcher Konstellation antreffen würde, war nebensächlich. Jeder Kontakt war hilfreich, jeder Blick, den sie erhaschen konnte, von Relevanz.  

Dass sie sich zunächst durch eine Wand aus dschungelähnlichem Dickicht kämpfen musste, kam ihr seltsam vor, stellte jedoch kein Hindernis dar. Unter dem Begriff Salon hatte sie sich zwar etwas Mondäneres vorgestellt – kein Gewächshaus mit purpurnen Wurzelschlingen, die ineinander verknotet bis unter die Decke wucherten und Bäumen, die aus Möbeln wuchsen, als hätte dieser Teil des Hauses seit hunderten Jahren leer gestanden. Doch sie war nicht hier, um den Einrichtungsstil der Kingsleys zu hinterfragen.

Nur wenig erinnerte noch an Zivilisation, wie die antiken Mustertapeten, die hier und da zwischen den Pflanzen hervorschimmerten oder die dunkelgrünen Samtsofas, die eine Art Sitzkreis bildeten. Umrahmt von Blüten, die in ihrer explosiven Farbenpracht wirkten, als hätte sie ein Künstler im LSD-Rausch in die Luft gemalt, rekelten sich sonderbare Paarungen aus Geschäftsmännern und Pandaemonia-Wesen auf den Möbeln. 

Eine der Kreaturen spielte Flöte und erinnerte mit seinen widderähnlichen Hörnern und den Hufen an einen Faun, doch die Indigo-schimmernde Schuppenhaut glich eher einem Gecko. Zu seinen Füßen lag ein Mann auf dem Boden, der seine Krawatte um den Kopf trug und ihn beseelt anschmachtete. Er schien dem Flötenspieler mit Haut und Haaren verfallen, denn wann immer dieser sich zum Klang seines Instrumentes vom Sofa entfernte, folgte der Mann ihm gierig mit seinen Blicken, als schien er zu fürchten, ihn an jemand anderen zu verlieren. Begleitet wurde das Flötenlied von weichen Trommelklängen aus dem Dickicht – so als würde jemand im Unterholz auf hohlen Ästen Xylofon spielen.

Eine Schmetterlingsfrau bewegte sich im Rhythmus des Liedes tänzelnd durch den Raum. Ihre Flügel trug sie wie einen seidenen Umhang, den sie eng um ihren Körper wickelte, wann immer sie eine Pirouette drehte, nur um ihn im nächsten Moment mit ausgebreiteten Armen aufzuschlagen und Hunderte Schmetterlinge aufsteigen zu lassen. 

Orla schaute dem hypnotischen Treiben gebannt zu. Die Wesen schienen mit den Menschen zu spielen wie Katzen mit Mäusen, bevor sie zum tödlichen Schlag ausholten. Ein grüner Schlangenmann hatte zwei seiner Opfer mit den Köpfen auf seinem Schoß gebettet und bohrte seine Zähne abwechselnd in deren Unterarme. Jedes Mal, wenn er sich dem einen zuwendete, um sein Gift zu verabreichen, gierte der andere neidisch nach mehr. 

Nicht weniger lechzend verhielt sich der arme Kerl, den die Krallen eines Vogelwesens in die Polster des Sofas drückten, sodass er vollkommen bewegungsunfähig war. Als seine Peinigerin ihn mit einer Papageienfeder an den Füßen kitzelte, krächzte er etwas von Aufhören, meinte aber eindeutig das Gegenteil. 

Ein weiterer Geschäftsmann schien mit seiner Verführerin auf dem Sofa fast zu verschmelzen. Orla dachte an die Würgefeigen im Regenwald, die sich immer enger um einen Baum wickelten, bis dieser zugrunde ging, als sie das beseelte Lächeln des Mannes sah, während sich unzählige Arme langsam um seinen Körper schlangen und ihn bewegungsunfähig ächzen ließen.  

Sollte sie ihm zu Hilfe eilen? Das Ganze für die Nachwelt festhalten? Ohne den Blick abzuwenden, fühlte sie nach der Mini-Kamera, die als Ring getarnt in ihrer Kittelschürze auf ihren Einsatz wartete. Verwackelte Fotos waren besser als gar keine Beweise, auch wenn Orla sich nicht sicher war, was sie denn eigentlich bezeugen sollten. Obwohl die Gefahr untrüglich in der Luft schwelte, schien keiner der Männer in Sorge um sein Leben. 

Warum sollten die Kingsleys auch solchen Aufwand betreiben, um ein paar einfache Menschen zu beseitigen? Was hätten sie davon, ihnen den Tod auf diese Art zu versüßen? Und warum würden sie riskieren, dass die Angestellten Zeugen des Ganzen wurden? Die Familie war kaltblütig, aber sicher nicht leichtsinnig.   

Wie zur Antwort auf ihre Fragen kam Cyrus Kingsley in Begleitung eines Mannes hereinspaziert. Er drückte ein paar Palmenblätter zur Seite, deutete auf ein leeres Sofa und ließ seinem Gast Platz nehmen. Ohne Orla anzusehen, schnipste er in ihre Richtung. Sie folgte dem Befehl, tunlichst darauf bedacht, nicht auf die bunten Pilze zu treten, die den Teppich überwucherten.  

Cyrus brach einen bechergroßen Blütenkelch ab und überreichte ihn dem Mann wie eine feierliche Opfergabe mit beiden Händen. Als er verärgert die Stirn runzelte, begriff Orla zunächst nicht, dass sein Unmut ihr galt, bis er sie direkt anstarrte. Sein Blick ging unter die Haut und breitete sich in Sekundenschnelle wie das Gift einer Kobra in ihrem Körper aus. Die Übelkeit, die sie spürte, glich dem Gefühl vor einer Prüfung, wenn die Angst in Ohnmacht zu kippen drohte. Eilig goss Orla den Trunk aus ihrem Krug in den Kelch und das Unwohlsein ließ nach.

Nachdem der Mann einen vorsichtigen Schluck genommen hatte, änderte sich sein Verhalten im Tempo eines Wimpernschlages. Aus dem zurückhaltenden Beobachter, der sich gerade noch steif durch den Raum bewegt hatte, wurde ein Verdurstender, der den Rest in einem Zug hinunterstürzte. In seiner Gier schien ihn nicht zu interessieren, dass die Flüssigkeit rechts und links über seine Wangen lief und seinen Anzug befleckte. Als sein Blick an der Zimmerdecke hängen blieb, folgte Orla ihm mit den Augen und sah eines der magischen Wesen an Spinnenfäden herabschweben. In eleganten Bewegungen ließ es sich neben dem Mann auf dem Sofa nieder und blickte ihn wortlos an. Wie von fremder Hand gesteuert, entledigte sich sein Gegenüber sogleich seines Sakkos, lockerte die Krawatte und bedachte ihn mit einem unterwürfigen Blick, als warte er auf den nächsten Befehl.

Auch Orla bemerkte den hypnotischen Sog, der von dem mysteriösen Geschöpf ausging und trat intuitiv einen Schritt zurück. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, den Krug nicht mehr halten zu können, denn der Drang, nach dem Wesen zu greifen, war nur schwer zu bändigen. Cyrus hingegen schien völlig unbeeindruckt von dem Zauber. Sein zufriedenes Nicken verriet Orla, das alles nach Plan zu laufen schien. Der Gast war in seiner Hörigkeit gefangen. Was auch immer das Wesen von ihm verlangen würde, er würde es tun. Geheimnisse waren damit keine Geheimnisse mehr und Loyalitäten schneller vergessen als irgendjemand Verrat rufen konnte. Augenblicklich verstand Orla den Sinn dieser Zusammenkunft: Warum töten, wenn man diese Männer bis auf die letzte Faser ausquetschen und als treue Soldaten in die Welt zurückschicken konnte?

Das Wesen begann, einen klebrigen Kokon um den Körper seines Opfers zu spinnen und mit jeder weiteren Schicht schien auch die fiebrige Glückseligkeit des Eingesponnenen zu wachsen. Entspannt schloss er die Augen und schien sich nicht im Geringsten daran zu stören, dass er wie ein verschnürtes Paket in die Höhe gezogen und an der Zimmerdecke fixiert wurde. Hätte ihm der Spinnenmann in diesem Moment sein nahendes Ende angekündigt, hätte er vermutlich jubiliert.

Verblüfft schaute Orla ihm nach. 

»Was stehst du hier herum?«, hörte sie die strenge Stimme von Cyrus. »Kümmere dich um die Gäste.«

Orla nickte, wartete jedoch einen Moment, bis er sich ein paar Schritte entfernt und einem anderen Mann zugewandt hatte, denn ihr Blick war an dem verwaisten Sakko auf dem Sofa hängen geblieben. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete, schnappte sie sich das Kleidungsstück und verschwand im Gebüsch in der hinteren Ecke des Zimmers. Sie hatte nicht viel Zeit, bis er ihre Abwesenheit bemerken würde, deshalb suchte sie hastig in den Taschen des Sakkos nach einem Ausweis, einem Portemonnaie oder irgendetwas anderem, das ihr die Identität des Unbekannten im Kokon verraten würde.

Als sie schließlich eine lederne Geldbörse fand, traute sie ihren Augen nicht. Horace Kane – was klang wie die Scheinidentität eines Superhelden, war der Name eines einflussreichen Richters am Obersten Gerichtshofes. Er gehörte zu den konservativsten Stimmen des Landes und Orla fragte sich, was die Öffentlichkeit wohl zu seinen Abenteuern auf Thornwood sagen würde. Eilig holte sie den APA-Kugelschreiber aus ihrer Schürze, um den Inhalt der Geldbörse zu digitalisieren. Außer einem biederen Familienfoto mit Frau und Kindern und einer medizinischen Notfallkarte, die ihn als Schalentier-Allergiker outete, gab es nichts Interessantes zu scannen. Trotzdem war Orla zufrieden, denn die Enthüllung dieser brisanten Identität war Sensation genug und auch wenn ihr Horace Kanes Mitgliedschaft in einem Country Club oder seine Blutgruppe bei den Ermittlungen kaum weiterhelfen würden, wollte sie sichergehen, selbst unwichtig erscheinende Informationen über ihn abgespeichert zu haben. Jedes Sandkorn konnte unter den richtigen Bedingungen zu einer Perle werden.