13 Dschungelgift

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Orla trat aus ihrem Versteck im Gebüsch, das Sakko unter ihrem Arm, in Gedanken bei Horace Kane und seiner Rolle im Netzwerk der Kingsleys. Man brauchte nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, wie praktisch ein Mann in seiner Position für Cyrus sein würde. Die APA war gut beraten, den gar nicht mal so ehrenwerten Richter von nun an im Auge zu behalten. Außerdem stellte sich die Frage, ob die anderen Gäste in einem ähnlich wichtigen Umfeld unterwegs waren wie er. Welche Hochkaräter versteckten sich noch zwischen dem Dschungelgestrüpp? 

Die Antwort musste warten, denn in Orlas Abwesenheit hatte Cyrus weiteren Besuch bekommen und obwohl der Gast mit dem Rücken zu ihr stand und ihr Blick von verknoteten Ranken und dichtem Blätterwerk eingeschränkt war, erkannte Orla ihn sofort. Überrascht ließ sie das Sakko hinter sich auf den Boden fallen. Das Schicksal schien sich einen Spaß daraus zu machen, ihr Samael Kingsley immer dort vor die Füße zu spülen, wo sie sich gerade ausführlich umsehen wollte. 

Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und seine Haltung wirkte ungewöhnlich steif. Auch sein Bruder schien angespannt. Sie waren einander nicht zugewandt, sondern standen Schulter an Schulter – wie zwei Fremde, die zufällig auf denselben Bus warteten und sich notgedrungen übers Wetter austauschten. Neugierig reckte Orla ihren Hals nach vorne, um sie zu belauschen, doch das brachte nur wenig. Wenn sie wissen wollte, was die beiden zu bereden hatten, musste sie sich näher heranwagen.   

Sie schnappte sich ihren Krug und schlich ein paar Schritte in Richtung der Dämonen. Zum Schein schenkte sie einem der Männer nach, der dem Sog der grünen Natter verfallen war und in seinem Delirium nur wenig mitbekam. Entsprechend schwierig gestaltete sich das Eingießen, denn er schwenkte seinen Blütenkelch wie in Trance durch die Luft. Nachdem mehr auf seinem Arm als im Kelch gelandet war, wandte sich Orla entnervt ab und näherte sich den Brüdern auf Hörweite.

»Für den Moment ist das alles, was wir haben«, raunte Samael. »Die Mauern sind dicker als gedacht.« Sein Ton war ungewohnt. Orla hatte ihn bedrohlich erlebt, manipulierend, selbstbewusst und einnehmend. Hier war eine Unsicherheit zu spüren, die sie von ihm nicht kannte. 

»Ich kann nichts machen, Sammy«, antwortete Cyrus ungerührt. »Du musst schon etwas Stichfestes liefern, wenn du sie vom Hals haben willst.« 

»Das geht eben nicht von heute auf morgen«, sagte Samael.

»Ich habe alle Zeit der Welt«, entgegnete sein Bruder. Es war nicht schwer, die Mischung aus Gleichgültigkeit und Spott in seiner Stimme als Grund für Samaels angespannte Haltung auszumachen. Er schien dringend etwas von Cyrus zu brauchen, doch der ließ ihn genüssliche am langen Arm verhungern.

»Ein wenig Hilfe wäre durchaus angebracht«. Es ist auch in deinem Interesse …«

»Wie du siehst, habe ich diverse Verpflichtungen, die meine Aufmerksamkeit fordern.« Mit einem süffisanten Lächeln ließ Cyrus seinen Blick durch den Raum schweifen, bevor er sich direkt an seinen Bruder wandte, der ihn um einiges überragte und doch der Kleinere in der Situation zu sein schien. »Sieh es als Übung. In deiner neuen Position wirst du zukünftig noch ganz andere Hürden überwinden müssen.« Sein Ton ließ Orlas Erinnerung an das Gespräch wach werden, das sie in der Bibliothek belauscht hatte. Dass der jüngere Bruder die Firmenanteile seiner Mutter überschrieben bekam und der ältere offenbar leer ausgegangen war, hatte offenbar für böses Blut gesorgt.

Cyrus winkte die Schmetterlingsfrau heran und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Schmunzelnd erhob sie sich Richtung Salondecke, ihre schimmernden Flügel ausgebreitet, die Augen geschlossen. Die Art, wie sie ihre Arme hin und her schwang, als würde sie Luft fangen und formen wollen und die Lust, mit der sich ihr Körper einer unsichtbaren Welle hinzugeben schien, erinnerte Orla an eine Varietétänzerin, die längst nicht mehr für das Publikum tanzte, sondern nur noch für sich existierte. Mit jeder Wellenbewegung flatterten mehr Schmetterlinge um sie herum – aufgeregter als zuvor, als wären sie die Vorboten von etwas Großem. Das Pflanzendickicht hinter Orla begann zu rascheln und die Flötentöne schienen sich zu verselbstständigen – nicht länger vereint zu einer Melodie schwirrten sie wild im Salon umher, im chaotischen Tanz mit den Schmetterlingen vereint, mal hier mal dort, nicht greifbar und trotzdem ohrenbetäubend nah.

Gerade als Orla glaubte, von dem Tumult verschluckt zu werden, drehte die Tänzerin eine letzte schwindelerregende Pirouette und verschwand im Nichts. Mit ihr die Schmetterlinge, die Musik und alles, was diesen Ort verzaubert hatte. Die Dschungelpflanzen schrumpften wie in einer Naturdoku, die jemand rückwärts abspielte und gaben den Blick frei auf das ursprüngliche Mobiliar des Salons. Dort, wo eben noch eine riesige Monstera ihre lilafarbenen Blätter präsentiert hatte, stand nun ein verwaistes Sofa und nachdem sich die tentakelartigen Schlingen von den Wänden zurückgezogen hatten, war sogar ein Kamin zu erkennen. Das Sakko von Horace Kane lag auf dem vom Moos befreiten Teppich – doch der Träger selbst hatte sich wie die anderen Gäste mitsamt Gastgeber in Luft aufgelöst.

Währen ihre Kollegin seltsam unbeeindruckt die übrig gebliebenen Kelche und weitere verräterische Reste der Dschungelorgie wegräumte, fiel Orlas Blick auf Samael, der an derselben Stelle stand wie zuvor und die Abfuhr seines Bruders zu verdauen schien. Ihre Blicke trafen sich für einen Moment, doch im Gegensatz zu Orla, die kurz den Drang verspürte, ihm zuzunicken, schien er einfach durch sie hindurch zu sehen, bevor er mit verbissener Mine aus der Tür verschwand.  

Was hatte sie erwartet? Dass er sie nach weiteren Leseempfehlungen fragte und auf einen Plausch zu sich einlud? Orla wischte die Flausen aus ihrem Kopf wie Kreide von einer Tafel und folgte dem Beispiel ihrer Kollegin, die alle Vorhänge des Salons aufzog, um das Tageslicht hereinzulassen. Sie würde keine Fragen zu den kuriosen Vorfällen der letzten Stunde stellen. Die hob sie sich lieber für Nell auf. Mit dieser Dschungel-Anekdote hatte sie einen guten Aufhänger, um ihre Mitbewohnerin endlich bezüglich Cyrus auszuhorchen. Allzu direkt würde sie dabei nicht sein können, doch auch ein Zucken der Mundwinkel, wenn sie die verführerische Schmetterlingsfrau erwähnte oder ein Blick auf den Boden als Antwort auf die Frage, ob so etwas öfter vorkam, würde schon so einiges über die Beziehung der beiden verraten. Von da würde sie sich langsam vortasten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie mit kleineren Übertreibungen stille Wasser zum Plätschern brachte.


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