14 Unfaires Spiel

1

»Ist noch etwas von deinem Wundertrank übrig?« Hector begrüßte Orla mit einem lang gezogenen Gähnen und schlurfte zur Kaffeemaschine. »Ich bin komplett durch.« 

»Viel zu tun?«, fragte Orla, während sie ihr Notizbuch unauffällig unter die alte Gartenzeitschrift schob, die sie sich für genau diesen Fall zurechtgelegt hatte.

Müde winkte Hector ab. »Ist nur wieder eine dieser Nächte, die ganz anders verlaufen, als man dachte«, sagte er. »Ich hatte mich eigentlich auf eine gemütliche Schicht eingestellt, weil doch Morgen der Frühlingsball ist. In all den Jahren war das immer der letzte Moment zum Durchatmen. Die Ruhe vor dem Sturm.« 

»Und heute?«

»Ist irgendwie der Wurm drin.« 

»Kann ich helfen?«, fragte Orla und knickte mit den Fingern die Seiten der Zeitung ein, unter der sich das verräterische Notizbuch befand. »Soll ich für dich übernehmen?«

»Nett gemeint, aber das lassen wir lieber.« Hectors Finger zeigte Richtung Zimmerdecke. »Ich will ihn nicht verärgern.« Seufzend nahm er einen Schluck Kaffee, bevor er fortfuhr. »Er hat explizit nach mir verlangt. Also muss ich da jetzt durch.«

»Ich versteh kein Wort. Wer will dich wofür?«

»Master Samael.« Hector stellte die Tasse so schwungvoll ab, dass Orla kurz befürchtete, sie würde zu Bruch gehen. »Er hat mich zu einer Partie Bataroi herausgefordert.

»Das Brettspiel?« 

»Sag bloß, du kennst es.« 

Orla dachte an Doyle und die gemeinsamen Abende auf seinem Wohnzimmerboden: Sein euphorisches Gesicht, als er ihr die Regeln erklärt hatte, nur um gleich darauf zu verkünden, dass diese eigentlich nur existierten, um gebrochen zu werden. Ihre Unfähigkeit, sich im Chaos zurechtzufinden, das auf dem Spielbrett ausgebrochen war, sobald sich die Fürsten der Finsternis mit ihren Armeen positioniert hatten. Der Frust über die nicht enden wollenden Niederlagen. Aber auch der Moment des Triumphes, als sie das erste Mal siegreich aus der Schlacht hervorgegangen war. Sie schmunzelte. »Ich habe davon gehört.« 

»Wann immer Master Samael in Thornwood ist, spielen wir«, sagte Hector.

»Klingt doch nett.«

»Ja, das war es auch immer, aber heute …« Er schüttelte den Kopf. »Irgendetwas stimmt nicht.«

»Was meinst du?« 

»Er gewinnt jedes Spiel. Wirklich jedes!«, sagte Hector. »Normalerweise ist es ziemlich ausgeglichen zwischen uns. Ich hab schließlich die meiste Erfahrung hier im Haus. Aber heute … Ich weiß auch nicht. Es ist, als würde er jeden meiner Schritte vorhersehen.« Hector setzte sich zu Orla an den Tisch und massierte mit zwei Fingern seine Nasenwurzel.

Erinnerungen an die erste Begegnung mit Samael und seiner Gespielin flammten vor Orlas innerem Auge auf. Sie hatte angenommen, dass Cilla diejenige war, die mit den Gedanken anderer jonglieren konnte, wie es ihr gerade gefiel. Schließlich hatte der Kingsley-Erbe sie in der Bibliothek in Ruhe gelassen. »Hast du Kopfschmerzen?«, fragte sie ihren Kollegen.

»Mir ist nur ein wenig schwindlig«, antwortete Hector. »Muss die Anstrengung sein.«

Was, wenn sie sich geirrt hatte? Was, wenn der Dämon seine Fähigkeit so perfektioniert hatte, dass er nicht nur Gedanken herauspressen, sondern inzwischen auch selbst lesen konnte? 

»Ich glaube, ich weiß, woran es liegt, dass er jedes Spiel gewinnt«, sagte Orla. »Und ich glaube, ich weiß auch, wie ich dir helfen kann.«

Sie beugte sich zu Hector vor und lächelte verschwörerisch. »Das klingt jetzt im ersten Moment vielleicht kontraproduktiv, aber du solltest versuchen, all deine bisherigen Bataroi-Strategien über Bord zu werfen und nur noch spontan auf Samael Kingsleys Züge reagieren.« 

Die Fragezeichen in Hectors Blick schienen mit jedem Wort zu wachsen.

»Du darfst nicht so weit in die Zukunft denken«, fuhr Orla dennoch unbeirrt fort. »Keine komplizierte Kriegskunst. Bleib beim aktuellen Zug.«

Hector verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. »Okay … und weiter?«

»Überleg dir andere Namen für die Figuren. Um all deine Aktionen versuchst du gedanklich eine Geschichte zu spinnen, die etwas mit dieser Figur zu tun hat.«

»Entschuldige, aber ich komme nicht ganz mit«, murmelte Hector. »Ich soll was?«

Fieberhaft überlegt Orla, wie sie ihre Idee besser veranschaulichen konnte. »Deine Könige – welche hast du beim letzten Spiel zugeteilt bekommen?«

»Purson und …«

»Purson? Super!«, rief Orla erfreut aus. »Du könntest ihm den Namen eines berühmten Feldherren geben. Purson reitet doch auf einem Bären, richtig?«

»Dafür, dass du nur mal von dem Spiel gehört hast, kennst du dich aber gut aus«, sagte Hector.

»Welcher Feldherr zog zwar nicht mit Bären in die Schlacht, aber dafür mit jeder Menge Elefanten?«

»Hannibal?«

»Bingo!« Orla schnippte mit dem Finger, doch Hectors Stirn war noch immer von Skepsis zerfurcht. Also schob sie die Zeitung mitsamt dem versteckten Notizbuch zur Seite, nahm das Teelicht-Glas und die Vase mit den Plastikblumen von der Mitte des Tisches und stellte sie zwischen Hector und sich.

»Je nachdem, wohin du deinen König setzen willst, denkst du eben an Austragungsorte von historischen Schlachten.« Sie schob die Kerze zu ihm. »Hannibal, wie er über die Alpen marschiert.« Das Licht tanzte flackernd im Glas, als wäre es gierig auf einen Kampf. »Den gegnerischen König nennst du Napoleon und sorgst für ein Waterloo.« Mit dem Finger tippte Orla die Vase an und kippte sie samt Blumen um. 

Für einen Moment herrschte Stille, die nur vom trägen Ticken der Wanduhr durchbrochen wurde. Orla fürchtete, mit ihrer Veranschaulichung genau das Gegenteil erreicht zu haben. »Du kannst dir natürlich auch Anagramme überlegen«, schob sie eilig nach. »Aus König Asmodai wird …« Eilig sortierte sie die Buchstaben im Kopf neu. »Keine Ahnung, … vielleicht Maisoda? Klingt komisch, aber erfüllt seinen Zweck.«

»Und was soll das bringen?«

»Es wird ihn verwirren.«

»Wen? Master Samael?«

»Das ist, als würdest du in einer anderen Sprache denken«, sagte Orla. »So hat er keinen Zugriff mehr auf dich.«

Hector nahm die Plastikblumen aus der umgekippten Vase. »Du meinst …?« Nachdenklich zupfte er an einer der Blüten. »Unser Master kann tatsächlich …?«

»Ich denke schon«, sagte Orla und gab Hector ein paar Sekunden, um die Neuigkeit sacken zu lassen. »Deshalb musst du alles tun, um deine Gedanken zu beschützen.«

»Das ist verrückt. Er hat noch nie …« Hector klopfte mit den Fingern auf den Tisch. 

»Ich hatte neulich eine ganz ähnliche Begegnung mit ihm«, sagte Orla. »Es war, als würde er mir diktieren, was ich sage.«

»Ich hatte heute also von Anfang an keine Chance?«, murmelte Hector und ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit – eine Mischung aus Verblüffung, Ärger und Erleichterung. 

Doch das Schrillen der Klingelanlage schreckte ihn hoch. Über Samael Kingsleys Namen tanzte ein Glöckchen munter auf und ab und verkündete das Unvermeidliche.

»Dann mal los.« Hector erhob sich und schob den Stuhl zögerlich an den Tisch. »Auf in den Kampf!« So richtig geheuer schien ihm die Sache noch immer nicht. Skeptisch blickte er zu Orla. »Irgendwann wird er doch merken, dass ich ihn an der Nase herumführe.«

»Und wenn schon. Es geht ja nur darum, ihn zu verwirren.«

»Was ist, wenn er meine Taktik durchschaut und sich entsprechend anpasst?«

»Vielleicht schaffst du es ja, deinen Figuren immer mal wieder andere Namen zu geben.«

»Der Einzige, den ich damit verwirre, bin ich selbst«, antwortete Hector und verzog das Gesicht.

»Ich weiß, das klingt jetzt alles sehr kompliziert. Aber ich glaube, das kann klappen. Es wird dir vielleicht nicht unbedingt den Sieg einbringen, aber es könnte dafür sorgen, dass dein Gegner irgendwann genervt hinschmeißt.«

»Das würde mir schon reichen«, sagte Hector. 

»Denk an Personen, die er nicht kennt. An Comic-Helden, Präsidenten, irgendetwas mit dem du dich auskennst und er nicht«, sagte Orla. »Wenn er nicht weiß, wen du meinst, wird er genauso überrascht von deinem Zug sein wie du von seinem. Das Gleichgewicht wäre wieder hergestellt.«

»Das könnte wirklich funktionieren.« Zufrieden rieb Hector sich die Hände.

»Zwischendurch kannst du dich vielleicht auch fragen, aus welchem Holz wohl das Spielbrett gefertigt wurde oder du analysierst das Muster im Teppich. Von all dem Ballast wird er hoffentlich überfordert genug sein …«

»… und aufhören, mich lesen zu wollen.« Hector trat einen Schritt auf Orla zu und zögerte kurz, bevor er ihr unbeholfen auf die Schulter klopfte. »Danke, Davis. Ich schulde dir was.«

»Ich komme drauf zurück«, sagte Orla und probierte sich an einem Lächeln, um zu überspielen, dass er sie mit dieser unnötigen Geste aus dem Konzept gebracht hatte. Instinktiv fuhr sie mit schützender Hand über ihre Schulter, während sie ihrem Kollegen nachsah. »Ach, Hector?«

Für einen Moment verhallte ihr Rufen im Raum, bis ihr Kollege seinen Kopf erneut zur Tür hereinsteckte.

»Vielleicht kannst du in Gedanken ein Lied summen. Irgendeine penetrante Ohrwurm-Melodie. Das wird ihn wahnsinnig machen.«

Hector hob den Daumen und verschwand endgültig aus der Tür. 

Nachdem seine Schritte im Flur verhallt waren, holte Orla ihr Notizbuch unter dem Magazin hervor. Samael Kingsleys Name stand auf der dritten Seite. Neben die kurze Beschreibung von Äußerlichkeiten und die Bemerkung »induziert Angst«, die mit einem Fragezeichen versehen war, notierte sie die Worte »Gedanken lesen« und unterstrich sie mehrfach. Bei diesem Familienmitglied würde sie zukünftig besonders vorsichtig sein müssen.