Als Hector nach einer geschlagenen Stunde immer noch nicht zurück war, wurde Orla unruhig. Ihre Schicht war fast vorbei, doch bisher gab es kein Lebenszeichen aus dem Hades Zimmer. Was, wenn sich dort gerade ein Drama abspielte? In den Hauptrollen ein erzürnter Dämon, der nicht verlieren konnte und ein armer Tropf, der sich nur ein einziges Mal gegen ihn durchsetzen und dann Feierabend hatte machen wollen. Ungefragt inszeniert von Orla, die sich mal wieder in Dinge eingemischt hatte, die sie nichts angingen.
Nell hatte beteuert, dass die kleinen Schauergeschichten, die sich die Belegschaft über die Kingsleys erzählte, alle frei erfunden wären, dennoch bereute Orla nun, Hector zu etwas angestiftet zu haben, das ihn vielleicht den Job oder sogar den Kopf kosten konnte.
Nachdem sie einige Minuten in der Küche auf und ab gelaufen war und dem Zeiger der Wanduhr zugeschaut hatte, wie er quälend langsam vorwärts kroch, beschloss sie nachzusehen. Eilig suchte sie sich ein Tablett, auf das sie Tee und Gebäck stellte und machte sich auf den Weg in Samael Kingsleys Gemächer.
Zu ihrer Überraschung fand sie Hector und den Dämon grübelnd über dem Bataroi-Brett vor. Es lag eine gewisse Anspannung in der Luft, doch die schien ausschließlich sportlicher Natur zu sein. Beide widmeten sich mit äußerster Konzentration dem Spiel, sodass sie Orla zunächst gar nicht bemerkten.
Leise stellte sie das Tablett auf den Tisch neben die Duellanten und versuchte einen besseren Eindruck von der Situation zu bekommen. Von Hectors Figuren war nur noch ein kläglicher Haufen übrig. Entweder hatte ihr Kollege den Plan nicht so umsetzen können, wie sie es besprochen hatten und sich letztlich seinem Schicksal als Verlierer des Abends ergeben, oder der Kingsley-Spross war ein härterer Brocken als gedacht und hatte sich von der Taktik nicht verwirren lassen.
Was auch immer die beiden dazu antrieb, stoisch weiterzuspielen – ohne Orlas Hilfe schien Hector verloren. Dass seine Hand zittrig über den Figuren schwebte, war kein gutes Zeichen. Er wirkte gedanklich gefangen in einer Endlosschleife. Angreifen? Zurückziehen? Aufgeben?
Als Orla sich leise räusperte, um ihn aus seiner Starre zu holen, schreckte Hector hoch und sah sie mit glasigen Augen an. Seine Lippen waren spröde, seine Haut fahl wie die eines blutleeren Todgeweihten. Innerhalb einer Stunde schien er um Jahre gealtert zu sein.
»Ist gleich vorbei«, antwortete er mit heiserer Stimme, als würde er sich selbst Mut zureden, bevor er sich wieder dem Spiel zuwendete. Mit nervösen Fingern bewegte er seine Figur vorwärts, während Samael seinen Zug wachsam analysierte – offenbar völlig ungerührt vom Elend, das ihm gegenüber saß.
Orla versuchte sich einen Überblick über die Lage auf dem Schlachtfeld zu verschaffen. Hectors einzig verbliebener König Beleth war bereits umzingelt. Seine Leibwache, die normalerweise aus mehreren Katzen bestand, hatte offenbar das Weite gesucht. Entsprechend miesepetrig saß der Dämon des Nordens auf seinem weißen Pferd und versuchte die Angreifer mit schiefen Tönen aus seiner Fanfare zu vertreiben.
Der Sieg schien Samael gewiss. Der richtige Gegner auf der richtigen Position und der König war schachmatt. Normalerweise zählten die Männer aus dem Norden zu den Wasserstürmern, doch Beleth trug das Zeichen der Erdengänger. Samael brauchte also jemanden in seinen Reihen, der nach dem Kodex der Elemente Luftbändiger und damit aus dem Osten war.
Gedacht, getan.
Wie von Orla befürchtet, zog Samael mit einem Löwenwesen direkt auf das Feld vor Beleth, begleitet von heulenden Winden und wehenden Bannern.
War der Dämon bereits in ihrem Kopf?
Orla beobachtete seine konzentrierte Mine, erkannte jedoch kein Anzeichen, dass er ihre Anwesenheit wahrnahm. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich Hector. Viel wahrscheinlicher schien also, dass sein Zug nur zufällig mit ihren Überlegungen zusammengefallen war. Warum sollte er sich auch die Mühe machen, die Hirnwindungen einer unbeteiligten Zuschauerin zu erkunden, wenn er mit Hector so leichtes Spiel hatte?
Beruhigt, dass ihre Gedanken noch immer ihr gehörten, betrachtete sie die Konstellation der Figuren auf dem Spielbrett. Auch wenn sie sich nicht an Samaels Löwenkrieger und seine Fähigkeiten erinnern konnte, wusste sie, dass zur Verteidigung gegen solche Luftbändiger nur Feuerbringer infrage kamen. Hector brauchte einen Brandstifter, der Chaos entfesselte und Beleth die Chance gab, zu flüchten.
Sein Heer war auf überschaubare Größe geschrumpft, doch einen Feuerbringer schien er tatsächlich noch zu befehligen – einen Höllenhund mit den mächtigen Schwingen eines Greifs, der sich etwas abseits – unbeeindruckt von den Flammen um ihn herum – im Kreis drehte und ungestüm seinen eigenen Schwanz jagte. Merkwürdigerweise schenkte ihm Hector jedoch keinerlei Beachtung, sondern starrte weiterhin apathisch auf das Brett.
Orla realisierte, dass gute Ratschläge seine Pein nur unnötig in die Länge ziehen würden. Er musste verlieren, um erlöst zu werden. Also schlich sie sich auf leisen Sohlen davon, um dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Jede weitere Minute würde sie nur unnötig der Gefahr aussetzen, selbst zum Ziel dämonischer Gedankenangriffe zu werden.
»Einen Moment.« Samaels tiefe Stimme ließ sie zusammenzucken. »Ich glaube, wir haben da noch etwas zu klären.« Mit versteinerter Miene winkte er sie heran.
Nur zögerlich folgte Orla seiner Anweisung, während sie versuchte, ihre Gedanken innerlich in einen Safe zu sperren, den sie vorsichtshalber in einem noch größeren Tresor versteckte und vor ihrem inneren Auge in die Tiefsee sinken ließ. Sie hatte die Methode des Gedankenstopps immer und immer wieder trainiert, doch es beschlich sie das ungute Gefühl, in diesem Moment ähnlich miserabel gewappnet zu sein wie ein Zwerg, der sich dem Drachen lediglich mit einem Holzschild bewaffnet entgegenstellte.
Die Stille, die sich im Zimmer ausbreitete, legte sich wie ein Paar unsichtbare Hände um ihren Hals. Als nächstes würde der Kopfschmerz einsetzen. Der Druck an ihren Schläfen würde wachsen und sie langsam mürbemachen. Orla holte tief Luft, um sich gegen das Unvermeidliche zu stemmen.
Doch das Dröhnen im Kopf blieb aus.
Stattdessen sprang Hector so panisch auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte. »Es tut mir leid, Sir. Wir wollten Sie nicht verärgern«, plapperte er los und zeigte auf Orla. »Es war alles ihre Idee. Sie hat mich …«
Mit einer flüchtigen Handbewegung wischte Samael durch die Luft und Hector erstarrte zu einem Standbild – eingefroren in duckmäuserischer Haltung, unfähig, auch nur einen Finger zu bewegen.
»Sie hat … was genau …?« Samaels Blick wanderte zu Orla und es war ihm anzusehen, dass er jede Sekunde dieses unverhofften Tribunals auskosten würde. Und auch wenn es Orla ärgerte, dass ihr Schweigen seine Überlegenheit nur unnötig fütterte, fiel ihr beim besten Willen nicht ein, wie sie dem Spuk ein Ende bereiten sollte, ohne sich selbst auf dem Altar der Wahrheit zu opfern und in den nächsten Ärger zu schlittern.
Samael erhob sich gemächlich und kam auf sie zu. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, baute er sich vor ihr auf und musterte sie von oben herab. »Ich wollte mich eigentlich nur über die Bücher austauschen, die du mir empfohlen hast, aber wie es aussieht, gibt es da noch mehr zu bereden.«
Orlas Verwunderung schien ihn zu amüsieren.
»Ich liebe gute Geschichten«, sagte er. »Soll ich unseren Freund auftauen, damit er sie weiter erzählt oder willst du mich selbst über eure kleine Scharade aufklären?«
»Es tut mir leid, Sir«, begann Orla und senkte den Kopf. »Ich habe nicht nachgedacht.«
Unterwerfung. Einsicht. Gehorsam. So würde sie es am schnellsten rausschaffen. Dass alles nur geheuchelt war, spielte keine Rolle, wenn sie nur überzeugend die Untergebene mimte.
»Hector war so niedergeschlagen«, fuhr sie fort. »Und ich dachte, ich könnte für Chancengleichheit sorgen, wenn ich ihm ein paar Tipps gebe.«
»Chancengleichheit?« Samaels Augen verengten sich.
»Ich wollte ihm etwas mitgeben, das ihn nicht so durchschaubar und das Spiel damit spannender macht.«
»Ach, du hast dabei also nur an mein Wohl gedacht.«
»Sie müssen zugeben, dass es ziemlich langweilig ist, immer zu gewinnen.«
Samael ignorierte ihren letzten Satz und blickte stattdessen hinüber zu Hector, der noch immer zur Salzsäule erstarrt vor ihnen stand. »Jetzt sieh dir den armen Kerl an«, sagte er.
Der Anblick der zermürbten, blassen Gestalt, die einmal Hector gewesen war, bedrückte Orla.
»Glaubst du noch immer, dass deine Einmischung hilfreich war?«, hörte sie Samaels Stimme, während sie sich schuldbewusst abwandte. Gleichzeitig stieg der vertraute Trotz in ihr auf, der sich immer ausbreitete, wenn sie das Gefühl hatte, dass mit zweierlei Maß gemessen wurde. Niemand hatte den Dämon gezwungen, Hector langsam in Richtung Abgrund zu drängen und sollte Samael diesen Vorwurf gerade in ihren Gedanken lesen, dann sollte es so sein. Orla war mit sich im Reinen.
»Ich hatte mich schon gewundert, warum Hector immer überspannter wurde. Total fahrig in seinen Zügen, fast schon besessen. So kannte ich ihn gar nicht.« Der Dämon heuchelte ein Seufzen. »Wer so auf das Schlachtfeld stolpert, macht selten eine gute Figur.«
Jetzt gab der Wolf sich also als Lamm. Ein harmloser Beobachter an der Seitenlinie. Orla spürte die Empörung in ihrem Blut hochkochen. »Und wie ist das mit Siegern, die nur gewinnen können, wenn sie zu unlauteren Mitteln greifen?«
Sie wusste nicht, ob sie über sein süffisantes Lächeln erleichtert oder erbost sein sollte. Was er damit signalisierte, war so durchschaubar wie anmaßend. Wie schon zuvor in der Bibliothek würde er sie zum Duell herausfordern, um sie erneut vorzuführen. Und sie war im Begriff, ihm genau diesen Gefallen zu tun. Entgegen jeder Vernunft würde sie in ihr bekanntes Muster fallen und ihn mit ihrer Empörung unterhalten.
»Ein unehrlicher Sieg ist ein vergifteter Sieg«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wer sich Erfolg nur ergaunern kann, sollte erst gar nicht zum Wettkampf antreten.«
Wollte er sie solange mit Ironie verwirren, bis sie sich – davon benebelt – in ihren eigenen Argumenten verhedderte?
»Verzeihung, Sir.« Orla räusperte sich und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. »Nur damit ich das richtig verstehe ….Wenn man sich – rein hypothetisch – in die Köpfe anderer Leute einschleicht und ihre Gedanken stiehlt …« Sie blickte zu Hector. »Ist das hingegen nicht ergaunert?«
»Ich wüsste nicht, wie Hector das hinbekommen sollte und warum er dann trotzdem so unglaublich schlecht war, aber ja, natürlich hätte er damit betrogen und keinen Sieg verdient.«
»Wieso Hector? Sie haben doch …«
»Ich habe was?«
»Sie haben nicht …?«
Ein paar Sekunden wechselten die verwirrten Blicke hin und her.
»Aber Hector meinte, Sie würden jeden seiner Züge vorhersehen«, sagte Orla.
»Weil ich ihn gut kenne und inzwischen jede seiner Regungen im Spiel zu deuten weiß. Jedes Knacken seiner Fingerknöchel, jedes Räuspern, jedes nervöse Zucken im Gesicht.«
»Er hatte Kopfschmerzen.«
»Und die hat er mir zu verdanken?« Samael hob amüsiert die Augenbrauen. »Wie sollte ich …?«
»Bei unserer ersten Begegnung hier in diesem Zimmer erging es mir genau so«, erwiderte Orla und spürte, wie sich die Sicherheit in ihrer Stimme langsam auflöste.
»Dann sollten wir vielleicht mal unter dem Bett nach bösen Geistern suchen und jemanden rufen, der sie vertreibt.« Er nahm sich einen der Kekse, die Orla mitgebracht hatte und brach ihn entzwei. »Ich kann dir jedenfalls versichern, dass ich damit nichts zu tun habe. Die Gedanken anderer sind für mich ein ähnliches Mysterium wie für dich.«
Orla bekam das Warum nicht zu fassen, aber sie glaubte ihm. Seine Überraschung wirkte echt.
»Denkst du ernsthaft, wenn ich Gedankenlesen könnte, würde ich meine Zeit mit diesem Blödsinn hier vergeuden?«, fragte er lachend.
»Was spricht gegen ein paar Trainingseinheiten zwischendurch, um sich für die großen Konfrontationen aufzuwärmen?«, sagte Orla. »Wir Menschen eignen uns doch sicher gut als Opfertiere.« Langsam geriet sie ins Schwimmen, das wusste sie. Doch anstatt ihren Irrtum zuzugeben, strampelte sie hilflos weiter, während er genüsslich seinen Keks aß.
»Allein schon die Vorstellung langweilt mich zu Tode«, gab Samael zurück. »All der Müll in den Köpfen, durch den ich mich wühlen müsste.«
»Aber Sie würden eine Menge Zeit sparen, wenn Sie immer sofort wüssten, was das Gegenüber von Ihnen hält.«
»Ich bevorzuge die klassische Variante, bei der man mir solche Dinge ins Gesicht sagt.« Er warf ihr einen vieldeutigen Blick zu. »Auch wenn es manchmal etwas länger dauert, sie aus anderen herauszukitzeln.«
Die ungewöhnliche Vertrautheit, die für den Bruchteil eines Moments zwischen ihnen aufblühte, verwirrte Orla. Was sah er in ihr? Warum sah er sie überhaupt, wenn sie für alle anderen stets unsichtbar war?
Ehe das befremdliche Gefühl zu übermächtig werden konnte, wandte Samael sich ab und wischte mit der Hand durch die Luft in Richtung Hector.
»… dazu überredet, Sie auszutricksen, indem ich mir all diese merkwürdigen Dinge ausdenken sollte …«, plätscherte es aus ihm heraus, wie aus einem aufgetauten Brunnen.
»Du kannst gehen«, sagte Samael mit fester Stimme, aber mild im Ton.
Hectors Blick wanderte verunsichert zu Orla und wieder zurück zu dem Dämon.
»Na, mach schon«, sagte Samael und nickte ihm zu. »Schlaf dich aus. Du hast den Rest der Woche frei.«
So ganz schien Hector dem Frieden nicht zu trauen. Vermutlich hatte er nie zuvor eine derartige Offerte bekommen. Seine Augen zuckten, während es in ihm arbeitete. »Aber der Ball, Sir«, stotterte er.
»Ich rede mit Mildred.« Auch wenn Samael lächelte, schlichen sich erste Anzeichen von Ungeduld in seine Mimik.
Wenn Hector schlau war, nahm er das unverhoffte Geschenk und verabschiedete sich in den Feierabend, bevor es sich der Dämon anders überlegte. Doch das Misstrauen lähmte ihn und das war nur allzu verständlich. Man hatte ihm das Happy End eines Filmes serviert, von dem er entscheidende Szenen verpasst hatte. Wie sollte jemand mit diesen Wissenslücken die Situation begreifen?
Gerade als Orla glaubte, ihn zu seinem Glück zwingen und persönlich aus dem Zimmer schieben zu müssen, schien er sich zu besinnen. Unbeholfen setzte er einen Fuß hinter den anderen und schlich rückwärts hinaus, ohne den Blick von seinem flatterhaften Gönner zu lassen. »Ich danke Ihnen, Sir«, murmelte er und landete dabei fast in einem der üppigen Farne, die den Ausgang verschönerten.
Eine letzte Verbeugung, ein leises Klicken der Tür und sie waren allein. Orla wusste, dass sie den Moment nutzen und sich schleunigst aus dem Staub machen sollte. Und das nicht nur, weil jeder weitere Blick, jedes Wort von ihr den Dämon ermutigen würde, sie mit provokanten Fragen zum Bleiben zu verführen. Es war vielmehr die Sorge, dem nicht widerstehen zu können. Nicht widerstehen zu wollen. Denn tief im Inneren erkannte sie, dass sie dieses verworrene Knäuel aus Unterstellungen und Stänkereien, das ständig zwischen ihnen hin und her rollte, auf eine absurde Weise lieb gewonnen hatte.