15 Schlaflos

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»Wie bist du eigentlich bei uns gelandet?«, fragte Samael und Orla spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht. Unter anderen Umständen wäre ihr das unangenehm gewesen, doch für das Spiel konnte es nur von Nutzen sein, wenn sein Fokus woanders lag. 

»Ich kannte Thornwood aus Erzählungen in der Belegschaft«, antwortete sie. »Als ich nach Lord Grimshaws Tod etwas Neues brauchte, habe ich mich wieder erinnert.« Orla entdeckte Forneus auf dem Feld. Die Lösung für ihr Heckenproblem war gefunden. 

»Was erzählt man sich denn so über Thornwood?«, hörte sie Samael fragen, während sie ihr Seemonster unauffällig vor dem Wall aus Dornen platzierte. 

Triumphierend blickte sie auf und sah ihm direkt in die Augen. »Für jemanden, der sich selbst genug ist, sind Sie aber erstaunlich oft an der Meinung anderer interessiert.«

Samael zeigte dieses warme Lächeln, das Orla jedes Mal für einen kurzen Moment vergessen ließ, wie weit entfernt sie eigentlich voneinander waren. 

»Du hast mich durchschaut«, sagte er, während er eine seiner Figuren ein paar Felder nach vorne schob und damit bestätigte, dass das Spiel für ihn zweitrangig geworden war. »Ist es denn so, wie du es dir vorgestellt hast? Hier auf Thornwood?«

»Ich habe, ehrlich gesagt, nicht allzu viel erwartet«, antwortete Orla. »Wer nicht hofft, kann nicht enttäuscht werden.«

»Das klingt schon wieder verdächtig nach Insel.«

»Vielleicht bin ich einfach nur Realistin, die sich nicht im Nebel irgendwelcher Illusionen verlaufen will.« Orla tippte Forneus an, der daraufhin in einem Strudel Wasser abtauchte, um auf der anderen Seite der Dornenhecke aus den Fluten emporzusteigen. Damit war sie Samaels König und seinen Wachen ein entscheidendes Stück näher gekommen. Doch den schien das herzlich wenig zu interessieren. 

Gemächlich stand er auf, schlenderte zum Kamin und legte etwas Brennholz nach. »Das klingt nach der richtigen Einstellung«, sagte er, während sie den Flammen zusahen, die sich auf das Scheit stürzten und sich in das Holz fraßen. »Ein innerer Kompass kann auf Thornwood nicht schaden. Nur wenige finden sich in dem Dickicht zurecht, das um meine Familie herum wuchert. Und die meisten begreifen erst, dass sie sich verlaufen haben, wenn es zu spät ist.«

»Ist das eine Warnung?«, fragte Orla und wippte mit dem Fuß. Ihr gefiel dieses Spiel abseits des Spiels. 

Samael bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. »Ich denke, du siehst die Dinge auch ohne mich, wie sie sind«, sagte er schließlich, während er zum Tisch zurückkehrte. »Und selbst wenn es so wäre – was ist eine Warnung aus meinem Mund schon wert? Ich bin schließlich Teil des Ganzen und in dieser Familie tut niemand etwas ohne Hintergedanken.« 

»Ein Ratschlag von Ihnen wäre nach dieser Argumentation also reine Taktik?«

»Weshalb dein innerer Kompass dir verbieten müsste, mir auch nur eine Silbe zu glauben.« 

Orla wusste nicht so recht, was er mit dieser Koketterie bezweckte – außer Verwirrung zu stiften. 

»Ich dachte, Sie hätten mit all dem hier nichts zu tun«, sagte sie.

»Ich wünschte, es wäre so. Aber niemand kann sein Erbe einfach abstreifen und in der Erde begraben.« Mit ernstem Blick starrte er auf das Kaminfeuer, das leise knisterte, bevor er fortfuhr. »Blut ist Blut. Familie ist Familie. Am Ende gehen wir doch alle denselben Weg.«

Die Resignation, die seine Worte grau färbte, ließ auch den Prunk um sie herum verblassen. Der Raum schrumpfte unter ihrem Schweigen zu etwas, in dem es nur noch sie beide gab – jeder auf seine Weise mit den Fesseln kämpfend, die andere ihnen angelegt hatten. Vielleicht hatte er genau das die ganze Zeit in ihr gesehen: eine Mitgefangene, eine Sympathisantin, eine Seelenverwandte.

Ehe Orla dieser Verbundenheit jedoch nachspüren konnte, wurde das Band von einem verzweifelten Brüllen durchschnitten. Sie blickte auf das Brett und entdeckte einen von Samaels Dämonen auf dem Rücken ihres Seemonsters. Der unbekannte Krieger hatte Forneus schwere Seile umgelegt und forderte ihn zum Kampf heraus, indem er immer wieder kräftig an ihnen zog. Das Gleichnis der Fesseln war das Einzige, das von der Nähe zwischen ihr und Samael geblieben war, denn als ihr sein Grinsen auffiel, realisierte sie, dass er das gemeinsame Bündnis längst gebrochen hatte. In warme Worte eingelullt, war sie unvorsichtig geworden und hatte nicht bemerkt, dass er längst in den Angriff übergegangen war. Der Rattenfänger hatte seine Musik gespielt und sie war auf ihn hereingefallen.

Ihren entrüsteten Blick quittierte er mit einem Schulterzucken. »Du kannst nicht behaupten, dass ich dich nicht gewarnt hätte.«

Orlas Empörung schwelte nur kurz und das lag auch an seinem entwaffnenden Lächeln. Neidlos musste sie anerkennen, dass sie lediglich in der Grube gelandet war, die sie zuvor für ihn ausgehoben hatte. Wäre sie von seinen Worten über Familienbande nicht so leicht zu manipulieren gewesen, würde Forneus noch auf ihrer Seite kämpfen und nicht unter Befehl seines Bezwingers stehen. 

»Ich hätte auf die Warnung hören sollen.« Orla nickte versöhnlich. »Vielen Dank für diese kleine Lehrstunde.«

»Traue nie einem Kingsley, denn sie trauen nicht mal sich selbst über den Weg.« Auch wenn Samael lächelte, hatte Orla das Gefühl, dass er seinen Scherz mit einigen Krümeln Wahrheit garniert hatte, die dem Ganzen eine bittere Note gaben. Die Disharmonie in dieser Familie war offensichtlich und das konnte von Nutzen sein, denn ein geschwächter Verbund war leichter zu zersetzen. Der Boden war fruchtbar, das Misstrauen bereits gesät – sie musste nur einen Weg finden, Samael für die Ernte einzuspannen. 

»Aber der Erfolg gibt den Kingsleys doch auch meistens Recht, oder?«, fragte sie mit unschuldiger Mine – wohlwissend, dass dieses vergiftete Kompliment ihn ärgern würde.

»Erfolg wird überbewertet.« Sein Murmeln klang wie das Brummen eines Bären, den man in seiner Höhle gestört hatte und Orla freute sich diebisch über die kleine Zornesfalte auf seiner Stirn.

»Da fallen mir aber noch hundert andere Dinge ein, die überbewertet sind«, gab sie zurück. 

»Zum Beispiel?« 

»Schönheit.«

»Sagen meist diejenigen, die sie nicht besitzen.«

»Sagen diejenigen, die wissen, dass ein schönes Gefäß nichts taugt, wenn es leer ist.«

Samael lehnte sich zurück, stützte die Arme auf die Lehne seines Stuhls und faltete die Hände. »Du unterstellst, dass es immer nur eines geben kann. Dass Schönheit nie Substanz besitzt.«

»Nein, das tue ich nicht«, sagte Orla. »Ebenso unsinnig wäre es, zu behaupten, dass alles Hässliche automatisch mit Tiefgang gesegnet ist.« Wie ein Spiegelbild imitierte sie seine Pose. »Es geht mir um den Wert von Schönheit. Der wird meiner Meinung nach viel zu hoch bemessen. Angenommen, wir hätten zwei Gefäße, die gleich viel fassen, die beide gleichwertig sind. Das eine ist jedoch aufwendiger verziert, etwas fürs Auge. Die meisten werden sich wohl für das Schöne entscheiden, so wie sie sich im Zweifel auch immer für das hübschere Gesicht entscheiden. Wer schön ist, wird gesehen, dem wird zugehört. Ja, dem wird auch eher geglaubt, obwohl es keinen Beweis dafür gibt, dass dieses Vertrauen verdient ist. Allein die Schönheit macht die Person in den Augen anderer schon wertvoller. Aber was, wenn sich hinter der schönen Fassade nur ein blasser Geist versteckt?«

»Wenn ich mich von Oberflächlichkeiten blenden lasse, darf ich mich natürlich nicht beschweren, wenn mein Gefäß bei näherer Betrachtung ein Loch im Boden hat«, antwortete Samael. »Aber das ist dann das Problem desjenigen, der die falschen Prioritäten gesetzt hat.«

»In einer Gesellschaft, in der Schönheit chronisch überbewertet wird, ist das am Ende das Problem aller.« Diesmal war es Orla, die das Interesse am Spiel verlor und einfach irgendeine Figur setzte. »Ich wünsche mir einfach eine Welt, in der alle gleichermaßen gehört und niemand übersehen wird.« 

»Man kann sich doch auf andere Art interessant machen. Ein kluger Kopf wird immer Gehör finden.«

»Ach, bitte!« Orla rollte mit den Augen und deutete ein Gähnen an. »Kluge Frauen stehen doch nicht wirklich hoch im Kurs. Schließlich können Männer ihnen so schlecht die Welt erklären.«

»Und wenn sie dann auch noch mit Sarkasmus um sich schießen …« 

Erneut badete Orla zu lange in Samaels Lächeln. Wenn man von der Sonne geküsst wurde, flüchtete man eben nicht sofort in den Schatten. In ihrem Leben gab es nur wenige Lichtbringer, die ihre Sprache sprachen und ihr in stillem Einverständnis die Hand reichten. Genau das machte den Moment – wie viele andere zwischen ihnen – so kostbar, auch wenn Orla nach allem, was sie über Samael wusste, gut beraten war, dem Frieden nie ganz zu trauen.  

Selbst als sie den Blick senkte, um die widersprüchlichen Gefühle zu ersticken, die er in ihr auslöste, wirkte die Wärme seines Lächelns nach. Sie spürte sie in ihren Fingern, während sie im Manual blätterte und in ihrem Gesicht, als sie kurz darauf sein Räuspern hörte.     

»Okay, was wird noch überbewertet?«, sagte er. »Schönheit, Ehrlichkeit …«

»Ich habe nie behauptet, dass Ehrlichkeit überbewertet wird.« Irritiert blickte Orla auf. 

»Aber du möchtest dir das Recht vorbehalten, schlecht über andere zu denken«, sagte Samael in gewohnter Brandstiftermanier.

»Ich würde es anders formulieren, aber ja, im Grunde haben Sie recht, Sir«, antwortete Orla. »Ich möchte gerne selbst entscheiden, welche Gedanken ich mit anderen teile und welche lieber nicht.« Für einen Moment dachte Orla an Doyle und die kleinen Geheimnisse, die sie mittlerweile vor ihm versteckt hielt – an all die Schattierungen zwischen schwarz und weiß. »Ich halte Ehrlichkeit für ein hohes Gut, aber nicht jede Wahrheit muss ausgesprochen werden.«

»Etwas zu leugnen, macht es nicht ungeschehen«, gab Samael zurück, während er einen dreiköpfigen Drachen auf dem Spielfeld in Stellung brachte.

»Mir geht es um die Konsequenzen. Wenn die Wahrheit zerstörerischer ist als die Lüge …«

»Und wer entscheidet das? Wer sagt, dass du richtig liegst? Stellst du dich in dem Moment nicht über denjenigen, den du vorgibst mit deiner Lüge zu schützen, indem du behauptest, dass du es besser weißt?«

Orla fragte sich, wie sie an diesen Punkt gelangt waren. Es lag ihr fern, Lügen zu verteidigen. Es ging ihr nur darum, die Dinge als das komplexe Geflecht zu begreifen, das es nun mal war. Niemand schaffte es lügenfrei durchs Leben und es war vermessen zu glauben, dass radikale Ehrlichkeit keine Opfer forderte. Den Luxus absoluter Wahrheit konnten sie nur diejenigen leisten, denen die Gefühle anderer egal waren. »Ich finde es nicht verwerflich, anderen ab und zu Hoffnung geben zu wollen, auch wenn die Wirklichkeit das vielleicht nicht hergibt«, sagte sie. »Für viele von uns ist es das Pflaster, das wir brauchen, um weitermachen zu können

»Vielleicht gab es eine Zeit, in der ich mich dieser Illusion auch hingegeben habe.« Samael lachte das Lachen eines verbitterten alten Mannes. »Doch falsche Versprechungen sind nicht die Heilung, sondern das Gift in der Wunde. Ein Gift, das uns dazu verführt, irrationale Entscheidungen zu treffen. Es kittet Beziehungen, die nicht gerettet werden sollten. Es bringt Herrscher an die Macht, die diese Macht missbrauchen. Es verlängert das Leiden, weil man lieber die Augen verschließt, als sich der Wahrheit zu stellen.« Er schwieg einen Moment, als würde er in seinem Gedächtnis all die Belege der Vergangenheit durchgehen, die seine These bestätigten. »Weißt du, was die größte aller Lügen ist?« In seinem Blick lag etwas Melancholisches. »Dass alles irgendwann wieder …«

»… gut wird«, sagte Orla, als hätte er ihr die Worte eingeflüstert. Sein verblüfftes Gesicht spiegelte die Verwirrung, die in ihr herumwirbelte. Diese Nähe nahm unheimliche Züge an. Als hätten sie die Welt zusammen gepuzzelt und dabei erneut nach demselben fehlenden Teil gegriffen.

»Wie war das noch mal mit dem Gedankenlesen?«, sagte Samael schmunzelnd und Orla wusste nichts zu entgegnen.

Stattdessen flüchtete sie sich in das Spiel. Sie wusste zwar nichts Konkretes mit Gaap anzufangen, doch die Tatsache, dass er als Tausendsassa galt, der immer für eine Überraschung gut war, reichte ihr, um ihn ins Zentrum des Geschehens zu setzen. »Ordnung«, sagte sie und lehnte sich zurück.

»Was ist damit?« Samael suchte das Spielfeld mit den Augen ab. 

»Ich finde Ordnung überbewertet.«

»Aus dem Mund eines Dienstmädchens klingt das irgendwie seltsam.« 

»Ich räume hinter den Herrschaften her, weil ich dafür bezahlt werde, nicht weil ich einen unbändigen Putzdrang habe.« 

»Du hast dir diesen Job doch ausgesucht.«

»Nicht unbedingt. Ich bin da eher reingeworfen worden.« Auf seinen fragenden Blick antwortete sie mit einem Seufzen. »Sagen wir einfach, meine Optionen waren begrenzt.«

»Das heißt, du hattest eigentlich andere Pläne?«

»Es ist trotzdem gut, dass es so gekommen ist.«

Kurz schien es, als wollte Samael etwas erwidern, doch er beließ es bei einem Nicken. 

»Wie auch immer«, sagte er schließlich. »In diesem Punkt stimmen wir ohne Einschränkung überein.«

»In welchem?«, fragte Orla.

»Ich ziehe das Chaos grundsätzlich der Ordnung vor.«

»Das Abenteuer dem Stillstand.« Wissend nickte Orla.

»Das Mysteriöse ist immer spannender als die Klarheit.«

»Sind Sie deshalb so oft in Pandaemonia – weil Sie das Chaos bevorzugen?«

»Es fühlt sich einfach lebendiger an.«

»Und wie muss ich mir das Leben dort vorstellen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, hob Orla die Hände wie zu einer Beschwörung. »Hernieder breite Feuerflocken wallen … des Jammers Worte und heisres Schrein … ein Getös’, das ohne Rast in ewig schwarzen Lüften kreiset …« Sie ließ die Hände wieder sinken. »So etwas in der Art?« 

»So etwas in der Art.« Samael kratzte sich an den Schläfen. Fast schien es, als sei es ihm unangenehm, über sein anderes Leben zu reden.

»Also exakt wie in der Göttlichen Komödie«, sagte Orla.

»Streich das moralingetränkte Geseier und erhöhe den Spaßfaktor um Zehn!«

Er hatte es tatsächlich gelesen. Dass er ihrer Empfehlung gefolgt war, freute sie mehr, als sie zugeben wollte. »Mir war gar nicht klar, dass es überhaupt einen Spaßfaktor in der Geschichte gibt«, sagte sie.

»Warum heißt es dann Komödie?« 

»Weil es im Gegensatz zur Tragödie gut endet.«

»Das mit der Folter ist doch brüllend komisch.« Als Samael mit den Schultern zuckte, war Orla – wie so oft – nicht sicher, ob er es ernst meinte oder die Rolle des Dämons, der weder Moral noch Anstand kannte, nur überzeugend spielte. Die Widersprüche in allem, was er sagte und tat, machten eine Bewertung seines Charakters nahezu unmöglich.

»Dann haben Sie den Dante also tatsächlich gelesen«, sagte Orla und bedachte Samael mit einem prüfenden Blick.

»Amüsiert überflogen trifft es eher.«

»Und ich dachte, Bücher seien nur etwas für Eskapisten, die mit ihrem eigenen Leben unzufrieden sind.«

Eine Antwort blieb aus. An Samaels Stelle sprach der dreiköpfige Drachendämon auf dem Spielfeld. Sein Murmeln beschwor bedrohliche Schatten herauf, die in Windeseile Orlas König erreichten und von den anderen Figuren isolierten. Orla begriff, dass sie sich erneut in die Irre hatte führen lassen. Wenn sie ihren Heeresführer nicht augenblicklich in Sicherheit brachte, war das Spiel schneller verloren, als sie Bataroi sagen konnte.


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