18 Hiobskunde

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»Das sind in der Tat geradezu besorgniserregende Entwicklungen«, hörte Lucinda es in der Runde der Ältesten raunen. Sie hatte gehofft, dass Cyrus die Betreuung der Würdenträger übernehmen würde, doch der hatte sich nach dem Essen abrupt vom Tisch entfernt und war seitdem nicht aufzufinden. Und so stand das Quintett – wie immer abgesondert von allen anderen – mit gesenkten Köpfen im Kreis, als würden sie jeden Moment zum Klagegesang ansetzen. Die schweren Mönchskutten mit den Stickereien verstärkten diesen Eindruck zusätzlich. 

Als sie Lucinda bemerkten, tauschten sie unsichere Blicke aus und rutschten noch enger zusammen. Nach all den Jahren im Hohen Rat, nach all ihren Bemühungen und Entbehrungen gehörte sie ganz offensichtlich nicht dazu.

»Geht es um Dotharius?«, fragte sie mit der Unschuldsmiene eines Lammes und der Bestimmtheit eines Axthiebes. »Keine falsche Scheu, meine Herren. Ich bin natürlich im Bilde, was die Entwicklungen in Pandaemonia betrifft und genauso besorgt wie Sie.«

Der Kreis öffnete sich ein Stück, doch den Ältesten war ihr Unbehagen noch immer anzusehen.

Im Grunde konnte Lucinda es Cyrus nicht verübeln, dass er sich anderweitig amüsierte. Die fünf Eigenbrötler machten es einem wirklich nicht leicht. Ob die vorübergehende Stille feindselig war und die Gastgeberin vergraulen sollte oder einfach aus einer gewissen Hilflosigkeit resultierte, weil die Gruppe durch die Einmischung von außen aus der Balance geraten war, spielte dabei keine Rolle. Dieser Schweigekreis war so ziemlich der letzte Ort, an dem sie gerade sein wollte.

Lucinda blickte seufzend zu den Betancourts, die sich mit dem Ölmagnaten und seiner Frau unterhielten und einander zuprosteten. Selbst die impertinente Pressefrau, die gerade ungelenk eine Olive aus ihrem Drink fischte und einem der Kellner in die Hand drückte, schien ihr in diesem Moment eine verlockendere Gesellschaft zu sein. Wäre es nicht von so großer Wichtigkeit gewesen, ein Ohr im inneren Kreis des Rates zu haben, hätte sie längst das Weite gesucht.

»Wenn sich der Aufstand in diesem Tempo ungehindert ausweitet, könnten sich die Verhältnisse von Grund auf ändern«, murmelte Aadavan. »Und das nicht zu unseren Gunsten.«

Lazlo nickte bedächtig und erinnerte dabei ein wenig an eine Schildkröte. »Wird Zeit, dass ihm endlich jemand Einhalt gebietet.«

»Cyrus hat seine Leute bereits auf Dotharius angesetzt«, sagte Lucinda, um das Eis zu brechen. »Wir nehmen diese Sache sehr ernst und behalten ihn schon länger im Auge.« Sie vermied bewusst Begriffe wie Aufstand oder Rebellion, auch wenn sie mehr als zutreffend gewesen wären, denn sie wusste, wie empfindlich die Ältesten auf solche Worte reagierten. 

Aadavan faltete die Hände wie zu einem Gebet. »Wir dürfen nicht zulassen, dass jemand wie Dotharius am Ende auf dem Thron sitzt.«

»Das wird nicht passieren«, sagte Lucinda. »Das liegt außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit. Er hat vielleicht den Willen, womöglich hat er auch die Mittel, sich bis ins Zentrum vorzukämpfen. Doch letztendlich fehlt ihm das royale Blut.« Sie lächelte. »Der Thron wird ihn mit Haut und Haar verschlingen.« 

»Was, wenn er ihn gar nicht besteigen will?«, erwiderte Aadavan. »Vielleicht will er eine völlig neue Form des Regierens einführen. Zuzutrauen wäre es ihm. Und mit den Aufständischen, die er hinter sich versammelt, hätte er genug Macht und damit die Legitimation.«

Lazlo sah ihn mit finsterer Mine an, als würde er ihn dafür strafen, dass er das Unmögliche ausgesprochen und damit erst möglich gemacht hatte. »Umso wichtiger ist es, endlich einen würdigen Erben für den Thron zu finden«, sagte er. »Eine starke Krone würde Pandaemonia befrieden, das Chaos zähmen und den Anarchisten den Wind aus den Segeln nehmen.«

Der Blick, den er Lucinda zuwarf, hatte etwas Vorwurfsvolles. Als sei sie persönlich dafür verantwortlich, dass sich nach Aamon und Zelig niemand gefunden hatte, der in der Lage war, das Zepter zu übernehmen. Aspiranten hatte es wahrlich genug gegeben. Doch wer geeignet war, entschied allein der Thron. Es war nicht ihre Schuld, dass Guron – trotz royalen Blutes – wie ein Würstchen gegrillt worden war, sobald er sich auf den Thron gesetzt hatte. Dass Lamar zerquetscht und Ederlin mit Haut und Haar gefressen worden war. Es lag nicht in ihrer Verantwortung, dass sich diese Möchtegernkönige allesamt maßlos überschätzt und dies mit ihrem Leben bezahlt hatten. 

»Was ist mit der Prophezeiung?«, fragte Lazlo in ihre Richtung. Natürlich hatte Lucinda längst geahnt, worauf er eigentlich hinaus wollte. Dass er es jetzt direkt vor allen ansprach, war als Affront zu verstehen. Laut Prophezeiung war Samael nun mal der aussichtsreichste Kandidat und dass die Kingsleys dem Ruf nicht längst gefolgt waren, hatte für brodelnden Unmut im Hohen Rat gesorgt. Spätestens jetzt, da die Bedrohung durch einen Nicht-Royal immer näher kam.

»Nun …« Lucinda räusperte sich. Mit jeder Sekunde, in der die Blicke des Rates auf ihr ruhten, wurde ihre Zunge trockener. Dass Samael sich nicht um Thron-Nachfolge scherte, während Pandaemonia immer mehr im Chaos versank, war schwer zu rechtfertigen. »Wissen Sie … « In diesem Moment spürte sie die Nähe eines Fremden in ihrem Nacken.

»Ich würde nicht viel auf die Prophezeiung geben«, hörte sie die joviale Stimme von Barnabas hinter sich. »Vage Worte und verzerrte Bilder. Ich verstehe, dass Lucinda nach allem, was den Anwärtern widerfahren ist, nicht irgendwelchen trügerischen Nebelschwaden folgt.« Er blickte in die Runde und wartete gelassen, bis der Kreis sich öffnete. Dass ihrem Widersacher im Gegensatz zu ihr ohne Zögern Platz gemacht wurde, nahm Lucinda nur zähneknirschend hin. Alle im Rat waren gleich, manche offenbar gleicher. 

Barnabas winkte einen Kellner herbei und ließ sich ein Glas reichen, ehe er fortfuhr: »Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass wir nicht wissen, wer der Auserwählte ist und wann er uns die Ehre erweisen wird.«

»Wie wäre es, wenn du dein Glück versuchst.« Das vergiftete Lächeln, das Lucinda ihm schenkte, war mit einer Extraprise Spott gewürzt. »Du warst lange genug in der Warteschleife.«

»Nichts läge mir ferner, als die Dinge an mich zu reißen«, antwortete Barnabas gelassen.

»Wieso an dich reißen, wenn es deine Bestimmung sein könnte?« Es war nie seine Bestimmung, über irgendetwas oder irgendjemanden zu herrschen. Er wusste es, sie wusste es. Das machte die Sache so amüsant. »All die Jahre in der zweiten Reihe. Vielleicht ist deine Zeit endlich gekommen.« 

»Es rührt mich, dass dir mein Glück so am Herzen liegt, aber ich war immer dort, wo ich mich am wohlsten gefühlt habe.« Er nahm einen Schluck aus seinem Glas.

»Im Schatten anderer«, sagte Lucinda. »Dort, wo man sich so wunderbar verstecken kann.« 

»Ruhm und Ehre bedeuten mir nichts«, sagte er scheinbar gleichgültig, doch sie bemerkte ein Zucken um seine Mundwinkel. Auch wenn er die Fassade aufrecht hielt – wer Barnabas näher kannte, bemerkte sein Ringen um Contenance. 

»Bescheidenheit.« Lucinda deutete mit der Hand in seine Richtung. »Das ist deine Stärke. Deshalb bist du noch hier, während andere in die Verdammnis gerissen wurden. Du hast gewusst, wie man sich anpasst. Bist stets mit allen gut ausgekommen – egal, wem gerade deine Treue galt. Aamon, Gideon …. Wie auch immer der Wind sich drehte, du wusstest, wo du stehen musst.«

Bevor Barnabas sich nach allen Regeln der Schauspielkunst für ihr vergiftetes Kompliment bedanken konnte, mischte sich Aadavan ein: »Was sagt dir dein Instinkt, Königsmacher?« Dass ihr der selbst ernannte Friedensstifter so barsch das Wort abschnitt, überraschte sie nicht. Eine Krähe würde der anderen kein Auge aushacken.

»Über den Thronfolger?«, fragte Barnabas und simulierte eine nachdenkliche Pause. Es widerte Lucinda an, wie genüsslich er in Aufmerksamkeit badete, die ihm nicht zustand. »Es liegt auf der Hand, dass der nächste Herrscher über Pandaemonia durchsetzungsfähiger, aber auch empathischer sein muss als alle anderen vor ihm. Es braucht nicht nur Willensstärke und Weitsicht … ein König muss sein Ohr auch am Volk haben, gerade jetzt, wo es darum geht, alle miteinander zu versöhnen.« Er leerte sein Glas. »Leider sehe ich so jemanden im Moment nicht. Nicht mal als verschwommenen Umriss am Horizont.« 

»Vielleicht hat dich deine Intuition verlassen«, sagte Lucinda. »Das soll ab einem gewissen Alter vorkommen.« Ihr blieb nicht verborgen, dass seine Beschreibung des gewünschten Thronfolgers den Erzählungen über Dotharius erstaunlich ähnelten. Der Wind trug das Flüstern über den Mann des Volkes bereits seit Wochen von Maldolus über Ocava bis nach Caligor. Dass ausgerechnet dieser Niemand ein Heilsbringer sein sollte, blieb fraglich. Es wurde Zeit, dass sich Cyrus um das Problem kümmerte und dem Getuschel ein Ende setzte. Ein Revoluzzer – ob nun auf oder neben dem Thron – war der letzte Sargnagel für Pandaemonia.

Als sie ihren Sohn endlich in der Menge entdeckte, versuchte sie ihn unauffällig heranzuwinken. Wenn er die Ratsältesten davon überzeugte, dass er sich Dotharius mit allen Mitteln in den Weg stellen und den Spuk beenden würde, wäre das Ticket für den Hohen Rat zum Greifen nah.