18 Hiobskunde

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Nachdem die Gäste vom Dinnertisch zum zwanglosen Miteinander in den Nachbarsaal gewechselt waren, neigte sich Orlas Schicht langsam dem Ende. Sie hatte den Programmpunkt in Percys Ablaufplan gelesen, doch was an dieser förmlichen Veranstaltung zwanglos sein sollte, blieb offen. Nur weil niemand mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden war, den Raum zu verlassen, konnte man dieses choreografierte Schaulaufen noch lange nicht als unverkrampft bezeichnen. Alle Anwesenden waren sicher gewissen Konventionen unterworfen. Orla bezweifelte stark, dass man die große Lucinda Kingsley als Gast einfach so von der Seite ansprechen durfte. Vermutlich bestimmten die unausgesprochen Regeln ganz genau, wer wo zu warten hatte, bis die Grand Dame des Hauses Interesse an einem Gespräch zeigte.

Wenn Sterbliche auf Dämonen trafen, war die Hierarchie nun mal festgelegt. Da half es auch nicht, als Mensch besonders niederträchtig zu sein – in den Augen der mächtigen Royals würde man nie dazugehören. An der festlichen Tafel zu sitzen, war ein Privileg, das jederzeit wieder entzogen werden konnte. Wer das mit einem Freibrief verwechselte, fand sich ganz schnell außerhalb des erlesenen Kreises wieder. Mit etwas Pech endete man auch schon mal in einem Erdloch oder – wie Orla selbst bezeugen konnte – als Aschehaufen. Ihr persönlich war dieses Risiko zu hoch und die moralischen Abgründe, in die man eintauchen musste, zu tief. 

Wer zu genüsslich in Macht badete, ertrank früher oder später darin. Wer Prestige brauchte, um sich lebendig zu fühlen, war innerlich bereits tot.

Orla räumte die restlichen Teller von der Tafel und registrierte mit Bedauern, dass der teure Hummer neben anderen Delikatessen kaum angerührt und damit wohl umsonst gestorben war. Die schal gewordenen Champagnerreste in den Gläsern hätten eine ganze Badewanne füllen können und die vormals edlen Tischtücher würden aufgrund der vielen Rotwein- und Soßenflecken ein trauriges Ende als Putzlappen nehmen. Man musste nicht besonders religiös sein und sich auf irgendwelche Todsünden berufen, um diese Verschwendungssucht befremdlich zu finden. 

Während sie Blattgoldreste von den Tellern kratzte, ertönte aus dem Nachbarsaal Gelächter – von Streichern untermalt und von Gläserklirren begleitet. Orla stellte sich vor, wie die Herrschaften mit einem Martini in der Hand über das Fußvolk spotteten, das sich solche Eskapaden nie würde leisten können. Wie ironisch, dass ihre Empörung über diese eklatanten Missverhältnisse von ihren Mitmenschen so oft mit Neid abgetan wurde. 

Sie war nicht neidisch. Sie hatte weder Lust auf Hummer noch auf Champagner, geschweige denn auf steifen Small Talk in unbequemer Garderobe. Sie hatte es einfach satt, dass diejenigen, die sich auf Kosten anderer bereicherten, nicht bereit waren, etwas mehr als ein paar läppische Krümel vom Kuchen abzugeben – als Ausgleich für das, was sie den weniger Glücklichen genommen hatten. Es ärgerte sie zu sehen, dass der unverdiente Reichtum stattdessen für Selbstbeweihräucherungsorgien wie diese verpulvert wurde. 

Wie tröstlich, dass Unmut immer auch ein guter Motor war. Lächelnd nahm Orla einen der unbenutzten goldenen Löffel vom Tisch und steckte ihn ein. Eine kleine Geste der Rebellion, auf die hoffentlich bald der große Schlag folgen würde. Wenn es ihr gelang, wenigstens einen Teil der Machenschaften aufzudecken, in die der Kingsley-Clan verstrickt war, würde dieser Löffel einen Ehrenplatz an ihrer Wand bekommen. Erst kam der Hochmut, dann kam der Fall.