18 Hiobskunde

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»Und deshalb ist es so wichtig, dass wir die Reihen geschlossen halten«, sagte Cyrus und versuchte seiner Stimme die richtige Dosis Pathos zu verleihen. »Um dem Chaos gemeinsam etwas entgegenzusetzen.« Er warf seiner Mutter einen heimlichen Blick zu und bekam ein zurückhaltendes Nicken als Antwort. Dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit des Hohen Rates genoss, war für beide ein Novum. Nach dem Reinfall beim Essen hatte er die Hoffnung eigentlich aufgegeben, zu den Ratsältesten durchzudringen und sich um andere Partygäste gekümmert, bei denen ein Zeitinvestment lohnenswerter schien. Zehn Minuten mit dem Zeitungsverleger waren lukrativer für das Geschäft als all die Jahre, die er dem Rat bisher gewidmet hatte. Menschen waren grundsätzlich dankbarer, wenn er sie mit Aufmerksamkeit bedachte und folglich auch viel gesprächiger.

Wie Lucinda es letztlich geschafft hatte, die Schweigemauer des Rates doch noch zu durchbrechen und ihm eine Lücke offenzuhalten, würde sie ihm später verraten müssen. Er ahnte, dass die Sorge um den wachsende Einfluss von Dotharius, aber vor allem die eigene Unfähigkeit des Rates, darauf eine Antwort zu finden, eine Rolle spielten.

Einmal mehr zeigte sich, dass es klug gewesen war, einige seiner Söldner schon vor den ersten Unruhen nach Pandaemonia zu schicken, um die Lage zu sondieren. Er war eher zufällig auf Dotharius aufmerksam geworden, als ihm einige seiner Leute, die ihm von den neusten Aktivitäten seines Bruders berichten sollten, die Gerüchte um einen ominösen Heilsbringer mitbrachten, der die niederen Dämonen in den einzelnen Königreichen gegen die herrschende Ordnung aufwiegelte. Cyrus hatte nicht viel auf das Gerede gegeben und eigentlich damit gerechnet, dass sich das Problem schnell von selbst erledigte – so wie es das immer tat, wenn jemand in Pandaemonia das Recht der Stärkeren infrage stellte. Er hatte Dotharius für einen leichtgläubigen Träumer gehalten, den sein Geschwätz vom Aufstand der Unterdrückten eher früher als später den Kopf kosten würde. Doch da seine Leute eh vor Ort waren, um seinen Bruder vor Dummheiten zu bewahren, hatten sie Anweisungen bekommen, ihn auch über Dotharius auf dem Laufenden zu halten. Und das sollte sich nun auszahlen. Ein Wort des Hohen Rates würde genügen, um sich der Sache persönlich anzunehmen und sich damit ihre ewige Dankbarkeit zu sichern. 

»Es sollte ein Exempel statuiert werden«, sagte Aadavan. »Damit es niemand wagt, seinem Beispiel zu folgen und weitere Unruhe zu verbreiten.«

»Verzeiht, wenn ich dem widerspreche«, entgegnete Cyrus – darauf bedacht, genug Demut einzustreuen, um den Rat nicht zu düpieren. »Damit würden wir nur einen Märtyrer aus ihm machen.«

Barnabas rieb sich das unrasierte Kinn und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ihn sang- und klanglos verschwinden zu lassen, scheint mir eine ebenso schlechte Lösung zu sein. Es würde nur Legenden beflügeln, die wir nie wieder kleingeredet bekommen. Seine Anhänger würden geduldig auf seine Rückkehr warten und den Mythos bis dahin aufrecht erhalten.« 

»Dann müssen wir zuerst seinen Ruf zerstören«, entgegnete Aadavan. »Bevor wir ihn zerstören«.

»Und wie soll das gehen?«, fragte Barnabas spöttisch. »Willst du ihn zu einem öffentlichen Rededuell herausfordern?« Sein Lachen traf auf finstere Minen, denn für einen ratlosen Rat war Sarkasmus wie Salz in offenen Wunden.

Cyrus wusste den Moment der Unstimmigkeit für sich zu nutzen und räusperte sich. »Wie wäre es, wenn ich meinen Männern sage, dass sie seine Anhängerschaft infiltrieren sollen?« Die Blicke, die der Rat sich untereinander zuwarf, deutete er optimistisch als Zeichen fortzufahren. »Wir könnten jemanden direkt auf Dotharius ansetzen – jemand, der versucht sein Vertrauen zu gewinnen. Wenn wir mehr über seine Strategie wissen – wie er denkt, was ihn umtreibt – hilft uns das, die richtigen Gegenmaßnahmen einzuleiten.« 

Etwas abseits entdeckte er Garvey, der sich mit ernstem Gesicht den Weg durch die feiernde Menge bahnte. Dass er trotz anderslautender Anweisung hier auftauchte, ließ nichts Gutes erahnen. Etwas sagte ihm, dass Eile geboten schien.

 »Da sich meine Männer bereits unters Volk gemischt haben, dürfte es nicht allzu schwer sein, sich als Anhänger auszugeben, um sich in den inneren Kreis vorzuarbeiten.« 

Garvey blieb auf Abstand. Seine Mine ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass es dringend war. Normalerweise hätte Cyrus das Gespräch an dieser Stelle abgebrochen und sich von seinem Gegenüber verabschiedet, um die schlechten Nachrichten in Empfang zu nehmen, doch diese Runde war keine gewöhnliche und es war unklug, den Fuß, den er in der Tür hatte, jetzt abrupt zurückzuziehen.

»Es steht mir nicht zu, in dieser Sache die Entscheidungen zu treffen. Das obliegt allein dem Hohen Rat«, sagte er und bedachte alle Mitglieder, besonders Aadavan mit einem ernsten Blick. »Doch wenn die Ältesten meinem Vorschlag zustimmen und mir gewisse Befugnisse übertragen, weil wir uns letztendlich alle einig sind, dass die Dringlichkeit der Sache es gebietet, könnten wir noch heute loslegen.« Er winkte Garvey herbei, der überrascht, aber gehorsam folgte und fuhr fort: »Wir sollten nicht den Fehler machen und zu lange zögern. Denn mit jeder Stunde, die wir warten, wird Dotharius nur mächtiger.« 

Als Garvey zu ihnen stieß, klopfte ihm Cyrus zur Begrüßung auf die Schulter und stellte ihn als seine rechte Hand vor. »Ich kann ihn gleich losschicken, um die Mission in die Wege zu leiten.« Cyrus spekulierte darauf, dass seine Entschlossenheit wie eine Welle auf die anderen überschwappte und sie – unsicher, wie sie waren – einfach mitriss. »Garvey wird die anderen anweisen, was zu tun ist und mir – und damit meine ich natürlich uns – Bericht erstatten, so oft der Rat es wünscht.«

Auf anfängliches Stirnrunzeln von Aadavan folgte schließlich ein erstes Nicken von Lazlo, dann ein zweites und schließlich gab der Rat im Chor seine murmelnde Zustimmung. Selbst Barnabas schien von der Idee angetan. Es war möglich, dass er dem Rat gegenüber aus taktischen Gründen nur vorgab, einverstanden zu sein, um keine weiteren Dissonanzen zu erzeugen, doch das konnte Cyrus zunächst egal sein. Er genoss den kurzen Moment des Triumphs, während er Garvey aus dem Saal folgte, wohl wissend, dass seine gute Laune nicht von Dauer sein würde.