Beim zweiten Mal war es immer einfacher. Im Schutz der Dunkelheit machte sich Orla an der Tür der Bibliothek zu schaffen, die sich diesmal schneller ihren Lockpicking-Künsten unterwarf als beim ersten Besuch. Und auch die Tatsache, dass sie sich in den Räumlichkeiten bereits auskannte und sich nicht erst orientieren musste, half ihr, den Auftakt ihres kleinen Einbruchs geschmeidig über die Bühne zu bringen. Sie blockierte die Tür mit einem Stuhl, zog die Vorhänge der Fenster zu und knipste die kleine Taschenlampe an, die sie sich im Hauswirtschaftsraum ausgeliehen hatte. Auch wenn Lucinda Kingsley und ihre Gäste von den Feierlichkeiten abgelenkt waren, schien es keine gute Idee, Aufmerksamkeit durch unnötige Festbeleuchtung auf sich zu ziehen.
Orla holte den NanoBug aus ihrer Schürze und legte ihn in ihre Hand. »Auf ein Neues«, flüsterte sie dem Roboterkäfer zu, während der jedes Beinchen einzeln ausstreckte und die Flügel zur Probe surren ließ. Vorsichtig schloss sie die Hand wieder, suchte im schwachen Schein der Taschenlampe nach der Leiter und schob diese an die Stelle vom letzten Mal. Sie blickte hoch und dachte an ihr miserables Missgeschick mit Victor Hugo und alles, was darauf folgte; an Samael und den Verschwiegenheitspakt, den sie an diesem Tag geschlossen hatten. Ohne den Vorfall hätte es vermutlich kein Bataroi-Spiel gegeben und ohne Spiel wäre sie nie an das Doppelgänger-Serum gelangt.
Nichts passierte ohne Grund.
Mit der Taschenlampe zwischen den Zähnen und dem Bug in der Faust erklomm Orla die Leiter. Oben angekommen hielt sie ihre Hand auf und beobachtete lächelnd, wie der Käfer Richtung Lüftung krabbelte. Die Weichen waren gestellt, nun hieß es abwarten, ob der kleine Spion nah genug an die Verdächtigen herankam, um etwas Sinnvolles zu liefern.
Beim Hinabsteigen war sie besonders vorsichtig und vermied den Blick zu den Büchern, der ihr beim letzten Mal zum Verhängnis geworden war. Diesmal war der Fokus klar: Abzug ohne weitere Nebenmanöver. Obwohl es mehr als schade war, die vielen Buchlieblinge mit derselben Ignoranz zu strafen wie deren Besitzerin. Orla hielt inne. Kurz überlegte sie, ob sie dem gestohlenen Löffel eine weitere Trophäe in Form eines Buches beifügen sollte. Niemand würde es merken. Niemanden würde es stören. Und streng genommen waren ihre neu erwachten Elstergelüste nur die logische Konsequenz aus dem viel größeren Unrecht, das sie umgab. Eine Art Notwehr sozusagen.
Neugierig leuchtete Orla in die hintere Ecke des Regals, um sich nach einem geeigneten Kandidaten für ihre kleine Trophäensammlung umzusehen. Dabei fiel ihr auf, dass einige Bücher seltsam unordentlich einsortiert waren. Sie wirkten wie in Eile reingestopft – einige verkehrt herum mit dem Rücken zur Regalwand, andere quer gekippt. Bei näherer Betrachtung fielen ihr Exemplare auf, die gar nicht dort hingehörten. Was suchte Kafka neben Poe und Voltaire bei Proust? Dostojewski hatte hier ebenso wenig verloren wie Camus.
Etwas Verschwommenes blitze vor ihrem geistigen Auge auf, nicht ganz greifbar, weniger als eine Ahnung, doch langsam formte es sich zu einem Erinnerungsfetzen. Lucinda Kingsleys Blick war immer wieder in diese Ecke gewandert, während sie Orla und Samael zur Rede gestellt hatte. So verhielt sich jemand, der etwas zu verbergen hatte und sicherstellen wollte, dass niemand dem Geheimnis zu nahe kam. Deshalb auch das Theater wegen des unerlaubten Besuches ihrer Bibliothek.
Es ging nicht um die Bücher.
Ihre Sorge hatte dieser Ecke gegolten.