18 Hiobskunde

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Cyrus eilte den endlosen Korridor entlang und die Treppen hinauf, als gäbe es irgendeine Hoffnung, das Rennen gegen die Zeit doch noch zu gewinnen. Bei schlechten Nachrichten blieb er gerne in Bewegung, das half ihm, das schwer Verdauliche doch irgendwie zu verdauen und es hielt die Wut in Zaum. Diesmal funktionierte es nur leidlich. Erst vertippte er sich bei der Eingabe des Pins an der Bürotür, dann legte er seinen Finger zu kurz auf das Scan-Pad, sodass es ihn nicht authentifizieren konnte. Genervt versuchte er es ein zweites Mal. Während er auf das Zeichen der Freigabe wartete, murmelte er ein »Wo stehen wir in der Sache?« über seine Schulter, ohne Garvey dabei anzusehen.

»Die Polizei durchsucht bereits die Räumlichkeiten und das Fabrikgelände von Mowbray Inc.«, antwortete seine rechte Hand. »Es gibt wohl auch erste Vorladungen.« Die Monotonie in seiner Stimme erinnerte Cyrus an einen dieser Navis mit Sprachassistenten, die Autos nüchtern in den nächsten Kanal steuerten. Normalerweise schätzte er Garveys Sachlichkeit, doch in diesem Moment erschien sie ihm mehr als unpassend. 

Nachdem ein Summen ertönte, gab die Tür den Weg ins Büro schließlich frei. »Das sieht Hildesheimer ähnlich«, murmelte Cyrus und stürmte zum Schreibtisch. »Aus dem Grab heraus noch Ärger machen.« Er legte sein Handy, das er wohlweislich stumm geschaltet hatte, mit dem Display nach unten ab. »Wieso ist das niemandem aufgefallen, bevor wir der Fusion zugestimmt haben?«, fragte er – den Finger noch am Telefon. Er hatte das Gefühl, dass die polternden Anrufe es förmlich zum Glühen brachten. 

»Wir wussten natürlich von vereinzelten Klagen ehemaliger Mitarbeiter«, antwortete Garvey. »Wegen der Verletzungen des Arbeitsrechts vor ein paar Jahren.«

»Und niemand kam auf die Idee, tiefer zu graben?«, rief Cyrus aufgebracht, während er in der Schreibtischschublade wühlte, ohne richtig zu wissen, was er eigentlich suchte. »Wofür bezahle ich die teuren Anwälte? Damit sie solche Fusionen einfach ungeprüft durchwinken?« 

»Illegale Chemieabfälle sind nie zur Sprache gekommen« Garvey blieb bei seiner Androidenstimme. »Nur eine Handvoll Personen wusste überhaupt davon …«

»Nun, irgendwer muss ja geplaudert haben«, fiel Cyrus ihm ins Wort. »Die Frage ist nur, warum derjenige nicht zuerst zu uns gekommen ist. Wir hätten ihm bestimmt ein lukrativeres Angebot machen können als die Staatsanwaltschaft.«

»Wir wissen leider noch nicht, wer das Ganze hat durchsickern lassen, aber wir sind dran.«

»Giftfässer«, murmelte Cyrus. »Das ist so uninspiriert. So letztes Jahrhundert. Wer ist denn heute noch so dämlich und entsorgt das Dioxin dort, wo es jeder finden kann? Da hätte man die Fässer ja gleich auf dem Time Square abstellen können.« Er seufzte und hielt einen Moment inne. »Müssen wir mit Klagen rechnen?«

»Das ganze Ausmaß des Schadens ist zu diesem Zeitpunkt nur schwer einzuschätzen, aber ich würde davon ausgehen, ja.«

»Wir hätten die Fabrik gleich nach der Übernahme schließen sollen. Der Standort war ungünstig, die Auflagen zu streng. Wir hätten ins Ausland gehen sollen.«

»Es gibt ein weiteres Problem.« Garvey reichte ihm ein Handy. »Jemand hat es der Presse gesteckt.« 

Die Zahlen auf dem Display waren besorgniserregend. 

»Die Aktie ist im freien Fall«, kommentierte Garvey den Super-GAU monoton, als würde Cyrus es nicht mit seinen eigenen Augen sehen.

»Pfeif die Anwälte ran. Ich will jeden einzelnen in einer Stunde in der Zentrale Spalier stehen sehen.« 

»Wird erledigt, Boss.«

»Es muss eine Klausel geben, die uns erlaubt, von dem Vertrag zurückzutreten.« Cyrus lief zum Aktenschrank und gab die Zahlenkombination für das Schloss ein. »Arglistige Täuschung oder so etwas. Da muss doch was zu machen sein.« 

»Ich werde alles Nötige in die Wege leiten.«

»Und kümmere dich um die Presse«, sagte Cyrus, während er in den Akten wühlte. »Wir müssen den Spin vorgeben. Es darf keinen Zweifel bestehen, dass wir das Opfer sind. Hildesheimer hat uns hintergangen und vermutlich noch viele andere. Hol Miranda dazu und sag ihr, sie soll ein entsprechendes Statement verfassen.«

Garvey tippte bereits fleißig in sein Handy, doch Cyrus hatte noch einen weiteren Auftrag für ihn. Er zog eine dünne Akte aus dem Hängeregister und reichte sie seinem Adjutanten. Nie hätte er gedacht, dass sich die Informationen, die sich dort über die letzten Monate gesammelt hatten, so schnell rentieren würden. 

»Um das Ganze herunterzukochen, brauchen wir eine Ablenkung – einen Skandal, der größer ist als ein paar vergiftete Farmer, etwas mit Emotionen, das von den Leuten in ihrer Gier nach Klatschgeschichten verschlungen wird.« Während Garvey noch in der Akte blätterte, blickte Cyrus auf die Uhr. »Verfüttere das an unsere üblichen Multiplikatoren im Netz, damit sie es schnellstmöglich verbreiten«, sagte er – in Gedanken schon bei der nächsten Baustelle. »Wenn das erst einmal die Schlagzeilen beherrscht, wird niemand mehr über Mowbray Inc. reden.« 

Widerwillig nahm Cyrus sein Handy und scrollte durch die zahlreichen Anrufe, von denen er genau wusste, wer besorgt, wer verärgert und wer einfach nur ein neugieriger Aasgeier war. Erneut verspürte er das Bedürfnis, sich bewegen zu müssen. Krisenkommunikation erforderte einen kühlen Kopf. Der Flur gab ihm den nötigen Raum und das Gemälde vor seinem Büro schien ihm die perfekte Kulisse für die lästigen, aber notwendigen Rückrufe. Lucinda hatte das Kunstwerk damals aufhängen lassen, doch mittlerweile hatte auch er Gefallen daran gefunden: 

Ein Schiff auf tosender See – vom Sturm getrieben und vom Regen gepeitscht. 

Ein Schiff, das zu sinken drohte – von übermächtigen Wellen verschlungen und in die Tiefe gerissen. 

Ein Schiff, das stur den Fluten trotzte und gegen die Naturgewalten ankämpfte – den Horizont stets im Blick. 

Wer ins Wanken geriet, musste standhaft bleiben. 
Untergehen war keine Option.