18 Hiobskunde

1

Orla griff hinter die Bücher im Regal. 

Nichts.

Sie nahm die Exemplare, die besonders durcheinander einsortiert worden waren, in einer Reihe heraus. 

Nichts.

Kein Versteck, keine geheimen Papiere, nichts.

Auch das Abklopfen der Rückwand brachte sie nicht weiter. Hektisch blätterte sie die herausgenommenen Bücher durch – in der Hoffnung, dort etwas zu finden.

Nichts.

Es war nicht das erste Mal, dass Orla auf Gespenster hereingefallen war, die sie selbst heraufbeschworen hatte. Wenn Tatendrang den Blick trübte, war man gut beraten, einen Schritt zurückzutreten und die Situation aus einem anderen Winkel zu betrachten. Vermutlich gab es eine viel einfachere Erklärung für das Durcheinander – eine Erklärung, die nichts mit irgendwelchen Verschwörungen zu tun hatte.

Sie seufzte leise, während sie die Bücher zurück in das Regal räumte. Nachdenklich betrachtete sie den Voltaire und plötzlich kam ihr Samael in den Sinn. Er hatte Zugang zur Bibliothek, scherte sich wenig um das Verbot, diese zu betreten und hatte ganz offenbar Gefallen am Lesen als rebellischen Akt gefunden, wenn man seinen Kommentaren beim Bataroi glauben durfte. Vermutlich hatte er die Bücher ausgeliehen und sich nicht die Mühe gemacht, sie wieder ordentlich einzusortieren – auch um seine Mutter bewusst zu provozieren. Welch Ironie, dass sie in ihrem Ermittlungseifer ausgerechnet Opfer des Revoluzzers geworden war, dem sie selbst geholfen hatte, seine kleine Fehde voranzutreiben. 

»Freut mich, wenn ich helfen konnte«, murmelte Orla und stellte den Voltaire einige Etagen tiefer an den richtigen Platz. Dabei streifte sie mit dem Handrücken etwas auf der Unterseite des Regalbrettes. Irritiert beugte sie sich herunter, tastete mit den Fingern nach der Stelle und beleuchtete sie mit der Taschenlampe. Als sie realisierte, dass sie eine Art Aktivierungsmechanismus gefunden hatte, zögerte sie nicht lange und drückte den Knopf.

Knarzend setzte sich ein Teil des Regals in Bewegung. Orla stolperte zwei Schritte zurück und warf einen kurzen Blick über die Schulter aus Angst, mit dem Lärm jemanden aufgeschreckt zu haben. Als sie erkannte, was hinter der Fassade aus Holz und Büchern zum Vorschein kam, blieb ihr Mund für einen Moment offen stehen. Sie hatte mit vielem gerechnet – ein Tresor in der Wand war nicht dabei gewesen. 

Ungläubig fuhr sie mit ihrer Hand über den unerwarteten Fund, während ihre Gedanken wie in einem Flohzirkus wild herumhüpften. Was war den Kingsleys so wichtig, dass es dermaßen aufwendig versteckt werden musste? Geschäftspapiere, die illegale Machenschaften offenbarten? Belege über strafbare Abkommen? Ganz gleich, welches Ermittlungsfutter sich dort finden würde, Orla hatte Anlass zur Hoffnung, dass die APA sich fürs Erste daran satt essen konnte. Es wunderte sie zwar, dass sich der Tresor nicht in einem der viel besser gesicherten Büros befand, aber Lucinda hatte vermutlich ihre Gründe. Sie wäre nicht die Erste, die sich der Strategie des unverdächtig Offensichtlichen bediente – die brisantesten Geheimnisse genau dort zu verstecken, wo es niemand erwartete. 

Gesichert war der Tresor doppelt – mit einem Code und dem in diesem Haus scheinbar obligatorischen Fingerscan. Letzteres trübte Orlas Stimmung nur begrenzt. Es spornte sie eher an, sich endlich um die Fingerabdrücke der Kingsleys zu kümmern, die sie eh für den Zugang zu den Büros brauchte. Der PIN-Code war die größere Hürde. Bestimmte Ziffern des Touchpads wirkten abgenutzter als andere, doch selbst wenn sie nur diese mit einbezog, gab es zu viele mögliche Kombinationen. Sie konnte sich ein weiteres Overlay von den Technikjungs besorgen, das die Fingerbewegungen beim Eingeben des Zahlencodes aufnahm, doch dies war keine Bürotür, die auf- und zugeschlossen wurde. Im schlimmsten Fall war Orla bereits in Rente, wenn der Tresor das nächste Mal geöffnet wurde. 

Sie blickte auf die Bücher im Regal und überlegte. Hatten die fehlplatzierten Exemplare doch eine Bedeutung? Gab es bei Kafka, Voltaire und den anderen Hinweise auf den Code? Vielleicht spielten bestimmte Seitenzahlen eine Rolle. Beim hastigen Durchblättern war ihr nichts aufgefallen, doch wenn sie die Bücher genauer unter die Lupe nahm, fand sich unter Umständen etwas Brauchbares. 

Orla drückte den versteckten Knopf. Während sich das Regal in seine unverdächtige Ausgangsposition zurückbewegte, nahm sie den Voltaire und platzierte ihn dort, wo sie ihn vorgefunden hatte. Wenn die Bücher so wichtig waren, wie Orla glaubte, würde ihr Fehlen auffallen. 

Sie würde wiederkommen. Besser ausgerüstet und entschlossener denn je. Die Schatzkarte hatte ihr Kreuz bekommen, das Bergen des kostbaren Fundes war nur eine Frage der Zeit.

Nachdem Orla die Vorhänge wieder aufgezogen hatte, eilte sie auf leisen Sohlen zur Tür, doch ein Knall ließ sie aufschrecken.


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