19 Vom Festhalten und Loslassen

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Was der pompöse Höhepunkt des Abends werden sollte, entpuppte sich als einzige Enttäuschung. Anstatt unter dem vom Feuerwerk beleuchteten Sternenhimmel mit alten und neuen Familienmitgliedern auf die Zukunft anzustoßen, stand Lucinda allein auf der Terrasse und fror. Dass Cyrus lieber mit Garvey konspirierte, war die eine Sache – bedauerlich, aber hinnehmbar. Schließlich hatte er sich an diesem Abend vor den Ratsältesten beweisen müssen und sich bravourös geschlagen. Samael hingegen hatte nicht einmal den Anstand besessen, irgendein Interesse zu heucheln – weder an der Veranstaltung noch an den Betancourts. Stattdessen hatte er sich bei der erstbesten Gelegenheit aus dem Staub gemacht.

Dass Cordelia Betancourt die Party noch vor dem Feuerwerk verlassen hatte mit dem Gefühl, eine von vielen unter den zahlreichen Gästen zu sein, bedauerte Lucinda sehr. Wie sollte zwischen den beiden jemals eine Verbindung entstehen, wenn auf der einen Seite chronisches Desinteresse herrschte? Dabei hätte sich alles so schön fügen können. Ein Plausch, ein Tänzchen und die Magie des Feuerwerks. Ein leises Versprechen, sich bald wiederzusehen. Mehr hatte sie gar nicht erwartet. 

»Der Himmel voller Funken«, hörte sie die Stimme von Barnabas neben sich. »Und ein einziger reicht, um ein Feuer zu entfachen.« 

»Aamon war derjenige mit der pyromanischen Obsession, nicht ich«, antwortete Lucinda, die Augen stur auf das Feuerwerk gerichtet. »Er wollte die Welt brennen sehen. Ich bevorzuge es geordnet und überschaubar.«

»Deshalb war es mir immer ein Rätsel, wie du und Aamon jemals …«.

»Was willst du, Barnabas?« Dass sie ihn direkt ansah, schien ihn für einen kurzen Moment zu verunsichern. 

Er wich ihrem Blick aus und betrachtete den Himmel. »Ist es nicht erstaunlich, dass etwas so Destruktives gleichzeitig etwas so Schönes hervorbringen kann?« 

»Schwarzpulver und Metallsalze«, gab sie ungerührt zurück. »Eine simple chemische Reaktion. Kein Grund, etwas Größeres hineinzuinterpretieren.« 

Ein Blütenblatt löste sich von der Schulter ihres Kleides, doch bevor der Wind es davon tragen konnte, hatte Barnabas es mit einem gezielten Griff eingefangen. Er öffnete seine Handfläche und betrachtete es nachdenklich. 

»Alles ist flüchtig, alles vergeht.« Er zupfte das Blütenblatt in zwei Hälften. »An einer Welt, die im Begriff ist, sich aufzulösen, kann man unmöglich festhalten, findest du nicht auch?«

»Tu uns beiden doch bitte den Gefallen und erspare uns das Gesäusel«, sagte Lucinda und zog sich ihre Stola über die Schultern. »Solche Sentimentalitäten haben dir noch nie gut zu Gesicht gestanden.« 

»Es gab Zeiten, da hatten meine Worte noch Gewicht bei dir.« Barnabas ließ das zerrissenen Blütenblatt fallen und rückte näher an sie heran, doch Lucinda schmunzelte spöttisch und hielt ihn auf Abstand. »Hast du nicht gerade davon gesprochen, dass man Vergangenes in der Vergangenheit ruhen lassen sollte?« 

Ein Raunen ging durch die Menge, als ein besonders großer Funkenregen auf Thornwood niederprasselte. Das goldene Leuchten erhellte die Gesichter der Gäste. Nur Barnabas schien das Feuerwerk, das ihn eben noch zu Kitschballaden inspiriert hatte, düster zu stimmen. 

»Ich habe das mit Kilian mitbekommen«, sagte er und seine heruntergezogenen Augenbrauen sollten vermutlich Anteilnahme signalisieren. Obwohl Lucinda ihm die Betroffenheit nicht abnahm, war sie neugierig, was er zu erzählen hatte. Ihre eigenen Recherchen waren schnell versandet. Niemand hatte etwas gesehen, der Körper war bereits eingeäschert worden und am Fundort hatte es keine brauchbaren Spuren gegeben. Abgesehen von ein paar unappetitlichen Fotos hatte sie nichts in die Finger bekommen. Das Wer war bisher ebenso wenig greifbar geworden wie das Warum.

Jemand wie Barnabas, der seine Ohren überall hatte, konnte sie womöglich aus der Sackgasse hinausmanövrieren, in die sie geraten war. 

»Ich habe da so ein Gefühl«, sagte er. »Es könnte mehr dahinter stecken, als es gerade den Anschein macht. Viel mehr. Immerhin war er ein Royal. Wir sollten uns zusammentun und gemeinsam herausfinden, was wirklich passiert ist.« 

»Das ist alles? Ein Gefühl?« Seine Dreistigkeit war ebenso beeindruckend wie ärgerlich. Er stand mit leeren Händen vor ihr und glaubte allen Ernstes, sie damit in eine Allianz zu locken? 

»Man munkelt etwas von versehentlicher Selbsttötung, richtig?«, fragte er.

»Munkelt man das?« Tatsächlich hatte Lucinda dieses Gerücht selbst in Umlauf gebracht, um die Familie zu schützen.

»Das passt aber so gar nicht zu seinen Verletzungen«, raunte ihr Gegenüber. »Ich hab gesehen, was ihm angetan wurde. Das war kein Versehen. Das war Mord.«

Die Art, wie er sie ansah, machte sie stutzig. Sie hätte schwören können, ein Funkeln in seinen Augen zu sehen, als er von Mord gesprochen hatte. Woher kam das Interesse für jemandem, den er gar nicht kannte? Kilian hatte sich trotz seiner Abstammung nie in royalen Kreisen bewegt. Wieso sollte Barnabas sich um einen toten Außenseiter scheren, der ihm lebendig schon ziemlich egal gewesen sein durfte? 

Ein beunruhigender Gedanke beschlich sie: Was, wenn es nicht um Kilian selbst ging, sondern vielmehr um das, was sein Tod symbolisierte? Den möglichen Anfang vom Ende der Kingsleys. Dass Barnabas unter dem Deckmantel des Mitgefühls obskure Details ausbreitete und etwas von Verschwörung raunte, konnte durchaus als versteckte Drohung verstanden werden. Erst fiel der Ast und bald würde der gesamte Stammbaum folgen. 

»Das mit Kilian ist eine Tragödie«, sagte sie und bemühte sich, wie die Lucinda zu klingen, die stets über den Dingen stand. »Aber uns verband nicht viel. Er war nie jemand, der dazugehören wollte.«

»Und doch war er ein Kingsley«, sagte Barnabas und seufzte in gespieltem Mitleid. »In Blut und Herkunft auf ewig mit dir verbunden.« 

Lucinda umklammerte das Terrassengeländer vor sich. Noch deutlicher hätte er nicht machen können, dass er den Mord für seine Zwecke ausschlachten wollte. Sie hatte schon oft miterlebt, wie meisterlich er andere in die Paranoia treiben konnte, um sie schließlich nach Belieben zu manipulieren. Wie aus leisen Zweifeln, die er ihnen eingeflüstert hatte, Ängste wurden, die irgendwann wie Käfer unter der Haut kribbelten. 

Ihm war zuzutrauen, dass er den Mord an Kilian genau aus diesem Grund in Auftrag gegeben hatte, um ihr nun Krumen hinzuwerfen, in der Hoffnung, dass sie ihm folgte. Und selbst wenn er nicht direkt involviert war, und lediglich seine Chance gesehen hatte, ihr über Umwege zu schaden, musste er eine Quelle haben, die ihn mit ausreichend Informationen versorgte, um sie ködern zu können. Sie brannte darauf, mehr über seine Verstrickungen zu erfahren, doch taktisch schien es klüger, ihm heute Abend die kalte Schulter zu zeigen. Umso eifriger würde er einwilligen, sie bei der Aufklärung des Mordes zu unterstützen, wenn sie ihn in ein paar Tagen mit besorgter Mine und gebrochener Stimme aufsuchen und um Hilfe bitten würde. Lucindas Blick wanderte in den Himmel zu den Feuerwerksfunken, die wie Sternschnuppen vom Himmel fielen und einer nach dem anderen verglühten. 

Alles war flüchtig, alles verging. 

Sie dachte an Aamon und daran, wie es hätte sein können, wenn das Unvermeidliche nicht eingetreten wäre.