19 Vom Festhalten und Loslassen

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Auf den Schreck folgte Erleichterung. Orla gönnte sich einen kurzen Blick aus dem Fenster und lächelte beim Anblick der Himmelsblüten, die größer und größer wurden und schließlich farbenfroh auf Thornwood niederregneten. Auf den Krach konnte sie verzichten, aber die Bilder, die das Feuerwerk in den Nachthimmel zeichneten, machten sie auf kindliche Weise glücklich. Nur widerwillig wandte sie sich ab und schlich zurück zur Tür, um nicht Gefahr zu laufen, den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit zu vergessen. 

Sie wollte gerade aus dem Zimmer, als sie Cyrus Kingsley in viel zu gefährlicher Nähe auf dem Flur gegenüber erblickte. Glücklicherweise telefonierte er mit dem Rücken zu ihr, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass er den Fluchtweg versperrte. Orla wich zurück, wagte jedoch nicht, die Tür zu schließen – aus Angst, dass sie so erst recht auf sich aufmerksam machte. Zu allem Überfluss schien er langsam näher zu kommen, denn seine Stimme war immer deutlicher durch den Türspalt zu hören. Hektisch blickte Orla sich im Zimmer nach einem Versteck um. Eine offene Tür würde Cyrus nicht ignorieren und wenn er sie hier mitten in der Nacht allein fand, gab es keine Ausrede, die ihre Anwesenheit zufriedenstellend erklärte. Nachdem sie ihre begrenzten Optionen ausgelotet hatte, entschied sie sich aus Mangel an Alternativen für die Flucht aus dem Fenster. Nicht ganz ungefährlich, denn die Bibliothek lag im zweiten Stock, doch vielleicht konnte sie auf dem schmalen Mauervorsprung warten, bis die Luft rein war. Hastig öffnete sie das Fenster, raffte ihren Rock zusammen, sodass sie genug Beinfreiheit hatte und kletterte über das Fensterbrett hinaus in die kühle Nacht.

Ihre Flucht gelang keine Sekunde zu früh. 

»Ich rufe gleich zurück«, hörte Orla die Stimme von Cyrus in der Bibliothek, während sie sich draußen gegen die feuchtkalte Hauswand presste. Sie fluchte innerlich auf den Wind, der ihr nicht nur die Haare ins Gesicht blies, sondern – und das war das eigentlich Ärgerliche – auch die Fensterläden zum Quietschen brachte. Ausgerechnet jetzt ließ das Feuerwerk nach und war nur noch sporadisch zu hören. Orla lehnte den Kopf gegen die Wand und überlegte. Sie konnte unmöglich in der Nähe des Fensters bleiben. Noch auffälliger wären nur eine Fanfarengarde und ein auf sie gerichteter Neonpfeil gewesen. Wenn sie nicht von Cyrus auf dem Vorsprung entdeckt werden wollte, musste sie sich in Bewegung setzen. 

Vorsichtig wagte sie einen Blick nach unten. In der Dunkelheit war schwer einzuschätzen, wie viel Meter es abwärts ging. Vermutlich waren es jedoch genug, um einen Sturz aus dieser Höhe als fatal einzustufen. Dass der Mauervorsprung nur einen Fuß breit war und der tyrannische Wind sie nicht in Ruhe ließ, erschwerte das Vorhaben zusätzlich. Angestrengt pustete Orla die Strähnen aus ihrem Gesicht und schob sich Stück für Stück – mit den Fingern die Wand entlang tastend – bis zur Ecke, die auf die Rückseite des Gebäudes führte.

Einen Blick zurück wagte sie nicht und so konnte sie nur hoffen, es auch wirklich rechtzeitig in die rettende Unsichtbarkeit geschafft zu haben, als sie hörte, wie Cyrus das Fenster schloss. Ein Rückweg über die Bibliothek war nun ausgeschlossen. Doch hier oben zu verharren, kam noch weniger infrage. Was, wenn Cyrus sie doch gesehen hatte und an einem anderen Fenster auftauchte? Was, wenn sie vom Garten aus an der Fassade entdeckt wurde? 

Beherzt griff Orla nach dem Fallrohr der Regenrinne neben sich und schluckte die letzten Bedenken hinunter. Ihre Finger umklammerten die Schellen, die in die Mauer eingelassen waren, während sie mit den Füßen Halt an der Hauswand suchte. Das blecherne Knarzen weckte wenig Vertrauen, doch nun, da sie den Abstieg begonnen hatte und schon ungelenk an dem Rohr hing, gab es kein Zurück. Schelle für Schelle kletterte sie hinab und war selbst überrascht, dass es – nachdem sie ihren Rhythmus gefunden hatte – recht einfach voranging. Einzig ihre Finger litten unter dem Tempo und den scharfen Kanten des Metalls, das sich erbarmungslos in ihre Haut schnitt.

»Lass uns zurückgehen« Orla erstarrte, als sie eine Männerstimme unter sich hörte. »Es ist vorbei.« Für einen Sprung war es eigentlich zu früh, doch wenn sie nicht riskieren wollte, entdeckt zu werden, musste sie es wagen. Sie schloss die Augen, atmetet tief durch und ließ los.