19 Vom Festhalten und Loslassen

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Der Aufprall war unsanft, doch zu Orlas Glück hatten die Büsche, die das Haus umsäumten, das Gröbste abgefedert. Erleichtert sammelte sie die abgebrochenen Zweige und losen Blätter von ihrem Kleid dankbar für die vielen Lagen Stoff, die vermutlich Schlimmeres verhindert hatten. Nie hätte sie gedacht, dass sie den Kartoffelsack mal als Fallschirm nutzen würde.

Wieder auf den Füßen, blieb sie im sicheren Dickicht und versuchte die Stimme zu orten, die sie aufgeschreckt hatte. Die Schritte kamen näher – langsam und bedächtig.

»Vermutlich ein Fuchs.« Wenn der Mann nicht Selbstgespräche führte – was äußerst unwahrscheinlich schien – musste Orla davon ausgehen, dass er nicht allein war. 

»Hier … nimm meine Jacke.« 

Als sie die Stimme erkannte, löste sich ein Seufzen von ihren Lippen. Sollte der Zufall sich erneut einen Scherz erlaubt haben?

»Wir haben alle Zeit der Welt«, hörte sie ihn sagen und dachte daran, wie ihr Herz sich dem Bass seiner Stimme vollständig unterworfen hatte, als sie sich das erste Mal begegnet waren. Diesmal klang er anders. Weniger fordernd. Bisher waren alle Facetten, die sie von Samael kennengelernt hatte – ob Wut, Spott, Charme oder Hochmut – von Dominanz geprägt. Ihm schien es wichtig, die Oberhand zu behalten. Doch hier floss Sanftmut in seiner Stimme – wie eine Feder auf dem Wasser. Orla reckte den Hals, um besser sehen zu können, wer in der Lage war, diese verletzliche Seite zum Vorschein zu bringen, erkannte aber nur zwei dunkle Schatten, die sich auf dem Gartenweg von ihr entfernten – nicht in Richtung des Haupthauses, sondern genau entgegengesetzt. Sie beschloss beiden zu folgen, was bei dem langsamen Tempo, das sie an den Tag legten, ein Leichtes war. Der kleinere Schatten lief gebückt und wirkte, als wäre jeder Schritt eine Herausforderung. Der Größere, den Orla für Samael hielt, hatte seinen Arm beschützend um die Schultern seiner Begleitung gelegt.

In dieser Richtung gab es nur das Gewächshaus, ein paar Gemüsebeete und einen heruntergekommenen Wachturm, den allein aus Sicherheitsgründen seit Jahrzehnten niemand mehr betreten zu haben schien. Warum schlichen die beiden zu dieser Uhrzeit in der hintersten Ecke des Gartens umher, anstatt sich auf der Feier zu amüsieren? Orla blickte zum Haupthaus, aus dem die „Vier Jahreszeiten“ schallten. Was Samael betraf, konnte sie sich die Antwort denken. Dennoch hätte es hundert gemütlichere Orte für einen Partyboykott gegeben als diesen – gerade weil seine Begleitung nicht in der Verfassung schien, ausgedehnten Nachtwanderungen zu frönen.

Sofort bereute Orla es, die beiden aus den Augen gelassen zu haben, denn als sie zurück auf den Weg schaute, waren sie verschwunden. Dafür leuchtete eines der Fenster im Turm auf. Es war nicht mehr als ein schummriges Flackern, doch es kam ohne Zweifel aus dem Inneren des verlassenen Gemäuers. Wie die Motte folgte Orla neugierig dem Licht – an dem Gewächshaus vorbei, durch die Gemüsebeete bis zu der geheimnisvollen Turm-Ruine. Auf dem Grundriss von Thornwood, den sie für die APA gezeichnet hatte, war an dieser Stelle ein weißer Fleck. Nun galt es herauszufinden, ob sie die Ruine zu früh abgeschrieben hatte. 

Vorsichtig öffnete sie die morsche Tür, Zentimeter für Zentimeter – immer in Sorge, das altersschwache Ding würde sie mit einem dröhnenden Ächzen verraten. Ein modriger Geruch schlug ihr entgegen, während sie sich die Steintreppe hinauf tastete – angezogen von dem dumpfen Klang der Stimme oben in der Turmspitze. Was zum Teufel trieb Samael hier im Verborgenen und mit wem? 

Orla nahm die letzten Stufen bis zu einer kleinen Tür und konnte ihr Glück kaum fassen, als sie bemerkte, dass sie nur angelehnt war. Das warme Licht, das aus dem Inneren des Raumes drang, warf einen hellen Streifen auf die Wand des Treppenaufgangs, durchbrochen von zwei Schatten, die sich hin- und herbewegten. Samaels Stimme war nun deutlich zu hören, doch seine Begleitung blieb stumm. 

Angespannt überlegte Orla, wie sie einen besseren Blick auf die beiden bekommen konnte. Den Kopf durch die Tür zu stecken, wäre das Einfachste, aber nicht das Klügste gewesen. Also kramte sie in ihrem Kittel nach dem kleinen runden Spiegel, den sie für genau solche Fälle dabei hatte. Es dauerte einen Moment, bis sie die richtige Position gefunden hatte und im Spiegelbild etwas erkannte.

Auf einem kleinen, erschreckend schlichten Bett saß eine Greisin – oder vielmehr das, was man für ihren Geist halten konnte. Sie war so blass, dass das Licht fast durch sie hindurch schien. Ihr schneeweißes Haar stand wild in alle Richtungen ab und bedeckte einen Teil ihrer knochigen Schultern. Sie trug eine Art Nachthemd und Pantoffeln, die viel zu groß für ihre zierlichen Füße schienen. 

»Wie wär es mit Dostojewski?«, hörte Orla Samael fragen. »Etwas mit Seele und Tiefgang?« Er setzte sich zu der alten Frau auf das Bett und strich ihr ein paar Strähnen aus dem Gesicht, doch sie reagierte nicht auf seine Berührung. Ihr Blick war starr auf eine Ecke des Zimmers gerichtet, als würde sie dort etwas sehen, das niemand sonst wahrnahm. Sie bewegte die Lippen, doch es schienen keine Worte herauszukommen. 

Sie war da und war es auch nicht.

Erst als Samael zu lesen begann, änderte sich ihr Verhalten. Ihr Gesicht hellte auf und ihr Blick wanderte langsam in seine Richtung. Es war, als würden die Worte wie Glühwürmchen aus dem Buch flattern und die Greisin auftauen. Zögerlich schob sie ihre Hand über das Bett in seine Richtung. Samael umschloss ihre Finger mit seiner Hand, ohne den Blick vom Buch zu lassen, und drückte sie fest an seine Brust. Auch wenn die alte Frau in einer anderen Welt zu sein schien, spürte man, dass es eine Verbindung zwischen beiden gab. Und dass Samael die wenigen Momente genoss, in denen er sie zu sich in die Hierwelt holen konnte.

Da saßen sie in friedlicher Eintracht, während das Fest im Haus noch im vollen Gange war. Sie musste ihm viel bedeuten, wenn er sich seiner Mutter widersetzte und die Zeit lieber mit ihr verbrachte, abseits von allem. 

Orla fühlte sich in diesem Moment wie ein Fremdkörper, der diese Zweisamkeit ungerechtfertigt störte. Sie würde herausfinden, wer die Frau war. Zu gegebener Zeit. Bis dahin würde sie ihnen den Frieden lassen, den sie beide offenbar so dringend beieinander suchten.


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