Das Getuschel an den Tischen im Frühstücksraum glich dem Blätterrauschen im Wald, wenn der Wind besonders heftig durch die Bäume fuhr. Orla stand an der Tür und wunderte sich, dass die sonst so streng praktizierte Ruhe trotz Anwesenheit von Madame Mildred nicht eingehalten wurde. Nach dem anstrengenden Abend und der kurzen Nacht hätte es besonders leise sein müssen, doch der Raum pulsierte geradezu vor Leben. Auf unangenehme Art erinnerte sie die Stimmung an die einsamen Momente in der Schulcafeteria, wenn ein neues Gerücht die Runde machte und jeder einen Flüsterpartner am Tisch zu haben schien – jeder außer Orla. Doch dann entdeckte sie Nell, die sie hastig heranwinkte und auf den Platz neben sich zeigte.
Den letzten Schlaf aus ihren Augen wischend setzte sich Orla zu ihr und murmelte: »Gibt es einen bestimmten Grund, warum wir heute in einem Ameisenhaufen frühstücken?«
Nell lächelte sie geheimnisvoll an, hob die Augenbrauen und öffnete den Mund, doch bevor sie nur ein Wort sagen konnte, kamen Küchenhilfen durch die Türen des Frühstücksraumes und brachten mehrere Servierwagen mit Kuchen und Gebäck herein. Das Tuscheln wurde lauter, sodass Madame Mildred sich gezwungen sah, ein paar Schritte in Richtung der süßen Überraschung zu gehen, als drohe sie, die Wagen eigenhändig wieder herauszuschieben.
»Hat jemand Geburtstag?«, flüsterte Orla.
»Besser.« So wie Nell über das ganze Gesicht strahlte, fragte Orla sich, ob es eine Genügsamkeitsklausel im Arbeitsvertrag gab, die sie überlesen hatte – einen Passus, der die Belegschaft dazu verpflichtete, sich auch über die kleinste gönnerhafte Geste zu freuen, als würden Weihnachten und Thanksgiving zusammenfallen. Dass alle nach den gestrigen Feierlichkeiten mit den opulenten Mahlzeiten gerade so euphorisch auf ein paar ordinäre Muffins und Kekse regierten, erinnerte sie an Spatzen, die unnötig Wirbel um heruntergefallene Krümel machten.
Madame Mildred hob die Hände und deutete allen, still zu sein. »Meine Damen, wir machen das doch nicht zum ersten Mal.«
Sie wies die Bankreihe am Fenster mit einer Handbewegung an aufzustehen. Brav erhoben sich die Mädchen und holten sich nacheinander ihre Portion Kuchen ab. Diejenigen, die wieder saßen, starrten auf ihre Teller, als würde ein Goldbarren darauf liegen. Hier und da, wurde der Muffin vorsichtig mit der Gabel betastet und geprüft. Doch niemand wagte es, schon anzufangen.
Als Orlas eigenen Bankreihe endlich an der Reihe war, konnte es für Nell gar nicht schnell genug gehen. Ungeduldig schob sie Orla nach vorne, nur um sie mit dem gefüllten Teller in der Hand wieder zurück zu ihren Sitzplätzen zu scheuchen. Auch sie schien nur mühsam an sich halten zu können und beäugte ihren Muffin von allen Seiten, indem sie den Teller immer wieder ein Stück drehte.
Erst als die Letzte ihre Portion erhalten hatte, gab Madame Mildred mit einem Nicken zu verstehen, dass gegessen werden durfte. Orla bezweifelte, dass es ein einziges Stück Kuchen auf der Welt gab, das dieses Theater rechtfertigte.
Misstrauisch trennte sie ein paar Krumen mit der Gabel ab und kostete – längst darauf vorbereitet, auf ganzer Linie enttäuscht zu werden. Der Muffin schmeckte – keine Frage. Das Gaumenfeuerwerk blieb jedoch aus. Sie beobachtete Nell, die ihren Muffin sorgfältig sezierte, ohne ein Stück zu essen. Gerade als sie ihre Mitbewohnerin flüsternd fragen wollte, was hier vor sich ging, schreckte ein Freudenschrei sie hoch. Ein Mädchen am anderen Ende der Sitzreihe sprang auf und hielt etwas in die Luft. Es war zu klein, um es aus der Ferne zu erkennen, doch es versetzte die Finderin in sichtbare Verzückung.
Nell hatte sich inzwischen ungefragt über Orlas Muffin hergemacht und ihn mit mehreren Gabelattacken regelrecht zerfledert. Verwundert sah Orla zu, wie ihre Zimmergenossin die beiden Teller austauschte.
»Probier!« Eifrig nickend schob Nell ihr den Teller vor die Nase.
Erneut sprang jemand freudig auf. Diesmal am anderen Ende des Frühstückraumes.
»Mach schon!«, sagte Nell.
Orla nahm zögerlich einen neuen Anlauf und tatsächlich stieß ihre Gabel diesmal auf etwas Hartes. Vorsichtig kratzte sie das Fundstück aus dem Muffin heraus und fühlte sich wie bei einer Ausgrabung, bei der sorgfältig Schicht um Schicht abgetragen werden musste. Dass hinter ihr erneut jemand jubelte, kümmerte sie diesmal weniger. Sie nahm das, was sie zunächst für eine Münze hielt, in die Hand und betrachtete es. Es war silbern, erstaunlich schwer und hatte die Form einer Krone.
»Du Glückspilz!«, rief Nell.
»Ich verstehe nicht. Was ist das?«
»Los, zeig sie Madame Mildred.« Nell griff nach ihrem Handgelenk und hob es hoch, als würden beide sich melden. »Du bist auserwählt.«
»Ich bin was?«
»Geh und zeig deine Krone vor.«
»Aber das ist dein Muffin gewesen. Wieso …?«
»Jetzt mach schon.«
Irritiert stolperte Orla nach vorne und zeigte Madame Mildred, was sie im Kuchen gefunden hatte. Die nickte und ließ sie in eine Liste eintragen, auf der bereits drei Namen standen. Nachdem ein fünftes Mädchen dazugekommen war und ihre Krone vorgezeigt hatte, jede weitere Erklärung, die Licht ins Dunkel gebracht hätte, jedoch ausgeblieben waren, schlich Orla genauso schlau wie vorher zurück zu ihrem Tisch. Die Glückwünsche von rechts und links nahm sie freundlich lächelnd entgegen, ohne zu verstehen, wozu man ihr gratulierte.
»Was bedeutet das alles?«, fragte Orla ihre Mitbewohnerin, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte.
»Dass du einen aufregenden Tag vor dir hast.«
»Sag schon, Nell. Was soll der Zirkus?«
»Lass dich überraschen. Glaub mir, es wird toll.« Nell nahm ihre Gabel und kümmerte sich um die Muffinreste. »Ich hatte erst gehofft, dass wir beide zusammen in den Genuss kommen«, sagte sie. »Aber das war natürlich so wahrscheinlich wie Schnee im Hochsommer.«
Angespannt blickte Orla nach vorne zu Madame Mildred. Sie konnten nur schwer ertragen, nicht zu wissen, was vor sich ging.
»Jetzt freu dich doch mal«, hörte sie Nell neben sich. »Du bist auserwählt.«
»Ich habe bis in die Morgenstunden, den Müll fremder Leute weggemacht. Ich bin ganz sicher nicht auserwählt.«
»Genau darum geht es ja bei der Sache«, sagte Nell. »Um die Anerkennung deiner Arbeit. Um Wertschätzung.«
»Indem man uns billigen Modeschmuck in den Kuchen backt?«
»Also langsam bereue ich, dir meinen Muffin abgegeben zu haben.« Nell rollte mit den Augen, doch ihr Lächeln verriet, dass sie es nicht ernst meinte.
»Tut mir leid«, sagte Orla und versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln, doch die Anspannung wurde langsam unerträglich. »Ich will gar nicht undankbar erscheinen. Es ist nur …« Sie betrachtete die Krone in ihrer Hand. »Gute Dinge passieren mir nicht einfach so. Niemals. Es gibt immer einen Haken.«
»Diesmal gibt es keinen. Du wirst sehen.«
»Es ginge mir wirklich besser, wenn ich wüsste, worauf ich mich da einlasse.«
»Also gut«, sagte Nell. »Bevor du vor lauter Sorge Bauchschmerzen bekommst, verrate ich dir Folgendes …« Sie griff nach Orlas Hand. »Du bist heute …«
»Jetzt sag nicht wieder auserwählt.«
»Königin. Für einen Tag.«
Orla runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Was für eine Königin?« Jedes Wort von Nell ließ weitere Fragezeichen aufblinken.
»Es bedeutet, dass du einen Tag lang wie eine Königin behandelt wirst«, sagte sie. Jedes Jahr nach dem Frühlingsball, gibt es für einige von uns die Chance auf einen Wohlfühltag. Ein paar Annehmlichkeiten hier, ein paar Geschenke da. Ich will gar nicht zu viel verraten.« Sie lehnte sich zu Orla und sah sie verschwörerisch an. »Aber dazu gehört auch, dass ihr euch mit Lucinda Kingsley im Salon zum Tee trefft.«
»Wir bekommen eine Audienz ganz oben?«
»Ist das nicht toll?« Nells Augen leuchteten. »Ich hab dir doch versprochen, dass es ein aufregender Tag wird. Oh, und keine Sorge«, sagte sie. »Es gibt vorher einen Crash-Kurs in Sachen Tischmanieren.«
»Ja, das …« Orla suchte nach passenden Worten zwischen all dem Rattern im Kopf. »Das ist gut zu wissen.«
Ihre Freude steigerte sich fiebergleich, denn Nell hatte ihr ohne es zu ahnen, das goldene Ticket geschenkt: Die Chance, Lucinda Kingsley persönlich gegenüber zu sitzen, lange genug, um eventuell ihr Handy anzuzapfen. »Warum hast du nicht selbst zugegriffen? Es war dein Muffin. Du hattest die Krone vor dir. Warum überlässt du sie mir?«
»Ich hatte vor zwei Jahren schon das Vergnügen«, sagte Nell mit einer Selbstverständlichkeit, die verblüffend war. Als ginge es darum, dass sie keine weitere Portion von ihrem Lieblingseis mehr schaffte. »Du wirktest so angespannt in den letzten Tagen«, sagte sie. »Da fand ich es nur fair, dir auch mal etwas Schönes zu gönnen.«
Das Licht, das durch das Fenster auf sie fiel, schenkte ihr den passenden Heiligenschein.
»Ich kann das nicht annehmen«, sagte Orla, um Fassung bemüht. Sie widerstand nur schwer dem Drang, Nell zu umarmen.
»Du kannst und du musst«, sagte ihre Zimmergenossin und zuckte mit den Schultern. »Du stehst ja bereits auf der Liste. Und wir wollen Madame Mildred doch nicht mit kurzfristigen Änderungen verärgern.« Sie zwinkerte Orla zu und deutete nach vorne.
Eine Fremde hatte sich zur Hausdame gesellt. Sie ließ ihren Blick durch den Saal schweifen, als suche sie jemanden. »Das ist die Frau, die sich um eure Verwandlung kümmern wird«, sagte Nell.
»Verwandlung?«
»Du glaubst doch nicht, dass sie euch in Dienstkleidung zum Tee mit Mrs. Kingsley schicken.«
Orla ahnte, dass ihr dieser Teil des Arrangements nicht gefallen würde. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Als sie sah, dass die anderen Kronen-Mädchen aufgestanden und nach vorne gegangen waren, schenkte sie Nell zum Abschied ihr dankbarstes Lächeln.
Auf dem Weg nach vorne befühlte sie ihre kleinen Spionagehelfer in der Schürze. Egal, was man ihr bei dieser ominösen Glow Up aufschwatzen würde, es war wichtig, dass sie auf Taschen bestand oder sich etwas anderes einfallen ließ, um die Tech-Tools für den richtigen Moment am Körper zu haben.
Die Frau neben Madame Mildred musterte die Kronen-Mädchen. »Das sind die Fünf?«, fragte sie und Orla glaubte, Enttäuschung in ihrer Stimme zu hören. »Dann lasst uns keine Zeit verlieren.« Sie machte den Weg frei, damit die Auserwählten im Gänsemarsch den Raum verlassen konnten. »Wir haben einiges vor.«