Nachdem Orla eine Stunde lang in Tischmanieren unterrichtet worden war, als seien sie und die anderen im Wald von Wölfen aufgezogen worden, und hätten noch nie eine Gabel gesehen, geschweige denn in den Händen gehalten, bekamen die fünf Auserwählten das von Orla gefürchtete Umstyling.
Für sie gab es im Grunde keinen Unterschied zu einem Zahnarztbesuch. Es war weniger das Ziepen, Zupfen und Zerren als das Ausgeliefertsein. Die fremden Hände in ihrem Gesicht schürten mit jeder Berührung ein Gefühl der Enge in ihrem Brustkorb, das in Übelkeit zu kippen drohte. Die Nähe anderer war ihr von jeher unangenehm. Von allen Seiten umzingelt zu sein, ohne Möglichkeit zur Flucht, erleichterte die Situation nicht gerade.
Mit ihren frischlackierten Fingernägeln krallte sich Orla in die Lehne des Stuhls und versuchte ihr zuckendes Knie unter Kontrolle zu halten.
»Wenn du weiter so die Lippen aufeinanderpresst, bekommen wir keinen schönen Mund hin«, sagte die Frau, die sie eben schon mit einem Puderpinsel drangsaliert hatte.
Orla wollte etwas Schnippisches antworten, denn ihr war herzlich egal, wie hübsch oder nicht hübsch andere ihren Mund fanden, doch sie ahnte, dass Diskussionen die Tortur nur hinauszögern würden. Also kooperierte sie brav, in der Hoffnung, es bald hinter sich zu haben.
Als sie einen kurzen Blick zur Seite wagte, sah sie eine der vier anderen Eintagsköniginnen bei der Anprobe. Ihre Locken, die sie vor ihrer Verwandlung mit Pomade gebändigt und mit Pins zu einem Dutt zusammengesteckt hatte, zeigten sich nun in ihrer vollen Pracht. Die selbst ernannten Styling-Expertinnen waren dabei, sie in ein Meer aus weißen Wolken zu stecken, das sich nach dem Überziehen von den Schultern der Trägerin bis zu den Füßen der Herumstehenden ergoss. Obwohl das Kleid so ausladend war, schien es nicht unbequem zu sein und sich stets den Bewegungen der jungen Frau in fließenden Wellen anzupassen. Zu gerne hätte Orla den Stoff berührt, der so weich wie Watte schien und in verführerischer Weise dazu einlud, sich einfach fallen zu lassen, in dem Wissen, schweben zu können.
Als Orlas Kollegin sich vor dem Spiegel um die eigene Achse drehte, um sich von allen Seiten zu betrachten, änderte das Kleid – je nachdem wie das Licht fiel – seine Farbe. Von zartem Weiß eines Wintertages über einen Rosé-Purpur-Schimmer bis hin zum dramatischen Abendhimmel-Rot. Die Begeisterung der Trägerin war nicht zu übersehen und auch wenn Orla die ganze Prozedur des Aufhübschens unnötig fand, und sich fragte, warum man aus einer albernen Teerunde ein noch alberneres Kostümspektakel machte, musste sie zugeben, dass man das Ziel, die Auserwählte zum Strahlen zu bringen, definitiv erreicht hatte.
Sie selbst wurde schließlich von den Klauen der Schminkwütigen erlöst und an eine eigene Mode-Beraterin verwiesen, die bereits vor dem Kleiderschrank in Kaufhausgröße auf sie wartete. Erneut wurde sie von oben bis unten begutachtet und wie schon zuvor zeigte sich eine gewisse Ratlosigkeit im Gesicht ihres Gegenübers.
»Dank der wunderbaren Mrs. Kingsley haben wir ein unglaubliches Sortiment verschiedenster Kleider zur Auswahl«, sagte die Styling-Assistentin, während sie die Schranktüren öffnete und den Blick auf unzählige Kleidersäcke freigab, die den eingeschweißten Inhalt vor dem Zahn der Zeit schützen sollten. »Jedes dieser Teile stammt aus ihrem persönlichen Fundus. Alles, was du hier siehst, wurde schon einmal persönlich von ihr getragen.« Sie klang ein wenig wie eine Museumsmitarbeiterin, die zum hundertsten Mal den gleichen Monolog hielt und ihre Langeweile nur schwer hinter dem aufgesetzten Lächeln verbergen konnte.
Nachdem sie einen erneuten Blick auf Orla geworfen hatte, holte sie verschiedene Modelle aus dem Schrank und hängte sie zur näheren Begutachtung auf eine separate Kleiderstange. Ohne Orla näher in die Entscheidung einzubeziehen, öffnete sie einen Kleidersack, dessen Inhalt sich beim Auspacken als Albtraum in Gold und Königsblau entpuppte. Orla fragte sich, wie viel Jahrhunderte das Kleid schon auf dem Buckel hatte, denn in seiner pompösen Extravaganz sah es aus, als käme es direkt vom Hofe des Sonnenkönigs. Sie wusste nicht, was sie furchtbarer fand: die ballonartige Form des Kleides, den Rüschenkitsch an den Ärmeln oder die vielen Schleifchen, die den vorderen Bereich vom Dekolleté bis hinunter zu den Füßen verunstalteten.
Alles zusammen erinnerte sie auf unangenehme Weise an einen Heißluftballon auf einer dieser alten Postkarten – schwerfällig durch die Luft treibend, von begeisterten Backenbartträgern in Zwirn und Zylinder bejubelt. Sie wollte sich nicht zu einer derartigen Kuriosität ausstaffieren lassen und sie bezweifelte stark, dass Lucinda Kingsley sich jemals einen modischen Fauxpas dieser Art geleistet hatte.
»Das bin nicht ich«, sagte sie und seufzte.
»Aber genau darum geht es doch«, konterte ihr Gegenüber. »Du bist jeden Tag du. Heute darfst du jemand anders sein. Jemand besonderes.«
Orla fragte sich, ob es Boshaftigkeit war, die ihre Beraterin zu dieser Monstrosität greifen hatte lassen. Eine Art passiv-aggressives Mobbing, um den Job zu boykottieren, zu dem sie verdonnert worden war und auf den sie ganz offensichtlich keine Lust hatte. Orlas Blick wanderte hinüber zu den anderen Mädchen, die bereits in ihre Reifröcke gestiegen waren oder in Korsetts gepresst wurden. Im Gegensatz zu ihr schienen sie ausnahmslos Gefallen an dem Ritual gefunden zu haben und sich nicht daran zu stören, dass sie gerade wie Püppchen verkleidet wurden, ohne Rücksicht auf eigene Vorlieben oder begründete Abneigungen.
Kurzentschlossen stürzte sie sich auf den offenen Schrank, um sich selbst auf die Suche nach etwas Passendem zu machen. Wenn sie sich schon um jeden Preis verwandeln musste, dann wenigstens nach ihren Regeln. Das grimmige Murmeln der Beraterin in ihrem Rücken, während sie sich durch die Plastikfolien wühlte, störte sie wenig. Als ihr Blick auf ein bodenlanges Kleid fiel, das aussah, als wäre es aus Papier gefertigt, schöpfte sie die leise Hoffnung, dass sich doch noch alles zum Guten wenden könnte. Es war schlicht genug, um nicht allzu viel Aufsehen zu erregen, aber interessant genug, um dem Anlass zu entsprechen. Hastig befreite Orla es von der Plastikfolie und fuhr mit der Hand über die Falten, die dem Kleid einen ganz eigenen Stil gaben. Kein Falz war zufällig, jede Linie erzeugte Spannung. Es wirkte wie eine Liebeserklärung an die Kunst des Origami.
Nachdem sie hinein geschlüpft war, blickte sie neugierig in den Spiegel und wurde nicht enttäuscht. Das Outfit schien wie für sie gemacht. Es fehlte eigentlich nur noch ein Detail zum Glück: Orla klopfte den Stoff um die Hüfte herum ab und schmunzelte, als sie die eingearbeiteten Taschen entdeckte. Es war kaum möglich dieses Kleid noch mehr zu lieben.
»Die Farbe macht dich aber sehr blass«, hörte sie die Beraterin hinter sich sagen.
Zufrieden nickte Orla ihrem Spiegelbild zu. »Dann ist es perfekt.«