20 Metamorphose

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Da saß sie nun. Erneut. Im Grünen Salon. 

Mit genügend Abstand schien Orlas Auseinandersetzung mit Cilla fast wie eine erfundene Geschichte, die so gar nicht hierher in das feierliche Ambiente passen wollte. Was würden die anderen am Tisch wohl sagen, wenn sie wüssten, dass die Stühle, auf denen sie saßen, während ihrer kleinen Meinungsverschiedenheit durch die Gegend geflogen waren? Orla schmunzelte, doch als sie einige fragende Blick empfing, schob sie den amüsanten Gedanken beiseite. 

Dabei wären die anderen vermutlich froh gewesen, wenn sie das kollektive Schweigen mit einer Anekdote gebrochen hätte, denn unter den Kronenmädchen hatte sich eine seltsame Stimmung breitgemacht. Niemand schien willens, ein Gespräch anzufangen. Vielleicht war es die Sorge, jeden Moment unterbrochen zu werden, sobald Lucinda Kingsley sich endlich die Ehre gab – die Angst beim Quasseln erwischt zu werden, wenn die Tür aufging. In gewisser Weise konnte man im gegenseitigen Anschweigen den Abschluss der Verwandlung sehen. Als Königin – wenn auch nur für einen Tag – galt es, Haltung zu wahren. Zu jeder Zeit. Man wählte mit Bedacht, wie, warum und mit wem man ein Gespräch anfing und gab sich nicht irgendeinem sinnlosen Geplänkel hin. 

Und so beschränkte sich die Runde darauf, wahlweise Löcher in die Luft zu starren oder das schwarz-goldene Geschirr auf dem weißen Tischtuch zu bewundern. Jeder Teller und jede Tasse hatte einen anderen Farbverlauf – mal gesprenkelt, mal gepunktet, mal wolkig-verwaschen. Jedes einzelne Gedeck erzählte mit ein wenig Fantasie seine eigene Geschichte: von einem goldenen Fluss, der sich seinen Weg durch dunkle Asche bahnte, von den grellen Blitzen eines Gewitters oder vom Universum und der eigenen Bedeutungslosigkeit. 

Orlas Hang, sich in Dingen zu verlieren, weil sie etwas in ihnen zu erkennen glaubte, das anderen verborgen blieb, war ein Überbleibsel aus der Kindheit. Damals hatte es ihr geholfen, scheinbar Zementiertes mit ihren Gedanken aufzubrechen und einen Weg aus der Realität zu finden. Allein auf der Welt, von niemandem gesehen und nirgends vermisst, war sie in eine andere Existenz geflohen – in das, was nicht war, aber sein könnte. 

Später hatte sich ihre einstige Zuflucht in ein betongraues Labyrinth verwandelt, aus dem sie immer schwerer hinausfand. Orla hatte einsehen müssen, dass sie es war, die jene Schatten aus der alten in die neue Welt gebracht hatte. Dass man einigen Grautönen nicht entkam, weil sie Teil der eigenen DNS geworden waren. 

Seither scheute sie den Blick aufs Meer, weil sie sich dem Rufen der Tiefe irgendwann nicht mehr entziehen können würde. Sie vermied es, den Sternenhimmel zu betrachten, weil er ihr als Tor zum Universum lediglich vor Augen führte, wie klein und bedeutungslos sie war. Dass die Kaffeetasse mit Goldmuster sie in eine Sinnkrise stürzen würde, war diesmal nicht zu befürchten, doch es erinnerte sie daran, wie fragil das, was sie sich mühsam erkämpft hatte; das, was sie für inneren Frieden hielt, in Wirklichkeit war.

Als sich die Tür öffnete und Lucinda Kingsley endlich eintrat, war Orla fast dankbar, auch wenn sie die inszenierte Verspätung so durchschaubar wie unnötig fand. Sie kannte diese Art Allüren, die Anerkennung forderten und doch nur ein Gähnen verdienten – vor allem von männlichen APA-Kollegen. Dabei zeigte sich immer wieder ein interessanter Zusammenhang zwischen Dampfplauderei und Wartezeit. Je mehr heiße Luft jemand produzierte, umso länger ließ er andere warten. Doyle nannte es Murrays Law – nach dem größten Schwätzer von allen: Field Officer Don Murray, der alles besser wusste und am Ende doch immer daneben lag. 

Wer sich so unkreativ in Szene setzte wie Murray und seine Dampfkollegen, nur um gefühlte Überlegenheit zu zelebrieren, wurde von Orla normalerweise mit Spott begrüßt, doch die Gründe, in diesem Fall darauf zu verzichten, lagen auf der Hand. Stattdessen erhob sie sich und zeigte – wie alle anderen – den von ihr erwarteten Knicks. Letztendlich war Lucindas Auftritt nur der vorläufige Höhepunkt einer Reihe gönnerhaften Gesten, die Orla brav zu schlucken hatte, wenn sie Teil des Märchens sein wollte und je glaubhafter sie mitspielte, desto näher kam sie dem glücklichen Ende ihrer eigenen Geschichte. Orla befühlte erneut die APA-Tools in ihrer Tasche, während sie sich auf Anweisung von Lucinda Kingsley setzte.

Die Gastgeberin trug ein schwarzes Kleid. Gerade Linien, schlichter Schnitt, verdächtig unspektakulär. Die Haare waren locker nach hinten gebunden, das Gesicht dezent geschminkt. Die Königinnen für einen Tag wirkten mit ihren Kostümen in Lucindas Anwesenheit unangenehm deplatziert. Es schien fast so, als wolle sie sagen: egal wie viel Aufwand ihr betreibt; egal, wie sehr ihr euch aufhübscht – ich werde euch mühelos überstrahlen. 

Die Art wie sie jede einzelne Untergebene musterte, erinnerte Orla an jemanden, der sich etwas zu lang im Spiegel betrachtete. Wenn es einen letzten Beweis gebraucht hatte, dass es bei dieser Veranstaltung nicht um Dankbarkeit für die geleistete Arbeit ging, sondern einzig allein darum, sich im Gefühl der Selbsterhöhung zu sonnen: Hier war er. Man ließ fünf billige Imitate seiner selbst herrichten, verkaufte dies als gute Tat, nur um sich beim Anblick der Ergebnisse zufrieden daran zu laben, dass einem niemand im direkten Vergleich auch nur ansatzweise das Wasser reichen konnte. Ein Esel im Ballkleid war eben immer noch ein Esel. 

Mit jeder Benimmregel, die ihnen zuvor eingetrichtert worden war, jedem Makel, den man aufwendig kaschiert hatte und jedem Zurechtbiegen ihres Körpers, hatte man ihnen bereits signalisiert, dass sie so wie sie nun mal waren, einfach nicht genügten. Nie genügen würden. Nach diesem Tag würde bei einigen vielleicht endgültig eingesickert sein, wo in diesem Leben ihr Platz war und wo nicht. Die anderen würden sich weiter der Illusion hingeben, dass sich harte Arbeit irgendwann auszahlte und jede, die fleißig genug war, ein paar Sprossen der umkämpften Leiter erklimmen könnte, um einen ähnlich sonnigen Ausblick genießen zu können wie die Kingsleys. 

»Ich hoffe, man hat euch Mädchen heute gut behandelt«, sagte Lucinda und bedachte die Runde mit einem Lächeln, das niemand ernsthaft als ehrlich bezeichnen konnte. »Dieser Tag soll etwas ganz Besonderes für euch sein.« 

Orla hätte sie zu gerne gefragt, warum eigentlich nur junge Frauen zu den Auserwählten zählten – warum es keinen König für einen Tag gab. Natürlich kannte sie die Antwort. Es zeigte sich deutlich in der Art, wie Lucinda Kingsley gerade das Wort Mädchen ausgesprochen hatte. Noch herablassender hätte es nur gewirkt, wenn sie den Anwesenden dabei zusätzlich in die Wange gekniffen hätte. Kleinhalten und es wie Fürsorge aussehen lassen – so lautetet das Rezept im Umgang mit der weiblichen Belegschaft. Gebt diesen Mädchen ein paar aus der Zeit gefallene Kleider und einen albernen Titel und sie halten den Rest des Jahres brav ihren Mund, obwohl man sie wie Luft behandelt.

Eine Konsequenz aus dieser Haltung zeigte sich im angespannten Schweigen, nachdem alle ihren Platz eingenommen hatten. Es nutzte eben niemandem, nur den Anschein von Augenhöhe zu erwecken, wenn man sein Gegenüber nicht wirklich als ebenbürtig ansah. Die Untergebenen, hielten sich weiterhin an einen Kodex, der es ihnen untersagte, Lucinda Kingsley ungefragt anzusprechen und die Gastgeberin selbst zeigte kein besonders großes Interesse, Näheres von ihren Mädchen zu erfahren. Und so blieb es bei einigen Alibifragen zum Befinden. Ein richtiges Gespräch wollte nicht entstehen. 

Zur Erleichterung aller öffneten sich die Türen ein weiteres Mal – diesmal für die Servicekräfte, die mit Kuchen und Tee hereinkamen. Beim Anblick der gebackenen Köstlichkeiten, bemerkte Orla wie ausgehungert sie war. Seit dem Muffin am Morgen hatte sie keine Gelegenheit mehr gehabt, etwas zwischen die Zähne zu bekommen. Rührei oder Bratkartoffeln wären ihr zwar noch lieber gewesen, doch mit einem Loch im Magen sanken die Ansprüche. Auch die anderen starrten mit gierigen Augen auf den mandelbestreuten Apple-Pie und den Rhabarberkuchen mit der üppigsten Baiser-Schicht, die Orla je gesehen hatte. Der süße Duft von Frischgebackenem füllte den Raum und so war es kein Wunder, dass Orlas Sitznachbarin nach dem Verteilen auf den Tellern alle Benimmregeln vergaß und sich auf ihr Stück Apfelkuchen stürzte, bevor Lucinda Kingsley mit dem ersten Stück auf ihrer Gabel das Signal gegeben hatte. Die Gastgeberin quittierte den Fauxpas mit einem irritierten Blick und rümpfte die Nase, als hätte sie Gülle anstelle von Tee serviert bekommen. Doch sie sagte nichts, sondern ließ die Stille sprechen. Als das Mädchen neben Orla bemerkte, was sie getan hatte, erstarrte sie – den Rest des Kuchens noch im Mund. Anstatt hinunterzuschlucken, verharrte sie, die Backen hamstergleich gefüllt, die Augen weit aufgerissen. Wie alle in der Runde befürchtete sie, für diesen Affront des Tisches verwiesen zu werden, doch Lucinda Kingsley strafte sie lediglich mit einem letzten kühlen Blick, ehe sie nach ihrer Gabel griff und einen Bissen von ihrem Kuchen nahm, damit die anderen es ihr gleichtun konnten. 

Orla befürchtete, dass sie insgeheim einen Fluch gegen die arme Sünderin ausgesprochen hatte. Das Gerücht, Lucinda Kingsleys Blicke wären wie das Gift einer Viper, hielt sich hartnäckig. Natürlich würde sie niemanden vor Zeugen tot vom Stuhl fallen lassen, aber subtilere Gemeinheiten waren ihr durchaus zuzutrauen. Nachdem Orla sich mit heimlichen Blicken vergewissert hatte, dass es ihrer Sitznachbarin zumindest dem äußeren Anschein nach gut ging und sie weder graue Haare noch andere Anzeichen von einem Fluch zeigte, widmetet auch sie sich ihrem Kuchen. Das erste Stück schmeckte köstlich, das zweite noch viel besser. Als die Baiserschicht in ihrem Mund zu schmelzen begann, glaubte sie, ein Stück vom Himmel genascht zu haben. Zum ersten Mal an diesem Tag fühlte es sich wirklich wie eine Belohnung an, dabei zu sein. 

Doch fürs Schlemmen und Genießen blieb keine Zeit. Orla wusste, dass sie sich mit dem Essen beeilen musste, denn die distanzierte Art von Lucinda Kingsley ließ vermuten, dass sie bei der erstbesten Gelegenheit das Weite suchen würde. Es war ratsam, den Synchronisationsprozess der beiden Handys einzuleiten, noch bevor sie ihren Teller geleert hatte. 

Während Orla sich mit der rechten Hand bemühte, den vornehmen Schein zu wahren, zog sie mit der linken Hand das notwendige Tool aus ihrer Tasche. Um es richtig zu bedienen, brauchte sie freie Sicht auf das Display. Da das Hervorhohlen und auf-den-Tisch-Legen keine Option war, griff sie nach ihrer Serviette und entschied sich für den alten Ups-da-ist-mir-wohl-etwas-heruntergefallen-Trick. 

Gerade als sie sich hinunterbeugte, um die Serviette aufzuheben, hörte sie, dass die Türen des Salons erneut geöffnet wurden.

»Sind wir zu spät?« Samaels Stimme ließ Orla hochschrecken. Dummerweise war der Tisch im Weg, sodass ihr Kopf unsanft Bekanntschaft mit ihm machte. Doch niemand bemerkte ihr Missgeschick, denn als sie wieder auftauchte, waren alle Blicke auf den Überraschungsgast gerichtet. 

»Wir hatten gehofft, uns zu euch gesellen zu dürfen«, sagte Samael und schenkte der alten Dame, die sich bei ihm untergehakt hatte ein Lächeln. Es war die Frau aus dem Turm. Sie trug ein weißes Leinenkleid, bodenlang, mit Spitzenkragen. Es erinnerte an ein viktorianisches Nachthemd und die Kombination mit den ungekämmten, grauen Haaren unterstrich die Wirkung noch. »Da Ethel gestern Abend nicht dabei sein konnte, dachte ich mir, diese nette Runde würde ihr vielleicht Freude machen.«

Instinktiv ließ Orla das Tool wieder in ihrer Tasche verschwinden und schaute zu Lucinda. Es amüsierte sie ein wenig, die Gesichtszüge der sonst so beherrschten Gastgeberin entgleisen zu sehen. Samael schien ihrem Blick nach ähnlich gut in diese Runde zu passen wie der Teufel in einen Bibelkreis. Die Hausherrin setzte ein perfekt poliertes Lächeln auf, doch Orla entging nicht, dass sie die Hände wie zum Gebet ineinander legte und die versteckte Hand zur Faust ballte. 

So gesittet wie es angefangen hatte, würde es nicht bleiben.


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