21 Störfall

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Niemand hätte der zierlichen Frau, deren Rücken von der Last des Alters schmerzhaft gekrümmt schien, dieses Ausmaß an Zerstörung zugetraut. Das Durcheinander, das sie hinterlassen hatte, glich einer aufwendigen Kunstinstallation – eine perfekt ins Bild gesetzte Mahnung, dass Ordnung eine Illusion war und alles jederzeit vom Chaos überrollt werden konnte. Fast schon poetisch züngelte eine einzelne Rauchschwade in trügerischer Gemächlichkeit von Ethels Teller empor, während das braune Rinnsal aus Tee und Blumenwasser an den krümelverklebten Scherben vorbei schlängelte und ausgerechnet an der Stelle, an der das Feuer ein schwarzes Loch in die Tischdecke gefressen hatte, auf den Teppich tropfte. 

Eine der Eintagsköniginnen hob in einem hilflosen Akt der Schadenbegrenzung die zerbrochene Tasse zu ihren Füßen auf und blickte sich nach einem Mülleimer um. Als ihr jedoch bewusst wurde, dass es keinen gab, legte sie die Scherben zaghaft auf den Tisch, als würde sie der Chaoskönigin Tribut zollen und vervollständigte das Kunstwerk damit unfreiwillig. 

»Es tut mir leid, dass es nicht so gelaufen ist, wie ihr euch das erhofft hattet«, sagte Samael in das Vakuum hinein, das Lucinda hinterlassen hatte, und wirkte dabei überraschend betroffen. Dass Zivilistinnen zwischen die Fronten geraten waren, schien er ehrlich zu bedauern. »Ich kümmere mich um das Chaos.«

Ob er damit auch seine Mutter und ihre Drohungen meinte? Zerbrochenes Porzellan ließ sich kitten – einen Tornado einzufangen, war hingegen ein Ding der Unmöglichkeit. Wenn Samael sein Bedauern wirklich ernst meinte, würde er sich einiges einfallen lassen müssen, um Lucinda gnädig zu stimmen und die Anwesenden vor etwaigen Schikanen zu beschützen.

Obwohl jeder wusste, dass die Teerunde hiermit beendet war, rührte sich niemand vom Fleck. Wo sollten Orla und die anderen auch hin? Um zum nächsten Programmpunkt zu springen, hätten sie wissen müssen, ob es überhaupt einen nächsten Programmpunkt gab. Niemand war da, um sie anzuleiten. 

»Am besten meldet ihr euch bei Madame Mildred«, sagte Samael, nachdem sie eine weitere gefühlte Ewigkeit beieinander gestanden und unsichere Blicke ausgetauscht hatten. »Wenn es Fragen gibt, könnt ihr sie an mich verweisen.« 

Zögerlich machte die Eintagskönigin, die das Wasser über Lucinda Kingsley gekippt hatte, den Anfang und lief ein paar Schritte Richtung Tür. Die anderen folgten ihr, doch als Orla sich zum Gehen wandte, hielt Samael sie zurück.

»Hast du einen Moment?«, fragte er, fast schon schüchtern. 

Orla sah den anderen hinterher, wie sie nach und nach den Salon verließen. Ein paar von ihnen schauten irritiert über ihre Schulter, als sie merkten, dass eine aus ihrer Mitte fehlte. Doch es blieb bei Blicken. 

Nachdem die Salontür ins Schloss gefallen war, zögerte Samael nicht lange. 

»Glaub mir, ich hatte nicht vor, euch in Schwierigkeiten zu bringen«, murmelte er und die Falten auf seiner Stirn waren von Reue gezeichnet. 

Wie gut ihm so etwas wie ein Gewissen stand. Dass er das Bedürfnis hatte, sich persönlich bei ihr zu entschuldigen, wunderte Orla trotzdem. Er war ein Kingsley. Er schuldete niemandem Rechenschaft. Schon gar nicht einer Untergebenen. Der Verdacht lag nahe, dass er etwas damit bezweckte. Die Frage war nicht, ob er sie manipulieren wollte, sondern in welche Richtung. 

Samael beugte sich hinunter zu der alten Dame und deutete auf Orla. »Ethel, das ist Orlanna.« Begleitet von einem Lächeln legte er den Arm um seine Begleitung. »Orlanna, das ist meine Großtante Etheldeadra Kingsley. Sie lebt vorübergehend auf Thornwood, bis wir etwas Passendere für sie gefunden haben.« 

Den Knicks den Orla machte, ignorierte Ethel und griff stattdessen nach ihrem Kleid. Sie schien viel dringender zu interessieren, aus welchem Stoff es gefertigt war. Für einen Moment fürchtete Orla, dass die alte Dame etwas Neues zum Zündeln gefunden hatte und sie gleich in Flammen stehen würde. Doch Ethel schien sich damit zufriedenzugeben, die Falten des Kleides mit ihren Fingern zu befühlen. Behutsam strich sie über die Schulterpartien, bevor sie den Rock anvisierte und dabei gefährlich nah an die Tasche kam, in der sich das Handy-SyncTool befand. Erst jetzt fiel Orla auf, dass mit Lucinda auch ihre Mission aus der Tür gerauscht war. 

Man schien ihr den Frust anzusehen, denn Samael entschuldigte sich ein weiteres Mal bei ihr. »Es tut mir leid. Hätte ich geahnt, dass es so endet …« 

Ethel hatte inzwischen das Interesse an Orlas Kleid verloren und war zu den schweren Samtvorhängen des Salons gewechselt. Als Samael ihr mit seinem Blick folgte, war tiefe Sorge in seinem Gesicht zu erkennen. 

»Ich dachte, ein wenig Abwechslung würde ihr guttun«, sagte er. »Sie bekommt nicht viel Besuch im Turm. Niemand interessiert sich für sie, seitdem ….« Er hielt inne und schwieg für einen Moment – als würde er abwägen, ob er dieses Kapitel mit Orla teilen oder das Buch an der Stelle lieber zuklappen sollte. Natürlich hätte sie die Geschichte dahinter brennend interessiert, doch sie ahnte, wie er sich entscheiden würde, als sie das leichte Schulterzucken bemerkte. So sah jemand aus, der die Gedanken einfach nur abschütteln wollte, statt ihnen nachzugehen. »Vielleicht war es unbedacht, sie mitzubringen«, sagte er schließlich. »Aber ich hatte nur Gutes im Sinn.«

Orla presste die Lippen zusammen, um das Schmunzeln über den letzten Satz zu unterdrücken. Dass ihn ausschließlich edle Motive geleitet hatten, hielt sie nach allem, was sie über ihn wusste, für mehr als unwahrscheinlich. 

»Na, los! Raus mit der Sprache« Samael sah sie mit einer Mischung aus Provokation und Belustigung an. »Wenn du so guckst, willst du eigentlich etwas sagen, traust dich aber nicht.«

Orla lächelte verblüfft. Als jemand, durch den andere normalerweise einfach hindurch sahen, war sie es nicht gewohnt, dass man in ihrem Gesicht las. Verlegen wandte sie sich ab und beobachtete Ethel beim Tanz mit den Vorhängen, während sie nach einer angemessenen Formulierung für ihren Einwand suchte.

»Ich mag mich irren«, begann sie diplomatisch. »Aber es hat schon so ausgesehen, als hätten Sie die alte Dame benutzt, um Ihre Mutter vorzuführen.« Als keine Antwort kam, suchte sie verunsichert den Blickkontakt.

»Ja, das mit den zwei Fliegen und der Klappe hatte ich mir irgendwie einfacher vorgestellt«, sagte Samael und ließ seinen Kopf schuldbewusst sinken. Die Art, wie er unter schräg gezogenen Augenbrauen aufschaute, hatte etwas von einem Welpen. Orla ahnte, wie leichtfüßig er mit dieser Masche durchs Leben spazierte. Wie er andere mit Blicken entwaffnete und Unrecht solange mit seinem Lächeln aufweichte, bis es nicht mehr greifbar war. 

Charme hatte als Währung schon immer einen faszinierenden Charakter gehabt. Egal wie oft man sich damit freikaufte – man wurde nicht ärmer. Außerdem konnte er im Gegensatz zu Geld weder vererbt noch erarbeitet werden. Das machte ihn so kostbar und diejenigen, die ihn besaßen, so mächtig. 

»Ich muss dich um etwas bitten«, sagte Samael und deutete mit dem Kopf Richtung Ethel. »Ich brauche jemanden, der ein Auge auf sie hat, während ich weg bin.« 

»Weg? Wohin denn?« Orlas Reaktion hatte nichts von der Gelassenheit, mit der sie hätte antworten sollen. Statt die Neuigkeiten ungerührt hinzunehmen, reagierte sie wie die Frau eines Seefahrers, deren Mann in einen Sturm zog. Der Blick, den sie dafür von Samael kassierte, ärgerte sie umso mehr.

»Vermutlich Pandaemonia«, antwortete er. »Aber ehrlich gesagt, weiß ich es nicht so genau.« 

Orla konnte nicht glauben, was sie da hörte. Wollte er sich allen Ernstes einfach so aus dem Staub machen? Feige verstecken bis die Aufregung sich gelegt und andere für ihn aufgeräumt hatten? 

»Es gibt keine konkreten Pläne?«, fragte sie und bemühte sich um einen neutralen Ton. 

»Doch. Irgendwie schon«, antwortete er. »Ich weiß nur nicht, wo ich bei all dem Chaos anfangen soll.«

»Womit anfangen?« 

»Die Wogen glätten, die Dinge geradebiegen – nenn es wie du willst.« Er seufzte, während er die Reste der zerstörten Teerunde betrachtete. »Ich muss meine Mutter auf andere Gedanken bringen – ihr etwas geben, dass sie diesen Vorfall vergessen lässt.«

Ein Glucksen unterbrach ihn. Ethel hatte ein Ölgemälde an der Wand entdeckt und tippelte freudig hinüber. 

Samael schien sich Sorgen zu machen, dass sie auf weitere brenzlige Ideen kam und folgte ihr eiligen Schrittes. Die Rolle des Kümmerers stand ihm außerordentlich gut. Es war rührend zu sehen, wie er die alte Dame vor allem zu beschützen versuchte, wenn nötig, auch vor sich selbst. 

Ethel hatte ihren Kopf weit in den Nacken gelegt und murmelte etwas vor sich hin, während sie das Gemälde betrachtete. Als Samael hinter sie trat und ihre Schultern umfasste, griff sie nach seiner Hand, ohne jedoch den Blick von dem Bild zu lassen.

Orla wagte es nicht, sich ihnen zu nähern, aus Sorge, das vertraute Zusammensein zu stören. Ein paar Schritte mussten reichen, um wenigstens das Gemälde, besser in Augenschein nehmen zu können, das die beiden in ihren Bann gezogen hatte.

Es wunderte sie, dass es ihr vorher nicht aufgefallen war. Mit einer Breite von zwei Armlängen war es eigentlich nicht zu übersehen, auch wenn es sich im hinteren Teil des Salons befand. Bei näherer Betrachtung wirkte es merkwürdig deplatziert, denn es widersprach allem, was den Rest des protzigen Ambientes ausmachte. Niemand lud den Tod zu seinem Fest. 

Das Gemälde zeigte ein Schlachtfeld aus verbrannter Erde, über das sich – finster wie die Nacht – das Grauen gelegt hatte. Leblose Körper am Boden. Dicke Rauchschwaden am Horizont, als Boten einer unheilvollen Zukunft. Eine alles erdrückende Trostlosigkeit fraß sich durch die Luft. Orla konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt etwas Schwermütigeres gesehen hatte. Als wäre der Welt, die das Bild zeigte, jegliche Farbe verloren gegangen. Kein Licht, keine Hoffnung, kein Leben. Und doch begriff sie sofort, was seinen Sog ausmachte. Je länger man es betrachtete, umso tiefer zog es einen in die Finsternis. 

Ethel murmelte etwas und hielt ihre Hände wie zum Gebet Richtung Leinwand. Die alte Dame wirkte vor dem martialischen Gemälde zerbrechlich und klein. Gleichzeitig trotzte ihr weißes Kleid der nach ihr gierenden Dunkelheit. Orla verstand nicht, was sie murmelte, doch das Gesagte schien auf das Bild einzuwirken. Als würden sich Farben und Worte miteinander vermischen, um etwas Neues zu schaffen. Gerade als Orla glaubte, einzelne Körper auf dem Schlachtfeld würden sich erheben und aus dem Bild steigen, stoppte Ethel ihre Beschwörung und verstummte.

»Ich weiß nicht, ob ich dir das erzählen sollte«, sagte Samael, mit dem Rücken zu ihr gewandt, das Gemälde noch immer im Blick. »Aber wir haben vor kurzem jemanden in der Familie verloren.« 

Zunächst war Orla nicht sicher, ob sie gemeint war, doch als er sich zu ihr drehte, gab es keinen Zweifel. 

»Meine Mutter hat das stärker mitgenommen, als ich gedacht hätte, obwohl die beiden seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr pflegten. Wenn ich mehr über die Hintergründe seines Todes herausfinde, kann ich ihre Aufmerksamkeit vielleicht von euch ablenken.«

»Und Sie wollen, dass ich Ethel so lange im Auge behalte?«

»Ich brauche jemanden, dem ich vertrauen kann. Du musst mir berichten, wenn sie Besuch von meiner Mutter bekommt oder irgendetwas anderes Ungewöhnliches vor sich geht.«

»Ich bin eigentlich schon anderweitig eingeteilt.« Orla wusste, dass er ein Nein nicht akzeptieren würde. Dennoch war es ihr wichtig, ihm deutlich zu machen, dass er nicht ohne weiteres über sie verfügen konnte.

»Du bist Springer, richtig?«, konterte er. »Du kannst also überall flexibel eingesetzt werden.«

»Ja, Sir, … aber …«

»Ich kläre das.« Für ihn schien die Diskussion damit beendet. Er flüsterte Ethel etwas ins Ohr und sie löste ihren Blick von dem Gemälde, als hätte er sie aus einer Hypnose geweckt. Als sie seine Hand ergriff, fürchtete Orla, dass beide im nächsten Moment verschwinden würden.

»Wollen Sie jetzt sofort los, Sir?«, rief sie überfordert vom Tempo der Ereignisse und deutete auf das Chaos. »Was ist mit all dem hier?«

»Ich kümmere mich darum, wie versprochen.« Er wirkte genervt, doch Orla konnte ihn nicht ohne Gegenwehr gehen lassen. Dass er so einfach über sie entschied, wunderte sie nicht, ärgerte sie aber umso mehr. So sympathisch sie die alte Dame fand – sie hatte keine Lust, den Babysitter zu spielen und dabei Zeit zu verschwenden, die sie wichtigeren Dingen widmen konnte – widmen musste. Der Turm war viel zu abgelegen. Wie sollte sie in ihren Ermittlungen vorankommen, wenn sie dort festsaß? 

Sie dachte an den Doppelgängersaft des Warlocks. War es das Risiko wert? Was, wenn etwas schief ging und sie in hundertfacher Ausführung durch Thornwood hüpfte? Sie wusste weder, was die richtige Dosis für jemanden ihrer Größe war noch wie lange die Wirkung anhielt. Was, wenn ihr tumber Klon die alte Dame in Gefahr brachte? Das würde Samael ihr nie verzeihen. 

»Wie lange …?«, rief sie in seine Richtung, doch die Worte blieben ungehört. Samael war bereits mit Ethel im funkelnden Nebeldunst verschwunden, ohne sich zu verabschieden. 

Was blieb, war die ernüchternde Erkenntnis, dass dieser Nachmittag im Sammelordner der Enttäuschungen unter Zeitverschwendung abgeheftet werden musste, mit dem Vermerk: besonders ärgerlich.

Nicht nur hatte Samael ihr die Chance genommen, Lucindas Handydaten zu sichern – Beweismittel, die so wichtig gewesen wären. Ihm war es auch zu verdanken, dass sie als Kollateralschaden auf der Abschussliste seiner Mutter gelandet war. Es ehrte ihn, dass er versuchte, die Sache wieder geradezubiegen, doch dass er Orla währenddessen als Wachposten im Turm abstellte und damit wieder in die Schusslinie brachte, ließ seine Bemühungen weniger heroisch erscheinen. Was sollte sie tun, falls Lucinda ihren Unmut in ihrer Gegenwart an Ethel ausließ und er nicht zur Stelle war, um einzugreifen? Sich in Gefahr bringen und damit alles riskieren, was sie sich bisher erarbeitet hatte? 

Sie dachte an den Muffin von Nell und die kleine Krone, mit der alles begonnen hatte. Ein kurioser Zufall in einer Kette zahlreicher kurioser Zufälle, die immer wieder dafür sorgten, dass Samael und Orla sich über den Weg liefen. Vielleicht hatte es am Ende etwas Gutes, dass die Dinge so gekommen waren – auf eine unergründliche, paradoxe Art. Vielleicht sollte es einfach so sein. Immerhin stand Samael nun in ihrer Schuld und Orla würde sich nicht mit Witz und Charme abspeisen lassen. 

Sie ließ ihren Blick ein letztes Mal durch den Salon schweifen, bevor sie sich zur Tür begab. Gerade als sie die Klinke schon fast in der Hand hatte, fiel ihr etwas ein. Sie drehte um und lief zurück zu dem Platz, an dem Lucinda Kingsley gesessen hatte. 

Glücklicherweise hatte ihr Geschirr keinen Schaden genommen. Jetzt musste sie nur hoffen, dass es auch vom Blumenwasser verschont geblieben war. Äußerlich machte es einen guten Eindruck. Keine Tropfen, keine Schlieren. Behutsam wickelte sie die Teetasse in eine Serviette. 

Wenn sich brauchbare Fingerabdrücke darauf finden würden, war dieser Nachmittag immerhin nicht vollkommen umsonst gewesen. Vorsichtshalber steckte sie auch die Kuchengabel ein. Vielleicht gab es zusätzlich verwertbare DNS-Spuren. Man konnte nie wissen, welche Überraschungen Fortuna bereit hielt.


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