8 Das Hadeszimmer

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»Volle Stunde – Mitternachtsrunde!« Hector klatschte in die Hände, sprang auf und schob seinen Stuhl an den Tisch. »Wer übernimmt den mittleren Flügel?«

Bevor Orla irgendetwas antworten konnte, hatten er und Nelida ihre Finger an ihre Nasenspitze gehalten, um sich vor der Aufgabe zu drücken.

»Es ist beschlossen. Miss Davis ist die Glückliche«, sagte Hector grinsend. 

»Gibt es etwas, das ich wissen muss?« Orla blickte von einem zur anderen. »Spukt es dort etwa?«

»Vermutlich nicht«, sagte Nell und zuckte mit den Schultern.

»Vermutlich?« 

»Keine Ahnung. Ich war schon lange nicht mehr während der Nachtschicht dort.« Nell verschränkte die Arme. »Ich geh nur noch bei Tageslicht hin.«

»Ach, kommt schon, Leute. Ist das euer Ernst?«, sagte Orla. 

Hector und Nell wechselten stumme Blicke, als hätten sie schon zu viel gesagt.

»Sind wir hier im Ferienlager? Kommt jetzt die Geschichte vom Axtmörder?«

»Wir haben einfach keine Lust auf das Hades-Zimmer«, sagte Hector. »Das ist alles.«

»Was zum Teufel ist das Hades-Zimmer?«

Nell murmelte etwas auf Spanisch und seufzte Richtung Zimmerdecke. 

»Hab ich was Falsches gesagt?«

»Unsere Nelly ist ein wenig abergläubisch«, sagte Hector. »Gewisse Namen sollte man in ihrer Gegenwart lieber nicht in den Mund nehmen.«

»Ich kann sehr gut für mich alleine sprechen, Hector«, erwiderte Nell. »Und ja, ich finde, böse Geister hält man am besten fern, indem man nicht nur auf das achtet, was man tut, sondern auch auf das, was man sagt.« 

Orla fragte sich, wie das alles zu ihrem Leben auf Thornwood passte und zu dem Bösen, das diese Hallen bewohnte. War ihr bewusst, wem sie da diente? 

»Tut mir leid, Nell«, sagte sie. »Ich wollte nichts heraufbeschwören.« Dies war nicht der richtige Ort für Diskussionen über das Böse in der Welt. »Verratet ihr mir jetzt, was genau das Hades-Zimmer ist?«

»Die Zuflucht eines Phantoms.« Hector nahm die Taschenlampe vom Tresen, knipste sie an und hielt sie unter sein Kinn. »Das Gemach des düsteren Prinzen – überall und nirgends zu Hause, ruhelos zwischen den Welten pendelnd …«

»Er meint den jungen Master Kingsley«, fiel ihm Nell ins Wort, während sie sich eine weitere Tasse Tee eingoss.

»Warum Hades?« Orla runzelte die Stirn. »Muss ich erst an einem dreiköpfigen Hund vorbei, um in sein Zimmer zu gelangen?« In gespielter Panik legte sie ihre Hand an ihre Kehle. »Muss ich etwa Angst haben, nie wieder herauszufinden und dort auf ewig für meine Sünden zu büßen?«

»Ich sehe, da kennt sich jemand mit Mythologie aus.« Hector steckte die Taschenlampe in seinen Hosenbund und nahm die Schlüssel für den Rundgang vom Haken. »Alles total harmlos. Du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich nenne den jungen Kingsley nur so, weil er nie da und deshalb quasi unsichtbar für uns ist. Du weißt schon, als hätte er den Helm des Hades auf.«

»Und warum will dann keiner von euch den Job machen, wenn er doch angeblich so harmlos ist?«

»Es ist müßig, ein Zimmer zu putzen, das niemand benutzt«, sagte Nell. »Das macht keinen Spaß.«

Orla hatte das Gefühl, dass noch mehr hinter ihrer Ablehnung steckte. So eifrig rührte niemand seinen Tee um, der entspannt war.

»Es ist ein wenig wie bei diesen Mönchen, von denen ich mal gelesen habe«, sagte Hector. »Wenn sie den Wald fegen und ein Windstoß ihnen die Blätter vor die Füße bläst und sie wieder von vorne anfangen müssen.«

»Klingt nach meditativer Selbstfindung«, sagte Orla und streckte sich, um die Müdigkeit aus ihren Knochen zu bekommen. »Genau mein Ding.« 

Von sinnlosen, zeitraubenden Unterfangen konnte sie mittlerweile ein Lied singen. Die Zeit, die sie in den letzten Tagen mit Putzen, Wischen und Fegen verbracht hatte, investierte sie in einem ganzen Jahr nicht einmal annähernd für ihre eigene vier Wände. Aber vielleicht konnte sie diesmal zumindest das Lästige mit dem Nützlichen verbinden und sich ein wenig in den Räumlichkeiten umsehen. Der Bruder stand nicht auf der Liste der Verdächtigen, aber vielleicht gab es etwas in seinem Zimmer, das bei den Ermittlungen hilfreich sein konnte.

»Dann wäre das ja geklärt.« Hector sah auf die Uhr. »Kommst du gleich mit?«

Orla deutete auf ihre halb volle Tasse. »Ich trinke noch aus und komme dann nach.«

Hectors schiefes Lächeln verriet ihr, dass er auf eine andere Antwort gehofft hatte. Auf eine weitere Chance, den Lehrer zu geben und Orla zu erklären, wie die Dinge erledigt wurden. Er war wie ein YouTube-Tutorial, auf das man versehentlich geklickt hatte, nur dass es keinen Pausenknopf gab. Eine Enzyklopädie der ungebetenen Belehrungen – voll mit Wissen, das niemanden so sehr interessierte wie ihn selbst. Normalerweise hätte sie seine neuste Lektion stumm über sich ergehen lassen, doch sie hoffte auf ein wenig Zeit allein. Es schnüffelte sich einfach besser in fremder Leute Angelegenheiten ohne einen Aufpasser im Nacken.

Nachdem er gegangen war, nutze Orla den Moment, um noch einmal in Bezug auf den jüngeren Kingsley nachzuhaken. »Master Samael macht also lieber sein eigenes Ding fernab von Thornwood?« Um den Anschein der Beiläufigkeit zu wahren, stand Orla auf und begann, ihre Tasse abzuspülen.

»So könnte man es sagen«, hörte sie Nell im Rücken, während sie abwusch. »Er schaut alle paar Monate mal vorbei, aber eigentlich auch nur, weil Mrs. Kingsley ihn dazu zwingt, sich hier ab und zu blicken zu lassen.«

»Wieso?«

»Wieso sie ihn zwingt herzukommen oder wieso er so selten hier ist?«

»Beides.« Orla schnappte sich das Handtuch und drehte sich zu Nell.

»Ich glaube, er fühlt sich einfach nicht wohl hier.«

»Auf Thornwood?«

»In unserer Welt. Ich habe den Eindruck, dass er nie wirklich hier angekommen ist. Sein Bruder ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, seine Mutter hoch angesehen in ihren Kreisen – doch er hat nichts, was ihn hier halten würde. Wenn er zu Besuch ist, spukt er wie ein Geist umher. Er schleicht zu später Stunde durch das Haus. Dabei guckt er immer so seltsam, redet aber mit niemandem – es ist total unheimlich.« 

»Habt ihr es schon mal mit Pralinen auf seinem Kopfkissen versucht? So als Willkommensgeste«, sagte Orla und lachte. 

»Die Praline wäre längst geschmolzen, bevor er uns das nächste Mal beehrt.« 

Orla stellte das trockene Geschirr in den Schrank. »Gut, dann also keine Schokolade. Einfach nur wischen, entstauben und lüften.«

»Und frische Blumen«, ergänzte Nell.

»Wie bitte?«

»Das ist Mrs. Kingsley äußerst wichtig.« 

»Für ein Zimmer, in dem niemand wohnt?«

»Es ist einfach schöner für den Gesamteindruck«, sagte Nell mit einer Selbstverständlichkeit, als würde Lucinda Kingsley persönlich argumentieren.

»Wo kriege ich denn um diese Uhrzeit frische Blumen her?«

»Schau erst mal, was die alten machen. Wenn die schon vor ein paar Tagen ausgetauscht wurden, müssten sie noch gut aussehen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann entsorgst du sie und wir geben den Auftrag an die Tagesschicht weiter.« Nell nahm einen Schluck von ihrem Tee. »Die eine blumenlose Nacht wird keinen Unterschied machen.«

»Und wenn ich sonst noch etwas brauche, kann ich dich einfach über die Klingelanlage rufen, oder?« Orla deutete auf die Lämpchen an der Wand, die den einzelnen Zimmern zugeordnet waren. 

»Selbstverständlich«, sagte Nell und zwinkerte ihr zu. »Ich schicke dir bei Bedarf Hector vorbei.« 

»Du bist die Beste«, warf ihr Orla ironisch entgegen, bevor sie sich mit einem freudigen Kribbeln im Bauch auf den Weg machte. Sollten die anderen das Hades-Zimmer ruhig verfluchen. Für sie war es eine unverhoffte Chance, auf Spurensuche zu gehen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft würde sie die Möglichkeit bekommen, sich ausführlich in einem der Privatgemächer umzusehen. Dabei spielte es keine Rolle, dass Samael Kingsley vermutlich nichts mit dem Verschwinden von Hildesheimer zu tun hatte. 

Dieser Moment in seinem Zimmer würde ihr helfen, ihn und damit auch seine Familie besser zu verstehen. Jedes noch so kleine Detail konnte wichtig sein. Jedes Indiz, das sich als Zufall tarnte, war als Symptom zu lesen. Jedes Buch im Regal, jedes Bild an der Wand erzählte eine eigene Geschichte. Und die besten Geschichten handelten von verborgenen Schwächen.