8 Das Hadeszimmer

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Nachdem sie den Putzwagen aus der Kammer geholt und vor Samael Kingsleys Gemächern geparkt hatte, suchte Orla im spärlichen Licht der Nachtbeleuchtung nach dem Schlüssel. Sie war sicher, ihn in ihre Kitteltasche gesteckt zu haben, doch die blieb selbst nach mehrmaligem Reingreifen und Ausschütteln leer. Auch zwischen den Putzmitteln im Wagen war er nicht zu finden. Fluchend trat Orla gegen das Gefährt. Es war nicht nur der Ärger über die eigene Schusseligkeit oder der Gedanke an den Weg zurück. Es missfiel ihr vor allem, unnötig Zeit zu verschwenden, um etwas zu beschaffen, das sich eigentlich schon in ihrem Besitz befunden hatte. Es war wie vor dem Kino zu stehen und zu merken, dass man das Ticket zu Hause vergessen hatte. 

Sie wollte gerade den Rückweg antreten, als ein metallisches Klimpern sie aufschreckte. 

»Kann ich dir helfen?« Hector trat aus der Dunkelheit ins schummerige Flurlicht. Dass er es sich nicht nehmen lassen würde, erneut den Lehrmeister zu spielen, hätte sie sich denken können. Dass er dafür vermutlich eine ganze Weile gelangweilt in den Gängen herumgelungert hatte, nicht wissend, wann sie endlich auftauchen würde, amüsierte sie ein wenig und ärgerte sie zugleich. Auch wenn sie neu war – das Putzen der Zimmer war kein Hexenwerk und Orla hatte inzwischen wahrlich genug Erfahrung gesammelt, um das alleine zu bewerkstelligen. Es war nicht nötig, sie dabei zu überwachen. Mehr noch: Es gefährdete ihre eigentlichen Pläne. Sie musste sich etwas überlegen, um ihn möglichst schnell loszuwerden.

»Hat Nelly dich eingeweiht?« Hector steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

»Lüften, Entstauben, Blum …« Orla schaffte nur ein paar Schritte, bevor sie – von dem pompösen Anblick überwältigt – stehen blieb. »Als wir vom Hades-Zimmer sprachen, war mir nicht klar, dass die halbe Etage gemeint war.« Ihr Blick wanderte vom großzügigen Lounge-Bereich über den Kamin, der als Raumteiler fungierte, hinüber zum Doppelbett. Mit seinem samtroten Baldachin und den dunkelbraunen, massiven Holzpfeilern hätte es aus dem Nachlass eines Königs stammen können.    

»Dachtest du, die Herrschaften geben sich mit einer Pritsche und einer Kleiderstange zufrieden?« Hector baute sich in die Mitte des Appartements auf und sah dabei aus wie ein Hotelbesitzer, der stolz seine imposanteste Luxussuite präsentierte. Zu diesem Eindruck passten auch die üppigen Blumenbouquets hinter ihm. Orla kannte sie in dieser Größe und Opulenz nur aus Eingangshallen von Hotels, die sie sich nicht leisten konnte. Getragen wurden die Blumenpracht von hölzernen Säulen, die in Design und Farbe penibel auf den Rest des Zimmers abgestimmt waren. Hier war nichts dem Zufall überlassen worden. Und doch wirkte alles unnötig zugestellt und altbacken.

»Normalerweise ist man hier in zwei Stunden durch«, hörte sie Hector sagen, während sie die Gemälde an den Wänden betrachtete, gegen die Goyas düsterste Werke nur Zuckerwatte-Pop-Art waren. »Bitte auch unter dem Bett und hinter den Heizkörpern wischen. Das vergessen die meisten.«

Orla nickte, hörte aber nur mit halbem Ohr zu, denn etwas auf einem der Gemälde hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Oberflächlich betrachtet hatte der Künstler zwei Liebende in Öl verewigt, die eng umschlungen im Blick des anderen ertranken. Doch je länger man hinsah, umso widersprüchlicher erschienen die beiden Fabelwesen. Die goldenen Hörner auf ihren Köpfen verliehen ihnen etwas Majestätisches, ihre faltigen grauen Körper wirkten hingegen schmerzhaft irdisch. Sie waren anmutig und schauderhaft zugleich, erweckten Mitleid, aber auch Bewunderung. Doch es war vor allem die Art, wie sie miteinander verschmolzen, die Orla faszinierte. Es war unmöglich zu sagen, wo ein Wesen anfing und das andere aufhörte. Die Hand des einen verschwand in der Brust des anderen, so als wollte es nach dem Herzen seines Gegenübers greifen, während sich der Partner mit übergroßen Fingern in der Haut seines Gegenübers festkrallte. Man konnte den Schmerz fühlen, den beide sich in ihrer Symbiose zufügten. Und man verstand, dass sie keine andere Wahl hatten. Von der Hüfte an abwärts schienen sie in einem Kokon zusammengewachsen. 

Welche Art Neuanfang sich wohl dahinter verbarg?

»Soll ich dich nachher wieder hier abholen?« Hector riss Orla aus ihren Gedanken.

Sie drehte sich zu ihm und grinste spöttisch. »Willst du überprüfen, ob ich auch nichts übersehen habe?« 

»Ich dachte nur …« Er spielte mit dem Schlüsselbund in seinen Händen. »Jemand wie du … nachts … alleine in diesen Endlosgängen.«

»Jemand wie ich?«

»Man kann sich leicht verlaufen, wenn man neu ist.«

Orla widmete sich wieder dem Gemälde. Die Symbionten in ihrer quälenden Zweisamkeit ließen sie nicht los. »Ich hab hierher gefunden, ich werde sicher auch den Weg zurückfinden.« 

»Selbstverständlich«, murmelte Hector. »Ich wollte nur nett sein.«

Ein wenig tat ihr die Abfuhr leid, doch dann überwog der Ärger darüber, dass in seiner Fürsorge stets etwas Herablassendes mitschwang. Er konnte offenbar nicht anders, als seine Mitmenschen zu schulmeistern. 

»Ach, eine Sache noch«, sagte er und deutete auf eines der Regale. »Alles, was du hier raus nimmst, wenn du Staub wischst, muss danach genau so wieder hingestellt werden.«

»Sonst … was?«

»Glaub mir, das willst du nicht herausfinden.« 

Orla betrachtete das eingerahmte Foto im Regal. »Ist das der Vater?«

»Aamon Kingsley. Ist vor einigen Jahren verschwunden.«

»Und das Bild soll immer genau so ausgerichtet sein, dass sein Blick auf das Bett des Sohnes gerichtet ist?«

»Exakt der Winkel, exakt die Richtung.«

»Ist da nicht etwas, … nun ja … unangemessen?«

»Es steht uns nicht zu, das zu hinterfragen.« Hector verschränkte die Arme hinter dem Rücken und nahm eine steife Haltung an. Ein braver Soldat stellte keine Fragen. 

»Wie war er so?« Orla nahm das Foto aus dem Regal

»Wer? Aamon Kingsley? Das war vor meiner Zeit. Ich habe ihn nie kennengelernt.«

»Lord Grimshaw hat ihn mal erwähnt. Scheint eine beeindruckende Persönlichkeit gewesen zu sein.« Sie betrachtete das kantige Gesicht des Mannes auf dem Foto. Er wirkte wie ein Hafenarbeiter, den man gegen seinen Willen in einen Anzug gesteckt hatte. In seinem Blick lag diese Art Arroganz, die den Betrachter paradoxerweise zurückschrecken ließ und gleichzeitig auf magische Weise anzog. Der geborene Anführer, der seine Niedertracht geschickt zwischen einem Lächeln und gnädigem Nicken zu verstecken wusste. Dass er sich mit diesem diabolischen Charme zu Lebzeiten einer großen Gefolgschaft erfreut haben musste, daran bestand für Orla kein Zweifel. »Und er ist einfach so verschwunden?« Beim Zurückstellen des Bilderrahmens achtete sie bewusst darauf, den Winkel so zu ändern, dass Aamon Kingsley nun in Richtung Fenster blickte. 

»Niemand weiß, was geschehen ist.« Hector schob das Foto sofort wieder in die richtige Position. »In diesem Haus wird auch nicht darüber geredet.« Mit ernstem Blick sah er sie an. »Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann dass du seinen Namen nie in Gegenwart von Mrs. Kingsley erwähnen solltest. Einer unser Gärtner hat das mal getan.«

»Und was ist passiert?«

»Mrs. Kingsley hat kein Wort gesagt. Sie hat ihn einfach nur angestarrt. Minutenlang.« Hector senkte seine Stimme. »Und während sie das tat, wurde sein Haar immer grauer. Seine Haut wurde bleich und sein Blick trübe. Es war, als würde sie das Leben aus ihm heraussaugen. Als sie mit ihm fertig war, schien er um Jahrzehnte gealtert.«

Orla hielt den Atem an. Hectors Worte erinnerten sie an Grogons Gräueltaten. Die Gesichter der Opfer verfolgten sie noch immer. In guten Nächten nur als flüchtige Schatten. In schlechten jagten sie Orla mit vorwurfsvollen Blicken an den Rand einer Klippe und nur der Sprung in den Abgrund ließ sie aufwachen.

Offenbar war Lucinda Kingsley noch verkommener als der Seelenfänger, denn während Grogon die Energie seiner Opfer zum Überleben brauchte, in gewisser Weise also aus einer Zwangslage heraus handelte, schien es für sie lediglich ein lustiger Zeitvertreib zu sein, Menschen auf diese Art zu quälen. Ein falscher Blick, ein falsches Wort und man stand schneller an der Schwelle des Todes, als man blinzeln konnte.

»Erwischt!« Hector legte seine Hand auf Orlas Schulter und lachte, als sie erschrocken aufschrie. »Du solltest dein Gesicht sehen.« Er machte sich auf den Weg zur Tür. »Ich hab keine Ahnung, was damals passiert ist«, rief er ihr zu, den Klang des Triumphes noch immer in der Stimme. »Wahrscheinlich ist das nur eine dieser Geschichten, die hier kursieren, um uns auf Linie zu halten. Ich würde dir trotzdem raten, seinen Namen nicht zu erwähnen.«

»Ist notiert«, sagte Orla, während sie bereits überlegte, was sie als nächstes unter die Lupe nehmen würde, wenn sie endlich alleine war. Sie machte sich keine Illusionen, dass Hector in zwei Stunden erneut vor der Tür stehen und behaupten würde, zufällig vorbeigekommen zu sein, um dann, weil er eben schon mal da war, mit kritischem Blick den Putzinspektor zu geben.

Es galt also, die Zeit effizient zu nutzen, um später nicht in Erklärungsnot zu kommen, wenn es Mängel gab. Eine Hand zum Putzen, eine zum Stöbern – so würde es schon klappen. Den Heiligen Gral würde sie in diesem verwaisten Zimmer eh nicht finden. Vermutlich lohnte sich nicht einmal das Anbringen einer Wanze, denn die hörenswerten Dramen spielten sich mit Sicherheit woanders ab. 

Orla betrachtete das Regal mit dem Foto von Aamon Kingsley. Es war ein erster Schritt, nicht mehr und nicht weniger. Die großen Sprünge würden bald folgen.


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