Ein Blick in den Spiegel offenbarte die Spuren der letzten Nacht. Im grellen Licht der Neonröhren wirkte die Platzwunde auf Orlas Stirn wie ein schlecht geschminkter Halloween-Scherz. Der Sanitäter hatte den Riss in der Haut nur notdürftig verarztet und nun hielt ein dumpfes Pochen die Erinnerungen an das Geschehene lebendig. Vergeblich versuchte Orla, das verkrustete Blut mit einem Taschentuch von ihrer Augenbraue zu tupfen.
Den ersten Angriff hatte sie noch pariert, doch der zweite hatte sie kalt erwischt.
Sie benetzte das Tuch mit Wasser und probierte es erneut. Doch als der kühle Stoff die Wunde berührte, zuckte sie zurück. Es war weniger der Schmerz als die Erinnerung, die dadurch wachgerufen wurde.
Ihr Partner am Boden. Der panische Blick, seine flehende Hand auf ihrem Arm.
Warum hatte Fitzsimmons nicht auf sie gewartet?
Das Flackern der Neonröhre hing wie eine Gewitterwolke über ihrem Kopf.
Warum?
Noch immer spürte sie seinen Griff, als hätte sich jeder einzelne Finger in die Haut gebrannt.
Sieh, was du getan hast!
Fünf Worte, die an ihr hafteten, seit er sich an sie geklammert hatte wie an das Leben selbst.
Am Morgen hatte Fitzsimmons noch gescherzt, dass ihn die Langeweile vor Ort fast umbrachte – die immer gleichen Rituale der Sekte, das monotone Beobachten, ohne die Möglichkeit einzugreifen. Niemand hatte zu diesem Zeitpunkt ahnen können, welches Gewicht später auf seinen Worten lasten würde.
Orla hielt ihre Hände unter den Wasserhahn und betrachtete den blutroten Strudel beim hypnotischen Kreisen um sich selbst.
Wieso hatte er sich so unnötig in Gefahr begeben?
Mit einer Bürste schrubbte sie über ihre Haut, doch die Kruste unter ihren Nägeln blieb hartnäckig. Seufzend drehte sie den Hahn ab und betrachtete ihre Finger. Je länger sie starrte, umso heftiger zitterten sie.
Sie umklammerte den Rand des Waschbeckens und für einen Moment schien es, als würde sich das Zittern auf den Rest ihres Körpers ausbreiten. Intuitiv spannte sie ihre Muskeln zur Gegenwehr an und konzentrierte sich auf ihr Gesicht im Spiegel.
In das Flackern des Lichtes mischte sich noch etwas anderes. Etwas Düsteres, nicht Greifbares. Orla glaubte, einen Schatten hinter sich zu erkennen und fuhr herum, doch der Raum war leer. Nur das Surren der Neonröhren war zu hören. Mit pochendem Herzen wandte sie sich wieder dem Spiegel zu und da war er.
Grogon.
Sein Abbild erschien direkt hinter ihr. Die Zähne gefletscht, als wolle er sie verschlingen, die Augen bedrohlich funkelnd.
Orla senkte den Blick, schloss die Augen, atmetet tief durch.
Du bist nicht real.
In Gedanken wiederholte sie die Worte immer wieder, während sie das Waschbecken noch fester umklammerte.
Du bist nicht … real.
Sie musste tief graben, um in ihrem Inneren das kleine Leuchten zu finden, das übrig geblieben war; das ihr helfen würde, sich der Dunkelheit zu stellen.
Jede Sekunde, die sie hier vertrödelte, war ein Geschenk für ihn. In Selbstmitleid zu baden würde niemandem helfen.
Als sie die Augen öffnete, war er verschwunden.
Sie schluckte die aufbrausenden Gefühle hinunter – diesen Mix aus Wut und Verzweiflung, der sie zu lähmen drohte – und zog sich für den letzten Akt eines völlig missratenen und scheinbar aussichtslosen Showdowns um.
Ein letztes Ass versteckte sich noch tief in ihrem Ärmel. Und dieses Ass hieß Dick Mason.
Nur mühsam bekam sie das Gebetsgewand über den Kopf gezogen. Jede Bewegung schmerzte. Kurz hielt sie inne, um die violetten Schwellungen an den unteren Rippen zu betrachten, genau dort, wo der Dämon sie erwischt hatte. Vorsichtig befühlte sie die Stelle mit den Fingern. Es hatte sie schlimmer getroffen als zunächst vermutet. Sie würde das später noch von einem Arzt abklären lassen, um auszuschließen, dass etwas gebrochen war.
Später.
Orla faltete die Tunika zusammen und steckte sie in eine Tüte. Die Spurensicherung würde sich darum kümmern.
Später.
Schnell zog sie die Bluse und die Hose über, die sie sich aus ihrem Spind besorgt hatte. Die Wunde an ihrer Stirn ließ sich notdürftig mit einigen Haarsträhnen abdecken, bevor Orla sich den Rest zu einem Zopf zusammenband.
Es war keine Zeit zu verlieren.
Das Ass musste jetzt gespielt werden.
Wenn sie es richtig anstellte, gab es vielleicht noch eine Chance.